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Neuntes Kapitel.
Krieg!

So vergingen Tage, Wochen, Monate, seit dem Familiengerichte, friedlicher, stiller bei uns in der Welt, die außer unseren vier Pfählen lag, und in der Kaiser Karls des Sechsten Tod die Gemüter mit banger Ahnung erfüllte. Aber die Unruhe sollte auch bei uns, leise angekündigt, einen plötzlichen Besuch machen. Ich sah die Mutter wieder so sorgend umhergehen, wie vor dem Gerichte, die Männer kamen häufiger zusammen und machten lange Gesichter, der Herr Pate schnupfte auf eine besondere Art, und man sah die Landkarten an und schüttelte die Köpfe. »Es wird nicht dazu kommen,« sagten die alten Politici, aber das Wort Krieg, ein fast vergessenes, schwebte doch auf den Lippen.

Eines Mittags trat der Vater vor der Zeit ins Haus. Er war sehr blaß, der Schweiß lief ihm von der Stirn. Hut und Stock warf er von sich und ging ohne Bonjour im Zimmer auf und nieder. Er wartete die Frage der ängstlich ihn anblickenden Mutter nicht ab: »Es ist richtig,« sprach er rasch, »der kaiserliche Gesandte ist abgereist.« Nun war erst Unruhe im Hause. Der Vater hatte gleich darauf das Zimmer verlassen, aber Pate Schlipalius steckte den Kopf zur Tür herein: »Ist's erlaubt, Frau Muhme?«

Man kam ihm, vielleicht das erste Mal im Leben, einladend entgegen: »Um Gotteswillen, was wissen Sie? Was gibt es?«

»Krieg, Krieg!« schmunzelte das schadenfrohe Gesicht. »Ist entschieden. Die Stabsoffiziere sieht man alleben in den neuen Uniformen nach dem Schloß eilen, wo ihnen ihre Offizia bedeutet werden sollen.« –

»Krieg! Krieg!« sprach meine Mutter instinktartig nach, als traue sie dem Worte noch nicht ganz.

»Krieg, Frau Base! Inter arma silent leges, wird es heißen. Es werden Kriegssteuern ausgeschrieben werden, Kontributionen, Brandschatzungen. Moratorien und Zahlungsmodalitäten, damit ist es vorbei. Die Einquartierung pocht mit dem Kolben ans Tor, und wenn nicht gleich aufgemacht wird, schießen sie durch die Fenster ins Haus. Die Bürsten und die Kratzeisen und die Strohdecken sind nun nichts mehr nutz, sie treten sich nur dann die Füße ab, wenn sie ungeduldig sind aufs Essen. Und wenn's ihnen nicht schmeckt, fliegt's zum Fenster hinaus. Jeder Soldat ist geborener Exekutor, und der Quartierzettel das Exekutionsmandat. Zu exekutieren verstehen sie, so lange was da ist, und der Pandur treibt dem Bauern die letzte Kuh aus dem Stall.«

Der armen Mutter mochte in dem Momente der Gedanke gerade nicht der schrecklichste sein. »Ach, es wird aber doch nicht ein so ordentlicher Krieg wie in alten Zeiten, wo die Menschen sich untereinander umbringen und Blut fließt.«

»Brand, Blut und Mord, Frau Inspektorin, es ist nicht anders. Man wird sich spießen und schießen. Der Krieg ist nur einmal ein großer Prozeß anderer Art, allwo man nur statt der Gründe Kugeln einladet. Und statt der Federspitzen mit der Bajonettspitze schreibt. Das Papier ist noch kostbarer als Pergament, sintemal alle Skriptur mit roter Tinte auf die Menschenhaut geschrieben wird. Sonst, was diesen Krieg anlangt, ist's ein reiner Erbschaftsprozeß verschiedentlicher Interessenten gegen Maria Theresia, welcher man das Successionsrecht in die väterliche Verlassenheit streitig macht; könnte so gut vor hiesigem Magistrat verhandelt werden, als auf dem Kriegstheater. Wer weiß, wer da der bessere Anwalt ist.«

»Mein Gott, mein Gott!« rief die Mutter, von den tausend Ahnungen gefoltert, und hielt mich und meinen kleinen Bruder fest, als könne schon ein feindliches Streifkorps zum Tor einziehen. Der Pate ließ sich nicht stören in greulicher Ausmalung aller Schrecknisse des Krieges, die er, kaum anders als wir, nur aus Beschreibungen kannte.

