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Viertes Kapitel.
Von der Kolonie

Allein je näher ich kam, um so langsamer ging ich. Bei jedem Schritt pochte das Herz stärker und es schlug bis in die Zehen hinunter. Bruder Gottlieb und seine Leiden, ich muß es zu meiner Schande bekennen, waren in den ersten Minuten vergessen, aber nicht seine Worte: »Wenn sie von deinem Streich schon erfahren haben!« Wie war das anders möglich? Der Advokat war mit den Murmeln spornstracks nach Hause gelaufen, die Kurzinne hatte hingeschickt, Herr Maßmann hatte erzählen müssen, und ich war weit über die Zeit ausgeblieben! »Wo haben wir uns denn nachmittags herumgetrieben?« – »Du weißt wohl nicht, wem die drei Murmel gehören?« – »Was ist denn heut im Laden der Frau Kurzinne passiert?« – »Patron! wie lange war es ihm erlaubt auszubleiben?« – Die vier Fragen dröhnten mir wie Gerichtsposaunen in den Ohren, und ich mußte mir gestehen, so arg hatte ich noch nie gegen das Hausreglement gesündigt.

Ach, es lag meinem Versehen noch ein weit anderes zu Grunde! Daß ich mit den anderen Jungen auf der Straße gespielt, war allein schon eine Versündigung, derentwegen sich zwar nicht des Vaters Röhrchen aufhob, durch die aber die Fürsprache der Mutter verwirkt war. Hätte mich einer von der Familie gesehen, das wäre fast noch schlimmer gewesen, als das Attentat gegen den Advokaten. Dann hätte ich acht Tage lang an den rotgeweinten Augen meiner Mutter sehen müssen, wie die Cousins und Cousinen ihr ins Gewissen geredet, mir eine bessere Erziehung zu geben. Dann hätte sie alle Morgen und alle Abend seufzend mich geküßt und mir ins Ohr geflüstert: »Etienne, mache mir nicht den Kummer.« –

Mutter und Vater hielten, was man nennt, gut zusammen; ich habe wenigstens selten gesehen, daß der strenge Mann, gegen jedermann heftig und herbe, gegen sie aufgefahren wäre. Er begegnete ihr im Gegenteil mit einer stillen Hochachtung, wie einem Wesen höherer Art. Ich mag nicht glauben, was Gottlieb boshafterweise meinte, das sei im Ehekontrakt ihm von der Familie als Pflicht auferlegt gewesen. Es war wohl nichts mehr, als die ehrerbietige Scheu, welche selbst den Rohen ergreift in Gegenwart feinerer, gebildeterer Wesen, denen auch die Natur einen edlen Stempel aufgedrückt hat. Und meine Mutter muß ebenso schön gewesen sein, als sie sanft und liebevoll war. Dieses zarte Verhältnis, wenn man es so nennen will, hinderte nicht, daß beider Ansichten sich selten begegneten. In der Hauswirtschaft tat die Mutter zwar alles mögliche, und ich glaube oft mit Selbstüberwindung, denn sie mochte an manche Verrichtungen nicht gewöhnt sein, sie mochte in ihres Vaters Hause vieles haben tun lassen, wo die deutsche Hausordnung oder beschränktere Verhältnisse sie nötigten, selbst Hand anzulegen. Aber sie tat es doch schweigend, kein Wort der Klage entschlüpfte ihren Lippen und meinem Vater war es noch immer nicht recht; – sie war ihm nicht pünktlich, nicht streng, nicht unerbittlich genug gegen die Dienstboten. Ich darf nicht sagen, daß sie mich und meinen jüngeren Bruder verhätschelte, aber die französische Erziehung war doch sehr weit von der deutschen des Vaters entfernt. Sie überließ mich ihm, wenn er mich züchtigte; das hielt sie für ihre Pflicht und verschloß sich nur in der äußersten Kammer, um es nicht mit anzuhören. Nachher suchte sie mir dann die Schmerzen auf eine Weise zu vergüten, die der Vater am wenigsten gebilligt hätte, denn es geschah in der Speisekammer. Vorher aber gab sie sich alle Mühe, ein Versehen, das ich begangen, zu vertuschen, und sie suchte mich mehr von der Begehung eines Fehlers dadurch abzubringen, daß sie mir den Zorn des Vaters, seine Heftigkeit, den Lärm, den es machen würde, den Unwillen der Familie vormalte, als daß sie mir die sittliche Strafbarkeit vorstellte. Der Vater war ein unerbittlicher Rechenmeister der guten und bösen Taten an sich, die Mutter berechnete ihre Wirkungen. Doch wäre es ungerecht, sagte man, sie habe nur auf den Schein, der Vater dagegen immer auf das Wesen gesehen. Auch die Tugendliebe des Vaters war erstarrt zur Verehrung der Form, es war ein Phantom geworden, ein Götze, dem er mit blutendem Herzen das Liebste opferte. Sie dagegen wünschte vom Grund des Herzens, wie nur ein Mutterherz wünschen kann, daß ihr Sohn tugendhaft und sittlich werde, aber die ängstlich bewahrten Vorurteile ihres Standes ließen sie schon einen Sündenfall darin sehen, wenn andere an meiner Sittlichkeit zweifeln konnten. Diese Sittlichkeitsgesetze der französischen Kolonie waren aber sehr beschränkt und auf ein sonderbares Gestell gebaut. Es war die äußere Eitelkeit des französischen Welttons, ein Abglanz der Zeit des vierzehnten Ludwig, verbunden mit puritanischer Prüderie. Es gab im ganzen wenig Lasterhafte unter uns, der Anlaß war aber kein lebenstätiger, kein innerer, mächtiger Trieb für das Gute, nicht Verabscheuung der Sünde, weil man sie als solche erkannt hatte, sondern eine Scheu vor anderen und vor sich selbst.

