Ludwig Anzengruber
Gedichte
Ludwig Anzengruber

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Die Spinnen und die Fliegen.

Eine Fabel.

(März 1873.)

In einem Schlößchen, das verlassen
Und darum halb verfallen stand,
Herbergten in den öden Räumen
Viel Dutzend Spinnen an der Wand.

Gesundheithalber aber mochte
Der letzte der Insassen hier,
Zerbrochne Scheiben nicht vertragen,
Und flickte alle mit Papier.

Er schnitt dadurch den vielen Spinnen
Der Nahrung Zufuhr gründlich ab,
Von außen kam nicht eine Fliege,
Wie es bald innen keine gab.

Die netzewebende Gemeine
Die wußte nicht, wie ihr geschah,
Und war nach langem grimmen Fasten
Dem bittern Hungertode nah'.

Da ward für den, der Kraft noch fühlte,
Die Selbsterhaltung zum Gesetz,
Er lud beim Schwächern sich zu Gaste
Und fraß ihn auf im eignen Netz.

Doch als zu höchst die Not gestiegen,
Da fügte sich, daß vor dem Schloß
Ein muntrer Knab' vorbeigezogen,
Den Langeweile just verdroß.

Er raffte Kiesel auf vom Wege,
Und nahm die Fenster sich zum Ziel,
Nur wenig heile Scheiben blieben
Nach diesem ritterlichen Spiel.

Und durch die Lücken schwärmten Fliegen
In Hülle und in Fülle ein,
Die Spinnen sagten: »Gottes Güte
Regierte sichtbarlich den Stein!«

Sie falteten die Vorderbeine
Und dankten ihm, der alle nährt,
Und haben dann mit frommen Sinnen
Die Fliegen reinlich aufgezehrt.

Doch meinte deren Schwarm hinwieder –
Der rings bestrickt vom Tod sich fand –
Die Scheiben habe ausgebrochen
Der Satan mit selbsteigner Hand.

Entging den grimmen Stricken eine,
Durch Gottes Huld hielt sie sich frei,
Und ward sie dennoch aufgefressen,
So meint sie, daß es Prüfung sei.

Das gilt von Fliegen und von Spinnen,
Die an Vernunft nicht überreich,
Doch sind wir klugen Menschen ihnen,
Gottlob, in keinem Punkte gleich.


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