»Ausziehen, Frau Muhme, ausziehen werden freilich alle Truppen, aber wie viel davon wieder einziehen, das wird sich fragen. Das wird ein Krieg werden, wie wir ihn hier in der Mark seit Menschengedenken nicht erlebt. Denn drüben stehen nicht schwedische und polnische, sondern das ganze kaiserliche Heer, mit welchem Prinz Eugenius seligen Andenkens den großen französischen König geschlagen, den Türken an die hunderttausend in jeder Schlacht kaponiert und Belgrad genommen hat. Von denen weiß jeder, was blaue Bohnen sind, indessen unsere lauter »Kiekindiewelt« sind; der zehnte hat kaum Pulver gerochen, und zum Pulver erfinden hatten wir auch nicht Gelegenheit. Das kann ein Ende mit Schrecken nehmen. Schöne Klopfe werden wir bekommen. Der Hund im Wasser, der nach dem Schatten schnappte, verlor auch das Fleisch, das er hatte, und wer weiß, heut haben wir noch eine Königskrone auf dem Kopf, und über Nacht sind wir zufrieden, wenn man uns den Kurfürstenmantel läßt!«

Der Pate ging, als der Vater zurückkam, um seine schadenfrohen Ahnungen an die rechten Leute zu bringen; denn ungeachtet aller Neigung für den widerwärtigen Menschen hätte ihm der deutsche Mann doch nie die mangelnde Vaterlandsliebe verziehen. So erschüttert, so gebeugt hatte ich den starken Mann noch nie gesehen, als er wieder eintrat. Seine Knie wankten und er gab sich nicht Mühe, die Vaterangst, die mächtig in dem großen Körper arbeitete, zu verbergen. Schweigend wie der Tod ging er nach seiner Gewohnheit noch ein paarmal im Zimmer auf und ab. O, es drängte ihn zu sprechen, nach Mitteilung, um Trost zu bitten; aber der Stolz, oder das Pflichtgefühl, oder die Ehre, oder wie er den Dämon nannte, der ihn beherrschte, sagten: Nein. Endlich warf er sich aufs Kanapee, als wären die Kräfte zu Ende. Er faßte sich an die Stirn und drückte beide Hände gegen die Augen.

Diesen Augenblick zu benutzen gab ein guter Geist der Mutter ein. Sie faßte uns beide mit Heftigkeit, ein Blick so lebendig, so sprechend, wie ich ihn an der sanften Frau noch nicht kannte, sagte uns, was wir zu tun hatten, und so riß sie uns zum Vater. Wir alle drei stürzten auf die Knie vor dem strengen Herrn des Hauses, wir zogen seine Hände zu uns, die Mutter wollte sprechen, sie konnte aber nicht mehr vorbringen als den Namen »Gottlieb!« dann brachen die hellen Tränen ihr aus den Augen. War es doch auch genug gesagt; wir wußten alle, was das hieß.

Der Vater stieß uns nicht zurück; das war ein gutes Zeichen.

»Laß den Gottlieb nicht totschießen,« stammelte der kleine Julius.

»Mann und Vater!« sprach die Mutter, als er noch immer gelassen zuhörte. »Mann, lieber Mann, Gott forderte auch nicht das Ärgste von Abraham, er wollte ihn nur prüfen. Du bist nun geprüft, du hast wie ein strenger Vater gehandelt, handle nun auch wie ein barmherziger Vater. Du wolltest ihn nicht bloß strafen, du wolltest ihn bessern. Mach' nicht den Kleinen, mach' nicht mir, nicht uns allen, ach mach' nicht dir selbst das Herzeleid. Noch geht es, der Kommandant gibt ihn dir los.« Der Vater schwieg. Die Mutter fuhr fort: »Wenn er daliegt, zerstoßen, zerstochen am Wege, wenn Gottlieb stirbt, dann, lieber Mann, ist es zu spät. Nimm ihn zurück, gib ihn uns wieder, eh es zu spät ist.«