Ohne Zweifel waren die Refugiés weit gebildeter als die wackeren Brandenburger, in deren verwüstetem Lande der große Kurfürst Friedrich Wilhelm ihnen ein Asyl eröffnete. Es müssen auch geistesstarke Männer und Frauen gewesen sein, die um ihre Überzeugung den väterlichen Fluren, dem teuren Herd, Wohlstand, Freunden und Verwandten den Rücken kehrten. Es brauchte keiner äußeren Auszeichnung, um sie höher zu stellen, es verstand sich von selbst, daß sie zusammenhielten. Aber man hatte ihnen nun einmal im Sinne des Zeitalters eigene Kirchen, eigene Prediger, sogar einen eigenen Gerichtsstand gegeben. Ihre Kinder und Kindeskinder sahen nun eine Notwendigkeit darin, dies ehrende Verhältnis fortzusetzen und zu bleiben, was ihre Väter waren – fremde, bessere Wesen. Man wollte nichts mehr mit dem Frankreich zu tun haben, das die Väter grausam verstoßen, und auch seitdem wenig zu einer toleranten Milde eingelenkt hatte, man wird ihm von Jahr zu Jahr fremder, so daß echte Franzosen sich über das Kolonie-Französisch lustig machen, – und doch wollte man kein Deutscher, kein Preuße, kein Brandenburger werden, sondern von der Kolonie bleiben. Das wäre mehr und mehr ein unbestimmtes Wesen geworden, da ihm alles Positive abging. Denn selbst in der Religion und Kirche konnten sie keine Sekte bilden, da Ansichten und Gebräuche mit denen der deutschen Reformierten übereinkamen. Um doch nun etwas für sich zu bleiben, spannen sich unsere Stammverwandten immer fester in ihre Gewohnheiten, ihre hergebrachten Ansichten ein. Man sah es ungern, ja wie eine Art Befleckung an, wenn einer von der Kolonie heraus heiratete. Auch das Hineinheiraten war nicht beliebt. Man war bemüht, auf sanfterem Wege den einzelnen Familien Ansehen zu verschaffen. Daher verschmähte man zwar nicht den Staatsdienst, der Ehrenämter abwirft, aber es schien doch, als bliebe die Verbindung zwischen den Beamteten und seinen Stammgenossen eine innigere, als die zwischen ihm und dem Staate. Man hat uns übrigens niemals darum Vernachlässigung, Ungerechtigkeit oder Nepotismus vorgeworfen. Auch den Reichtum verschmähte man nicht, ohne durch Pracht und Schwelgerei das Aufsehen zu reizen. Man suchte das Vermögen in den Familien zu bewahren, zusammenzubringen. Daher verheiratete man nur zu gern Cousins und Cousinen, und es ward wie eine Art Verbrechen behandelt, wenn ein reiches Mädchen jemand außer der Familie ihre Hand reichte, denn alle ihre unverheirateten Vettern glaubten nach der Nähe des Grades ein gewisses Recht auf sie zu haben. Ein Verhältnis, welches die große Familienverbindung immer aufs neue verknüpft und verschlingt, doch wenig geholfen hat, uns Kraft, Ansehen, Einfluß nach außen zu verschaffen. Im Gegenteil fehlt es bei dieser immer engeren Zirkulation des Blutes an frischen Säften. Was man so häufig bei Familien bemerkt, die immer ineinander heiraten, trifft auch bei uns zu, zugleich eine physische und moralische Erschlaffung. Ein Charakterzug süßlicher Weichherzigkeit ist auf vielen Gesichtern aus unvermischter französischer Abkunft unverkennbar. Wenn auch nicht die französische Lebhaftigkeit, so ist doch das französische Feuer verschwunden, und ein witziger Kopf an Friedrichs Hofe äußerte, wenn es nicht unsere Großväter getan, wir würden nicht mehr um den Widerruf des Nanter Ediktes unser Bündel schnüren. Das war kein Vorwurf, der uns der Glaubens-Lauigkeit zeihen sollte.

Diese Sanftmut, dieses zarte Benehmen gegen deutsche Bekannte und Nachbarn wurde übrigens mit vollem Bewußtsein ausgeübt. Man empfahl, man predigte es den Kindern. Ich erinnere mich nicht, ob man sich dabei auf das Christentum berief, oder nur an die nötige Klugheitsregel dachte, welche jedes Auftreten verbot, wodurch die große Masse gegen uns gereizt werden konnte. Die Juden, in einem ähnlich prekären Verhältnisse mit uns, vernachlässigten nur zu oft diese Vorsicht, was sie mehrmals übel empfinden mußten. Der große Haufe ist überall gegen die Bevorrechteten. Nur das Altüberkommene erträgt er. Wer aus seiner Mitte aufsteigt, dessen Beruf wird bezweifelt. Vorzüge eines Fremden, eines der geringer zu stehen scheint, als der Haufe, empören und wecken die blinde Entrüstung. Wir haben ein näheres Beispiel als die Juden; was anderes weckte dem Größten unter den Großen, dem bewunderten Heros, seine zahllosen Feinde, als die Mißgunst? Die in staubigem Purpurrocke konnten es dem Fürsten, dessen Purpurkleid noch im Rot des jungen Morgens glänzte, nicht vergeben, daß sein Adlerflug über ihre gekrönten Häupter dahinrauschte! –

Unsere Kolonisten handelten, wie gesagt, viel klüger. Die Vornehmen überhoben sich nicht ihres Ansehens, die Reichen, wenn sie auch nicht wie die Hebräer im Mittelalter ihre Schätze zu verbergen brauchten, hüteten sich doch, sie in eitlem Dünkel zur Schau zu stellen und dem Neide Gelegenheit zu verschaffen. Aber auch wer nicht vornehm und nicht reich war, ließ es sein Bestreben sein, keinen Anstoß zu geben, kein Aufsehen zu erregen. Man sorgte mit lobenswerter Eintracht und Aufopferung für unsere Armen und Kranken, daß sie niemand zur Last fielen, daß man sie nicht einmal bemerke. Höflichkeit und Freundlichkeit zeichnete auch die untere Bürgerklasse in der Kolonie aus. Ich will nicht sagen, daß meine Stammgenossen geizig sind, aber gleich wie ihr halb freiwilliger Standpunkt sie zwingt, in ihrem Benehmen, ihren Taten und Worten genau zu sein, so sind sie es auch in ihren Ausgaben. Sie entgehen dadurch mit dem Vorwurf der Verschwendung auch der Gefahr, von anderen abhängig zu werden.