Der Vater wiegte mit dem Kopf, er kämpfte einen Kampf. »Ich habe den Jungen lieb gehabt,« sagte er. Er hatte Gottlieb geliebt, er hatte ihn sehr geliebt, mehr als mich. Ach, er hatte ihn außerordentlich geliebt. Das fühlte ich in dem Augenblick, wo er das sagte; ich hätte es längst fühlen sollen. Wie hätte er ihn so gegen die Familie geschützt, wenn er nicht sein Liebling war. Freilich war er mehr als streng gegen ihn gewesen, aber nur weil es sein Herzblut war. Jeder Schlag auf Gottlieb traf immer den Vater mit; er wütete gegen sein eigen Fleisch, aber er hielt das für Liebe. Das Bild, das die Mutter ihm entworfen, beschäftigte ihn jetzt. Er horchte auf die Trommeln vom fernen Lustgarten, es war, als höre er schon den Kanonendonner. Die Mutter kniete noch immer, er hätte das nie geduldet bei ruhigem Sinn. Julius faßte ihm streichelnd unter das Kinn, es war als sprengte die Liebe ein Eisenband nach dem andern, die sein Vaterherz umklammerten, während die Mutter mit Silberstimme das Wort führte. »Versuchen Sie einmal, ein einziges Mal die Güte. Es ist kein so verstockter Sünder auf der Welt, daß er nicht einmal auf das Wort der Gnade hört: Ach die Gnade ist so schön. Wenn die Sonne durchblickte, wenn es lange geregnet hat, wie wird das Herz dann so froh. Wenn der Mensch froh ist, wird er gut. Gottlieb wird auch noch gut werden, wenn Sie ihn einmal froh machen. Er hofft, er hofft gewiß jetzt auf den Vater; lassen Sie seine Hoffnung nicht zu Schanden werden, nur dies eine Mal nicht. Das Wort des Vaters wird sein wie der erste warme Frühlingssonnenschein nach dem langen Winter. Als Sie ihn einstecken ließen, geschah es nur für den Frieden. Nun ist es anders geworden, Sie haben nicht an den Krieg gedacht. Sie dachten daran, daß Gottlieb besser werden sollte, nicht daß er sterben sollte, nicht daß er sterben könnte. Wollen Sie's verantworten vor dem Vater im Himmel, wenn er stirbt, wenn er ein Krüppel wird. Nein, nein, das können Sie nicht, das wollen Sie nicht, Sie nehmen nun Ihr strenges Wort zurück.«

Ach hätte sie doch nur nicht das Wort gebraucht!

» Zurück!« rief der Vater, und die Wolken türmten sich schnell wieder auf der Stirn. Der deutsche Mann hatte nie einen Schritt zurück getan, er war nie von einem Gange umgekehrt, bevor er nicht das Ziel, das er sich vorgesetzt, erreicht, er hatte hundertmal gepredigt, der Entschluß des Mannes müsse Stein und Eisen sein. Einmal Vorgenommenes müsse ausgeführt werden oder man höre auf Mann zu sein. Zurück sollte er etwas nehmen, das konnte er nicht. Verziehen hätte er jetzt, gern verziehen, er fühlte Liebe im Busen, um die ganze Welt zu begnadigen, denn es war Bedürfnis, aber: »Zurücknehmen kann ich nichts,« rief er und stand auf. Es wäre doch vielleicht noch der Mutter geglückt, wenn wir nicht unglückseligerweise in dem Augenblicke die Stimmen der französischen Oheime auf dem Flur gehört hätten. Rasch riß der Vater die Mutter in die Höhe: »Madame! das ist nicht Ihr Platz.« Nun war es vorbei.

Die Oheime traten ein. Sie merkten wohl noch etwas; sie hatten auch wohl gehorcht. Der Rat sagte: »Wissen Sie, die Truppen marschieren nach Schlesien.«

»Nach Schlesien,« rief der Vater und seine Brust hob sich, und seine Baßstimme klang fürchterlich – er wollte sich selbst Mut einschreien – »Also marschiert Gottlieb nach Schlesien –«

»Mann, Sie wollten –«

»Den, so ich ausgestoßen aus meinem Haus, weil er ein Fleck war, nicht wieder einnehmen, weil Krieg ist. Mein Haus soll rein bleiben im Krieg wie im Frieden.«

Der Rat und der Prediger wechselten Blicke mit der Mutter; sie konnte ihnen nicht antworten. Sie hatte keinen Willen, wenn der Vater einen Willen hatte. Wir Kinder zitterten und schmiegten uns an die Mutter, ich weinte und Julius weinte mir nach. Es war viel was Fürchterlicheres, als da beim Familiengericht. Er wurde dazumal doch nur in die Montur gesteckt; jetzt wurde er in den Krieg geschickt. Die lebhafte Einbildungskraft meiner Leser wird sich nicht ganz in die Vorstellungen versetzen können, welche unseren Kreis bewegten, welche uns alle marterten. Sie werden nicht begreifen, wie den beiden Männern, Patrioten, Staatsdienern, der Gedanke, daß ein robuster Mann, den die Natur schon halb zum Krieger gemacht, für seinen König in den Krieg ziehe, etwas so Schreckliches war. Ihnen wird die Erschütterung eines Vaters, der vorhin so kalt grausam geschildert worden, unnatürlich vorkommen, jetzt, wo statt einer brutalen Behandlung, einer ehrenkränkenden Mißhandlung, der Sohn nur einer höheren Macht überlassen wurde – wo das Schlimmste, was ihm begegnen konnte, der ehrenvolle Tod war fürs Vaterland. Und schlummerte nicht längst bei allen der Gedanke, daß, wenn Gottlieb tot wäre, alles gut wäre. Aber die Vorstellung eines ehrenvollen Todes, eines Sterbens fürs Vaterland, jetzt gang und gäbe, wiederhallend von der Lippe jedes Knaben, war uns noch fremd. Es war eine friedliche, bürgerliche Familie in einem durch sechs Jahrzehnte in Ruhe und Frieden gewiegten Staate. Die Kriege, die es gegeben, wurden fernab geführt; was aus früherer Erinnerung von den eigenen zu uns herüber drang, von den Greueln der Schweden, von den Verwüstungen des dreißigjährigen Krieges, hatte einen märchenhaft grauenvollen Klang. Es waren keine schmetternden Trompetentöne, zu Ehre und Ruhm auffordernd, es klang wie des Wächters Horn bei mitternächtlichem Feuer. Wer von uns, als die Oheime noch einmal in den Vater drangen, zu bedenken, was er aufs Spiel setze, hätte nicht erwartet, daß der Mann ihnen antworten werde: er schicke seinen Sohn auf das Feld der Ehre, da sei der Ort, wo er für seinen König, für sein Vaterland fechtend, blutend, den Flecken abwaschen könne, der ihn, der die Familie besudle. O, er hätte reden können von Bürgertugend, Aufopferung, Ruhm, und mich dünkt, er hätte uns alle beschämen müssen, die wir baten, und die wir weinten: aber das war nicht an der Zeit. Er entgegnete, wie man sich's damals dachte, und in seinem uns jetzt seltsam dünkenden Eifer für das Vaterland übertäubte er den eigenen Schmerz.

»Was ich aufs Spiel setze, meine Herren, das erlauben Sie sich mich zu fragen, in dem Augenblicke, wo der junge Monarch die Trommel rühren läßt, die in ganz Europa zum Krieg und Aufruhr schlägt. Gehen Sie doch hinauf in den weißen Saal, wo sie jetzt beisammen sind, und stellen Sie dem Könige vor, was er wagt. Er setzt seinen Ruhm und Ruf, seine Krone, sein königliches Leben, das Blut von zehntausend und aber zehntausend Untertanen, das Wohl und Weh, die Existenz seines Landes, seiner Dynastie in dieses blutige Spiel. Der König wagt Land und Leute, und ein bürgerlicher Vater sollte seinen ungeratenen Sohn nicht wagen! Vor dem Richter, vor dem König Friedrich der Zweite den Trommelschlag vertreten wird, vor dem will ich vertreten, daß ich auf geradem Wege ging, daß ich durch nichts mich irren ließ, keinen halben Schritt nach rechts und links, als die Pflicht gradeaus lag. Und sollte er hungern und dursten, verschmachtend, blutend im Schnee liegen oder im heißen Sande, hinkte er als ein Krüppel zerschossen und zerfetzt ins Tor, oder man brächte ihn auf der Tragbahre, daß er auf meiner Schwelle den letzten Seufzer ausatmet, doch, meine weichen Herren, würde es mich nicht jammern und reuen, denn ich habe recht getan.«

Es war nur ein künstliches Feuer. Nur indem er sich in Affekt versetzte, hielt er es aus. Der Mann war vernichtet. Er entfernte sich bald. Was hatten wir anderen noch zusammen zu sprechen!

Strenger als je blieb meine Klausur im Hause, wir durften keinem der kriegerischen Auszüge zusehen. Aber von Fritz, der unter den Zuschauern am schlesischen Tore gewesen, erfuhr ich, daß der Vater, tief in seinem Mantel verhüllt, auf der Brücke gestanden und nachher noch dem Zuge der begleitenden Bürger bis in die Köpenicker Heide gefolgt war. Dort, als die Truppen einen kleinen Stillestand machten, mischte er sich in die Reihen und drückte einem Soldaten etwas in die Hand. Ehe dieser danken konnte, war der Vater wieder zur anderen Seite hinaus. Fritz meinte, es sei so schnell geschehen, daß Gottlieb kaum den Vater erkannt habe, der ihm doch eine volle Börse gebracht.


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