Diese Züge trafen, stärker oder schwächer, auch bei unserer Familie zu. Man rechnete es wirklich unserem Vater als eine Vergünstigung an, daß er eine Tochter aus der Kolonie zur Gattin erhalten, und der sonst auf sein deutsches Bürgertum so stolze Mann schien davon in der Tat etwas zu empfinden. Der niemand wich, der niemand nachgab, nahm nicht allein auf meine Mutter, sondern auch auf den Oheim Rat Rücksicht. In meiner Erziehung ließ er sich so mancherlei gefallen, was seinen Ansichten widerstritt. Zum Beispiel durfte ich als Kind in sehr geputzten Kleidern ausgeführt werden. Ich erinnere mich noch, als eine vornehme Dame auf der Promenade, der das muntere Kind auffallen mußte, mich streichelte und meine Augen und Locken schön fand, daß die deutsche Kinderwärterin, nicht wenig stolz antwortete: »Er ist auch von der Kolonie!« Das hörte der Vater ruhig wiedererzählen und wurde doch Feuer und Flamme, als man meinem jungen Bruder ein Kleid gemacht, das kaum so prachtvoll war, als mein erstes Purpurhabit. »Das führe geradeswegs zur Eitelkeit und zum Dünkel!« So war ich also beiden geweiht worden! Aber seine Strenge trat gegen mich mit den Jahren heraus, oder richtiger gesagt, das französische Prinzip meiner Erziehung machte dem deutschen Platz. Die Mutter redete nicht mehr ein und die Verwandten hatten ihren Einfluß, wenigstens hierauf, verloren. Einmal nach einem sehr scharfen Denkzettel, der auf meinen Rücken geschrieben worden, beschwerte sich der Oheim Rat bei der Mutter, wie sie habe zulassen können, daß es so öffentlich geschehen, denn man hätte es drüben von den Fenstern gesehen. Sie antwortete kurz und entschieden: »Seit er ein Knabe geworden, ist das meines Gatten Sache, und es ist nicht meines Amtes, mich hinein zu mischen.«

Genug der Abschweifung, ehe ich Sie in mein elterliches Haus führe. Ich sah jetzt die Laternen vor unserer Haustür. Der Wind, der dem Gewitter voranging, schaukelte sie an dem langen Querseil, und den Lichtschein über die lange Straße. Wer sollte mir zuerst begegnen? – Da knarrte die Tür und der Herr Pate trat aus dem Hause. Mit welchem listigen Schleicherschritt stieg er die Stufen herab, dicht an mir vorüber, fast mich berührend, ohne mich gewahr zu werden. In den grünen Augen stand klar zu lesen, wie der Schein der Laternen darauf fiel, daß ihm etwas gelungen war. Die hageren Kinnbacken zehrten noch tückisch an der Nachfreude. Und ich sollte nun hineintreten, wo die Bescherung, die er mir eingerührt, warm und frisch meiner wartete! Kein Engel, der mir beistehen konnte, drinnen, kein Bruder Gottlieb, und die Mutter tat's nicht mehr. Die Klinke hielt ich in der Hand und doch durchfuhr's mich, ob ich nicht noch umkehren und in die weite Nacht laufen sollte! –

Aber die Tür ging unter meinen zitternden Händen auf. Den Atem anhaltend und kaum den Boden berührend, huschte ich die Treppe hinauf und wollte nun im Halbdunkel warten, bis mich einer bemerkte. Es überschlich mich auch die Hoffnung, daß man mich nicht bemerken werde, denn es war viel Unruhe im Hause. Auf der Treppe nach unserer Erkerkammer scheuerte die Magd, der Hausknecht, sonst mein guter Freund, lief treppauf, treppab, an mir vorüber, ohne mich zu sehen, und drinnen im Wohnzimmer ging der Vater, ich kannte seinen Tritt, mit heftigen Schritten auf und nieder. Ich guckte durchs Schlüsselloch, aber so böse hatte ich ihn noch nie gesehen. Die Hände auf dem Rücken, das Gesicht feuerrot, maß er das Zimmer. Die Mutter stand, halb verlegen, halb ängstlich am Fenster. Sie hatte ihn wohl zu beschwichtigen versucht, es hatte aber nichts geholfen: »Sie sollten nur warten, bis mein Bruder, der Rat, mit Ihnen spricht,« sagte sie. »Ich brauche keinen Rat,« erwiderte er heftig. »Ich bin mir selbst Rats genug, ich bin Herr in meinem Hause, und diesmal, – diesmal will ich's ihm zeigen.« – »Und daß es gerade heute sein muß,« sagte sie nach einer Pause. »Ob uns das nicht sollte milder stimmen, wo der liebe Gott über das ganze arme Land das Unglück schickt.« – »Nein, Madame,« erwiderte er, auf den Boden stampfend, und wenn er das Wort Madame brauchte, wußten wir, was die Glocke geschlagen. »Nein, Madame, und wenn das ganze Land für ihn bäte, und wenn das ganze Land um ihn trauerte. Respekt dem Könige, aber niemand hat einzureden, wenn ein rechtschaffener Familienvater seine Pflicht tut!« – »Niemand!« seufzte meine Mutter; »ich wüßte doch jemand, wenn der hier wäre!« Aber sie sprach es zu leise, gleichsam selbst erschrocken, oder der Vater hörte es in seinem Zorne nicht. »Niemand,« fuhr er fort. »Sagen Sie das Ihren teuren Verwandten. Sie können ja ausbleiben, wenn es Ihnen zu hart dünkt. Mir dünkt es nicht zu hart und ich bin sein Vater, mir, und ich schlage mich selbst, wenn ich ihn schlage. Sagen Sie ihnen das; diesmal keine Einreden, keine Rücksichten, ich schultere nicht vor ihrer Tür, daß man ihnen Reverenz macht; vor meinem Hause stehe ich, ein deutscher Ehrenmann, ich kenne keine Rücksichten, ich will, ich darf nicht mehr schwach sein.«

»Junkerchen! Junkerchen!« rief auf einmal die Scheuermagd, die mich jetzt erst bemerkte, von oben herab. »Da drinnen ist nichts Gutes für Sie; machen Sie, daß Sie fortkommen.«

Darüber hatte ich überhört, was weiter drinnen gesprochen wurde, und schreckte nur zurück, als der Vater jetzt barsch herausbrach: »Wo ist Etienne?«

»Ich will ihn suchen,« sagte die Mutter und öffnete schnell, wie froh, mit guter Art fortzukommen, die Tür. Nun wirst du hineingeschleppt, dachte ich, und nahm mir vor, nicht zu weinen. Aber die Mutter riß mich rasch vom Treppengeländer, wohin ich retirierte: »Für dich ist hier nichts zu suchen,« und statt mich mütterlich in ihre Arme zu schließen, eilte sie mit mir nach der oberen Treppe. Christel, die Scheuermagd, mußte die alte Kinderfrau, die Susanne, rufen, der mich die Mutter ohne Abschied übergab. »Bring ihn schnell ins Bett,« sagte sie französisch, »er darf ihm heute nicht mehr vor Augen kommen.«

Also aufgeschoben war die Exekution. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Die alte Susanne keuchte mit mir die Treppe hinauf und seufzte und stöhnte und hielt inne bei jeder dritten Stufe. »Junkerchen! Junkerchen!« rief sie in gebrochenem Deutsch, »das ist ein schlimmer Tag!« und dann fuhr sie französisch fort, Gott anzurufen, Brocken aus ihrem Psalmen zu singen, und mitten unter aller Frömmigkeit arge Fluchworte auszustoßen.

Die Susanne, welche man sich wohl hüten mußte, um sie nicht arg zu erzürnen, mit dem vollen deutschen Klang ihres Namens zu rufen, war ein seltsames Erbstück unserer Familie. »Süsanne!« wie sie sich mit französischer Betonung nennen ließ, gehörte zu den wenigen unserer Kolonie, die selbst noch in Frankreich geboren waren. Fast achtzig Jahre alt, war sie in den schrecklichen Tagen der Verfolgung unserer oder einer verwandten Familie, das konnte ich nicht recht klar bekommen, nach Deutschland gefolgt, und alle süßen Erinnerungen und alle Greuel lebten noch in der rührigen Alten. Von der Gegenwart und der letzten Vergangenheit wußte sie nicht viel; sie hatte nur wenig deutsch gelernt und verstand kaum viel mehr, daß es oft lustige Mißverständnisse in Flur und Küche gab. Aber von der Zeit des Auszugs, vor ihrer Ansiedlung in Brandenburg hatte sie jeden kleinen Umstand behalten, ja sie wurde wieder zum Kinde, wenn sie von ihren Jugendjahren erzählte. Sie schilderte, wie der Trupp Dragoner aus Nimes ausgeritten war, nach ihres Herrn Schloß, wie sie geradeswegs durch das hohe Kornfeld trabten, die Ähren niederritten, die Scheiben einschlugen, das kaum gedeckte Stroh von den Dächern rissen, den Stall mit Matratzen betteten, alles mit einem Eifer, daß die kleinen Augen in den runzligen Höhlen von altfranzösischem Feuer glänzten, und die Zuhörer in teilnehmender Spannung die alte Frau vergaßen. Sie wußte die Olivenwälder, die grünen Triften, den Sonnenbrand, die luftigen Häuser, die flachen Dächer ihres Vaterlandes im Strom der Rede so lebendig zu malen, daß unsere Familie mit Lust zuhörte, oft die ganz andere Gegenwart darüber vergessend. Das rührendste war, wenn die Erzählerin selbst sich dabei so vergaß, daß sie in dem Augenblicke noch an Ort und Stelle in Nimes sich glaubte. Da ließ sie den Herrn Curé sprechen, schimpfte auf seine Haushälterin, mokierte sich über die Jupe der dicken Bäckersfrau, die schon seit 1680 nicht mehr modern war, und die doch hinter ihrem Eckschrank ihren Sieur nie hatte grüßen wollen und geriet in tödliche Wut über den Greffier, der sie eine hugenottische Katze genannt. Im Übermaß des Eifers ballte sie wohl die Hand, schnitt Gesichter und drohte dem guten Manne, der vielleicht schon ein halbes Jahrhundert moderte, von Nachbarn, Kind und Kindeskind, nur von ihr nicht vergessen. Man hütete sich, sie durch einen raschen Einwand aus dem Reich ihrer Phantasien zu reißen, denn wenn das geschah, ging sie in ein endloses Lamentieren über. Mit gleicher südländischer Heftigkeit rang sie die Hände, schlug die Arme über dem Kopf zusammen, verfluchte die Bösewichter, den Kolonel, den Hauptmann, den großen König, die Beichtväter, sprach vom Untergang des echten Christentums, vom Antichrist, von Foltern und Requisition, bis sie erschöpft in völliger Faselei des Alters endete. Nach dergleichen Ergüssen wurde sie tagelang stumpfsinnig, und vegetierte fast nur.

Zu unserer Haushaltung gehörte sie wie ein notwendiges Möbel. Mit den übrigen Domestiken stand sie indessen schlecht, was teils daher rührte, daß sie sich nicht verstanden, teils von einem gewissen Hang zu befehlen, den die alte Vertraute ihrer Herrschaft nicht verleugnen konnte. Um sie ganz in Harnisch zu bringen, mußte man sie nur »alte Suse« nennen, was die Mutwilligen, da sie den Spaß kannten, denn nicht unterließen. Ihr Aufgebot war dann ein toller Mischmasch von berlinischem und provenzalischem Patois, mit seltenen Brocken gutem Französisch vermischt, denn sie meinte, für die Dienstboten sei das zu gut und pure Verschwendung. Es wütete so lange, bis sie auch hier ins Faseln geriet, auf andere Gegenstände übersprang und am Ende die Veranlassung vergaß. Allein trotz des Spottes hegte man eine unwillkürliche Achtung für sie. Dazu berechtigte das gewissermaßen patriarchalische Ansehen, in welchem sie bei unseren Verwandten stand, welches sie sich selbst zu geben wußte. Sie war die älteste, treueste Dienerin der Familie, sie hatte früher einer größeren Wirtschaft vorgestanden und ungeachtet ihrer Geistesschwachheit leuchtete so mancher Funke aus besserer Zeit herüber.

Ich war ganz ihrer Sorge anvertraut gewesen, während sie mit Gottlieb, der sie eine alte Hexe nannte, nichts zu tun haben mochte. Mein jüngerer Bruder, Julius, war ihr nicht übergeben worden. Darum hätschelte und pflegte sie mich, und wenn sie deutsch mit mir redete, nannte sie mich ihren »kleinen Junker.«

In ihren lichten Augenblicken impfte sie mir noch hochmütigere Gedanken ein, als die Familie, und sprach krauses, tolles Zeug. Ich hielt, wie alle Kinder bei uns, große Stücke auf die alte Susanne, und das nicht ihrer Vorsorglichkeit, sondern der vielen schönen Geschichten wegen, die sie zu erzählen wußte. Mit der Erinnerung an die sonnenhelle Provenze lebten in ihr die hunderte von Kindermärchen, welche die geläufige Zunge derer aus dem Lande von »Oc« von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzt. Ich schäme mich, es Ihnen zu gestehen, welchen Einfluß diese albernen Wundergeschichten auf die Träume meiner Kindheit ausgeübt, ja wie noch jetzt, oft in den ernstesten Momenten, die Gedanken daran nicht von mir lassen wollen. Ein solches Märchen hat mich zuweilen in die Schlacht verfolgt, beim nächlichen Überfall ritten die spukhaften Rittergestalten meiner alten Susanne neben mir. Ich tröstete mich, wenn etwas schlimm ablief, mit dem Gedanken, daß es dem und jenem Ritter auch einmal nicht besser ergangen und wie die wohltätige Fee auf die letzt doch noch das Schlimme zum Guten gewendet hatte. Unsere vernünftigen Verwandten mochten diese Redekunst der Alten nicht billigen, mein Vater war unerbittlich streng dagegen. Wäre er nur umsichtiger in seiner Strenge zu Werke gegangen. Aber die eingeschüchterte Alte hütete sich nun wohl, und nur wenn sie mich eben zu Bett brachte, was ihr Geschäft war, ließ sie mit heiserer Stimme ihren Redestrom los. Man mag sich denken, wie ich unter dem schweren Deckbett Angstschweiß vergoß, wenn die Alte daneben die herzzerreißenden Nöte der Prinzessin im Rittertum erzählte und wenn der Blaubart zurückritt, seine letzte Gattin zu schlachten. Das Bodenzimmer war dunkel und die Stimme der Susanne tönte immer hohler und schrecklicher. Ich ließ sie dann nicht gehen und packte ihren hageren Arm mit meinen beiden kleinen Händen, daß sie auserzählen mußte, wenn die alte Schelmin etwa mitten in der Spannung des Schreckens abbrechen und fort wollte. Einmal, entsinne ich mich, hielt ich sie in der Verzweiflung der Angst so fest, daß sie nicht fort konnte, bis uns beide der Schlaf überfiel. Da saß sie denn beim frühen Morgengrauen noch so fest auf dem Stuhl und mein Kopf lag noch so lauschend nach der Seite, als hätte sie eben erst auserzählt. Auch hieran trug mein Vater ohne Willen die Schuld. Warum hatte er darauf bestanden, daß ich oben allein schlafen mußte. Statt die Furcht zu verlernen, wurde sie mir dort recht eingeimpft.

Heut, als sie mich auszog, war an kein Märchen zu denken; auch hatte ich, von einer ganz anderen Angst gepeinigt, gar keine Zeit, mich vor Gespenstern zu fürchten. Der Gedanke, eine Nacht allein in der dunklen Stube auszuhalten, ist für Kinder immer ein Schreckbild, diesmal war es eine willkommene Galgenfrist. Aber das Geheul und Gestöhn der alten Susanne war eine üble Vorbereitung für den Schlaf.

»Ja, mein guter Junker, ja, mein Junkerchen, du hast wohl recht zu zittern und zu beben. Was wird nun alles über uns kommen. Sie glauben's nicht, aber sie werden's sehen, morgen am Tage. Morgen am Tage, da wird man's sehen auf heller Gasse. Alte Leute verstehen das.«

»Auf heller Gasse?« rief ich erschreckt, denn was konnte man anders sehen, was anders denken, als wie der Vater mich schlug.

»Ja, ja, auf heller Gasse, es kommen wieder die bösen Zeiten. Sieben Geier hinter einem Adler, ach du meine Zeit, das kommt davon!«

Man wußte also von mir.

»Das bedeutet Krieg, sagen sie, ja Krieg,« fuhr sie fort, »aber was für einen Krieg! Ach der gute protestantische König, sie haben unsern König umgebracht, das war ja vorauszusehen, das war alles abgekartet, die Jesuiten kommen wieder ins Land, die Dragoner reiten schon durch die Straßen, morgen klopfen sie ans Tor und eh' die Sonne untergeht, gib acht, müssen wir aus den Toren raus, wir alle, wie wir gehen und stehen, wir alle, es wird keiner geschont, und die Susanne kann nicht mehr laufen.«

Sie fing zu weinen an und die Hände zu ringen, und ich begriff, daß es etwas anderes war, was sie erwartete, als die Schläge, die auf mich warteten. In ihrer Vehemenz hatte sie sich schnell zu einiger Ruhe ausgewimmert. Der König war tot, das faßte ich aus ihrem Vortrage auf; vom andern begriff ich freilich nicht viel, als sie fortfuhr:

»Das Volk hier ist harthörig, sie haben's noch nicht erlebt, darum glauben sie's nicht und lachen zu, wenn ihnen eine alte Frau, die das mit eigenen Augen gesehen hat, die Wahrheit sagt. Solche gab's auch bei uns. Die lachten, als die Bise sieben Wochen hintereinander wehte und der Schnee auf den Cevennen lag und die Störche vor den Geiern davonflogen. Nachher kam's ihnen über den Hals, sie wußten nicht wie; da fragten die Dragoner nicht lange, ob sie das Zeichen Gottes gesehen oder nicht. Ach, mein Etienne, da warst du noch nicht geboren, als wir in die Wälder liefen, um nur einmal Gottes reines Wort zu hören und aus voller Kehle einen Psalm zu singen. Die Dragoner halfen nicht mit, als wir aufpackten. Da fiel mir die schwere Kiste von Perlmutter und Elfenbein, die drinnen in der Putzstube steht, auf den Nacken, davon trag ich noch die Narbe. Und das wird alles so wiederkommen, alles, du kannst es mir glauben, denn ich bin eine alte Frau. Ach, du lieber Gott, als wir dazumal still hielten, oben auf dem Windmühlenberge, und der Herr mit dem Handschuh über den Wald zeigte und sagte: ›Die Türme da sind Berlin, und das ist der letzte Wald, den ihr passieren müßt.‹ Ach, du liebes Herz, wie fielen wir da alle auf die Knie. Der Herr Prediger betete ein Abendgebet, und wir sangen aus vollem Herzen den Psalm: ›Was toben denn die Heiden.‹ Der Herr Kommandant schüttelte unseren Herrschaften die Hände und sagte, wir sollten uns nicht fürchten. Es war ein braver, ein gottesfürchtiger Kavalier und trug ein himmelblau Kleid mit Goldborten. Ach, und dann zogen wir den Berg hinunter immer singend, aber die Bauern von Lützow waren garstige Leute. So standen die breitmäuligen Kerls da, das Kinn auf den Arm und taten nichts. Pfui, sind das Protestanten! Allein mitten in dem finstern Walde kamen schon die guten Bürger von Berlin und wollten uns sehen, und der höchstselige Kurfürst schickte uns seine grünen Leibjäger zu Pferde mit Fackeln entgegen. Die leuchteten uns bis ans schöne neue Schloß. Am Walle traten die Arkebusiere ins Gewehr. Ach, das ist jetzt alles ganz anders. Der Wall steht nicht mehr, und mit der reinen Lehre ist's aus. Und da mußten wir singen vor dem alten Herrn, der krank lag, aber sich doch ans Fenster tragen ließ. Ach, mein Etienne, mein Etienne, wer dachte damals, daß wir noch einmal aufpacken sollten und durch den Sand ziehen, durch die Wälder und durch den Schnee.«

»Warum kannst du denn nicht hier bleiben, Susanne?« fragte ich.

»Der gute König Friedrich Wilhelm ist tot, der gute protestantische König! Sonntags und wochentags ging er in die Kirche und duldete nichts Katholisches um sich. Da waren wir sicher. Darum haben sie ihn vergiftet. O, alte Leute merken so was.«

»Dann kriegen wir einen neuen König,« fiel ich ein.

»Ja, aber was für einen! Der wohnt in Rheinsberg und geht nie in die reformierte Kirche. Hat lauter Männer aus Paris, alles römische Katholiken um sich. Alle Woche, das weiß man, – der gottselige König aber wußt' es nicht, – alle Woche kriegt er Schriften und Bücher aus der gottlosen Stadt. Da stehen die Anweisungen drin, wie man uns wieder katholisch machen soll. Die klugen Leute sagen's dir freilich nicht, die lachen uns aus, aber wir wissen's. Gieb acht, eh' wir uns umsehen, sind wir dem Papst verkauft. Was hätte denn der große Adler bedeutet, so groß, wie sie hier nie zu Lande gesehen! Und die Raben hinter ihm her! Es setzt wieder eine Verfolgung. Mit dem reinen Christentum in Brandenburg ist's aus. Die Herren Prediger müssen ihre Weiber fortstoßen, wir dürfen nicht mehr singen und werden alle Morgen in die Messe getrieben! Ja, mein Kind, alle Morgen muß ich dich in die Messe führen, und gotteslästerliche Kerzen stecken sie auf die reinen Altäre, und die Priester mit Gold und Violett behangen, knixen und drehen einem den Rücken. Ach, du mein Herr und Heiland Jesu Christ, muß ich das erleben,« fuhr sie in den Ton innerster Bewegung übergehend fort und sank halb vom Stuhl neben meinem Bett auf die Knie. »Was habe ich alte Frau getan, daß mein Enkelein, mein kleiner Baron in die Messe soll! Ach, du großer Marquis in unserer Kirche, wie wirst du von deinem Postament springen bei der Gerichtstrompete und wirst mich aus deinem Helm grimmig ansehen und fragen. O, ich werde aber antworten und sprechen: die alte Susanne ist's nicht, die ihn dem Antichrist verhandelt. Fragt doch erst, mein großer Marquis, bei Monseigneur nach, was der sagen wird. O, Monseigneur ist ein großer Mann, und Etienne ist ein Kind, Monseigneur ist ein vornehmer Herr, und ich bin eine arme alte Frau. Ach, mein Zuckerkind, ich habe meine Knie wundgebetet, und du bist noch so jung und unschuldig, und so junges Blut soll schon anderer Schuld büßen. Sie könnten alle Welt papistisch machen, nur meinen kleinen Etienne nicht.«

An dergleichen krause Reden war ich längst gewöhnt. Die Mutter hatte mir verboten, darauf acht zu geben. Aber ich konnte mich nicht enthalten, schon von ihrer Angst angesteckt, zu fragen, ob Julius auch katholisch werden müsse, der doch noch um einige Jahre jünger war als ich, also auch unschuldiger.

»Was geht die alte Susanne der Julius an,« fiel sie etwas heftig ein, »dafür lasse ich andere sorgen. Dem groben Volk hier, was schadet das! Ein Kohlenbrenner macht sich nicht rußig! Ob so ein Lutherischer so ein bißchen katholisch wird, da ist nicht viel verdorben. Aber wir, mein Etienne, wir gute Calvinisten, reine Reformierte, wenn ich denke, wie deine Großmutter ihre Psalmen sang, wenn der ehrwürdige Herr Saurin vorm Altar stand, zehn hinter einander, das griff sie nicht so viel an. Ach, und die alte Marquise von Kastell Bailly, unsere Kousine, sie hustete so viel, daß sie kein vernünftiges Wort vorbringen konnte, das war, weil sie als Kind in Rochelles hatte im feuchten Keller sitzen müssen, – o, du böser Kardinal Richelieu, – aber singen konnte sie, da hörte man nichts vom Husten in den Psalmen; so gottesfürchtige Damen gibt es gar nicht mehr. Der alte Marquis, der Großoheim vom Herrn Marquis, ein gar munterer Herr, er war unverheiratet, stand allemal am Wagentritt, wenn sie aus der Kirche kam, und die Leute meinten da so was, – ich war nur ein kleines Mädchen, – aber nachher wurde nichts draus, ja, man wußte wohl, warum. – Und alle die Herrschaften waren reine Calvinisten, wie's seither nicht auf der Welt gegeben, dazumal war noch Ehre bei Gottes Wort, und wenn sie den Greuel mit erleben müssen, ach, du fromme Frau von St. Urban, als du meinen kleinen Marquis in deinen Armen wiegtest, da dachtest du nicht, daß er sich und Kind und Kindeskind um Geld und Gut dem Antichrist verhandeln würde, die Haare hätten sie sich ausgerauft, aus ihren Särgen wären sie aufgesprungen. Aber so was mußte ja kommen, Heulen und Zähneklappern, doch, doch es wird noch ärger kommen, wartet nur! O, die Dragoner bringen Martermaschinen in die vermauerten Gewölbe, da blitzt und stöhnt es um Mitternacht, die Raben werden fliegen, und in den eisernen Gittern wird der Calvinismus bluten.«

Die Angst der Alten teilte sich mir mit, als sie nun mit leiserer Stimme und dem Scharfsinn des Argwohns alle Umstände zusammentrug, die ihre Vermutungen rechtfertigen sollten. Wahres und Falsches, Ernstes und Lächerliches bunt untereinander gewürfelt. Das geheime Stübchen beim Buchhändler Haude, wo der junge Friedrich die Novitäten aus Paris zu lesen bekommen, war ein Konventikel der französischen Jesuiten; der und jener mit einem besonderen Gesichte war ein heimlich Konvertierter. Bei einem Kaufmann unterm Mühlendamm waren schon Tücher zu Meßgewändern bestellt. Man hatte einmal von der Burgstraße aus Licht gesehen in den unteren unbewohnten Gemächern des alten Schlosses. Dort bereitete man nach der guten Alten schon heimlich die Marterwerkzeuge für die Inquisition. Die fabelhafte eiserne Jungfrau, welche mit zweischneidigen Schwertern ihre Opfer umgarnen soll, ein uraltes Schreckbild des Berliner Volks, hatte man an den oberen Fenstern der Burg erblickt, und der Stahl an ihren Armen war frisch geschliffen. Kurzum morgenden Tages, wenn König Friedrich, der zweite dieses Namens, seinen Einzug in Berlin hielt, hatten wir nichts anderes zu erwarten, als die Eröffnung eines Ketzergerichts.

Den geistreichen Lesern dieser Papiere wird dies sehr unsinnig vorkommen. Aber bürgen uns in unserem erleuchteten Jahrhundert, dem Jahrhunderte Voltaires und Friedrichs, die Autorität beider Namen, bürgt uns die eines Thomasius gegen den Wahnwitz des Aberglaubens! Ein Gerücht, je unsinniger, toller, naturverkehrter es klingt, um so leichter findet es bei rohen Gemütern Eingang, denn Argwohn und Dummheit sind erfinderisch. Daß vielleicht nicht zehn Seelen in Berlin außer unserer Alten gerade das dachten, was sie dachte, brauche ich kaum zu sagen. Aber die Furcht vor den Jesuiten tritt unter den gemeinen Leuten in protestantischen Ländern noch gespensterhafter schreckend auf, als in bigott katholischen der Haß gegen die Ketzer.

Morgen sollte ich eine wohlverdiente Züchtigung erhalten, und außerdem – katholisch werden. Konnte ich unter ärgeren Schreckbildern einschlafen! Ich rief die Susanne, sie möchte noch ein bißchen bleiben, aber was half mir ihr heiseres Klagegeheul? Indessen es draußen donnerte und blitzte, betete sie den ganzen Psalter ab. Ich frug sie, ob der Vater sehr zornig wäre; ihre Antwort, daß Gott noch zorniger sei, konnte mir wenig helfen. Ich bat sie, ein Wort für mich einzulegen, daß sie's morgen nicht zu arg machten, aber sie sagte mir, ich sollte nur zum Vater im Himmel beten, daß meine Seele gerettet würde.

Das tat ich denn auch redlich, als sie fort war. Mit gefalteten Händen saß ich im Bette und betete, was mir aus Bibelsprüchen und Kirchenliedern in den Mund kam. Dabei sah ich unverrückt, denn ich wagte mich nicht umzukehren, auf die Wand, wo zufällig ein Bild des Kronprinzen hing. Die Blitze beleuchteten es, und die Erschütterung des Donners bewegte das Porträt mit dem kühnen Gesichte des Knaben. Es kam fast heraus, als betete ich zu ihm: »Mache du mich nicht katholisch,« und mein wunderbarer Heiliger nickte dazu. Es mischte sich zwar damit unwillkürlich immer noch eine andere Bitte: »mache es morgen mit mir gnädig,« aber auch dazu nickte der Kronprinz, der seit gestern nicht mehr Kronprinz war. Es kam auf einmal ein sehr starker Donnerschlag, und etwas fiel mit einigem Geräusch zu Boden. Als ich inne ward, daß dies die drei spanischen Röhrchen waren, welche man zum Gebrauch hier auf dem Ofensims verwahrte, wurde mir wieder leichter ums Herz, als wäre die Bitte schon halb gewährt.

Aber an Schlaf war nicht zu denken. Das Gewitter wollte sich nicht verziehen, und wenn ich einmal vor dem Donner einschlief, hörte ich die rollenden Foltermaschinen, von denen die Susanne mir erzählt, und die meine kindische Phantasie mit den Rollen, auf denen die Wäsche »gemangelt« wird, identifizierte. Da streckte man mich oder andere hin und walzte mich breit, und der Folterknecht, der mir immer zurief: »Willst du wohl katholisch werden?« war kein anderer als der Advokat Schlipalius, und statt Augen glotzten ihm aus den Höhlen die grauen Murmeln vor, mit denen ich werfen wollte.

Einmal sah ich schon einen Scheiterhaufen angezündet, und das Feuer schlug mir so hell ins Gesicht, daß ich die Augen aufriß. Die ganze Stube stand in Flammen und ich lag in Todesschweiß gebadet. Ob ich schon katholisch geworden, wußte ich nicht, aber die Schläge hatte ich noch nicht weg. Da hörte ich etwas die Treppe hinaufklappen, die Tür öffnete sich, aber es war kein Folterknecht, sondern meine gute Mutter, die sich zu mir setzte und erschrak, als sie mich noch wachend und in Fieberhitze fand.

»Das Gewitter wird schon vorübergehen, mein Kind,« sagte sie. »Der liebe Gott tut Kindern und guten Menschen nichts. Schlaf du ruhig, ich wollte dich nur einmal sehn vor morgen.«

»Werden wir alle gefoltert?« fuhr ich auf.

»Du hast geträumt, lieber Etienne, beruhige dich, wer soll uns denn foltern. Wir haben ja nichts verbrochen.«

»Und wir brauchen auch nicht katholisch zu werden,« fuhr ich erleichtert fort.

»Was das für Reden sind, Etienne. Du hast dir wieder etwas von der alten Närrin vorschwatzen lassen. Wir sind in einem guten, evangelischen Lande.«

»Aber der gute, protestantische König ist tot!« weinte ich.

»Freilich ist er tot, und Gott habe ihn selig, aber der liebe Gott wird auch mit dem jungen Könige sein, und wir brauchen keine Sorge zu haben. Schlafe du nun aus, mein Kind, und bete für deine Mutter, für uns alle.«

»Ach, liebe Mutter, brauche ich auch nie, in meinem ganzen Leben nicht katholisch zu werden?«

Die Mutter schien betroffen, und als ein Blitz ihr Gesicht hell beleuchtete, sah ich einen starren Blick, wie ich ihn nie gekannt. Sie schüttelte noch den Kopf und sagte dann:

»Was du da redest, Etienne. Der gute Vater im Himmel wird dich behüten dein Leben lang. Wenn er es nicht will, daß du katholisch wirst, so wirst du's auch nicht. Bleibe du nur immer rechtschaffen und behalte deinen Gott im Herzen, das andre wird sich finden. Und nun wollen wir zusammen zu ihm beten, daß er uns morgen den schweren, schweren Tag überstehen läßt.«

Sie schloß meine Hände in die ihren, und ihre Lippen murmelten ein langes Gebet. Erst als sie glaubte, daß ich eingeschlafen sei, ließ sie mich los, küßte mich auf die Stirn und benetzte mein Gesicht mit ihren heißen Tränen.

»Es ist schon so viel Jammer auf der Welt!« hörte ich sie flüstern, »und deine Kreaturen sind nicht mit zufrieden. Sie wollen strenger sein als du, und deine Gnade ist ihnen nichts. Erweiche sie, und laß dies Kind nicht untergehen unter den harten Herzen.«

Es sind Worte, die sich mir um so fester einprägten, als es höchst selten war, daß meine Mutter ihre Gedanken aussprach. Sie war ein stilles, duldendes Wesen, und ohne zu den pietistischen Separatisten zu gehören, beschränkten sich doch ihre religiösen Empfindungen auf sie allein. Ohne Klage ließ sie alles über sich ergehen, und darin zeigte sie, was man einen christlichen Mut nennt. Sie teilte sich nie mit, und ihrer eignen religiösen Beseligung unerachtet, war sie weit entfernt, bekehren zu wollen. Andere wie sich selbst, und mich nicht ausgeschlossen, überließ sie einer höheren Fügung, ohne diesen Glauben und dies Vertrauen auszusprechen, denn der Vater litt es nicht.

Sie hatte mich verlassen, ohne deutlicher auszusprechen, was unter dem schweren Tage morgen zu verstehen sei. Ich hatte sie nicht fragen mögen. Auf meinen Rücken war es abgesehen, das wußte ich, ob es Zusammenhang mit dem Tode des Königs hatte, wußte ich nicht. Aber mir kam so etwas in den Sinn, da ich einmal gehört oder gelesen von indischen Fürsten, bei deren Begräbnis Frauen und Sklaven gepeitscht und verbrannt wurden. Doch ich brauchte nicht katholisch zu werden, meine Mutter war bei mir gewesen, sie hatte gesagt, ich solle ohne Sorge sein, das Gewitter hatte aufgehört, der Kronprinz hing wieder ruhig an der Wand, und – fiel mir ein – morgen mittags gab's Birnen und Klöße; so schlief ich denn nach Mitternacht des unruhigen Tages selig und fest ein.


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