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Fünftes Kapitel.
Die Familie

Die Susanne rüttelte mich aus dem Schlaf. »Auf, auf, Junkerchen, sie kommen schon zusammen, daß du nicht der letzte bist.« – Wer kam zusammen? War alles ein Traum gewesen, oder war es wirklich? Die drei spanischen Röhrchen standen wieder auf dem Ofen. »Auf, auf, in die Kleider, wir zittern ja, als ob wir im Fieberfrost lägen.«

Und ich zitterte noch, als sie mir das schöne himmelblaue Sonntagsjäckchen anzog, das allein schon sonst mich froh machen konnte. Als wären mir die Glieder zerschlagen, das Blut stockend geworden, die Zunge gelähmt und die Augen starr; so ließ ich alles willenlos mit mir geschehen.

»Die Familie kommt zusammen,« sagte Susanne.

»Wozu kommt sie denn zusammen?«

»Wozu! Zum Gerichte! Willst du nicht mit Federn im Haar vor die Herrschaften treten. Warte nur, mit Pfingsten kommt der Friseur; dann wirst du gepudert und kriegst einen schönen Haarzopf.«

Nun konnte ich nicht mehr fragen. Es war dieselbe Gespensterfurcht, die mich in der Nacht gehindert, mich nur einmal im Bett umzudrehen. Es konnte ja überall nur schlimmer kommen. Da trat die Scheuer-Christel herein und holte lachend die Röhrchen vom Ofen: »Die werden heute mal gebraucht werden.« Und trällernd schlorrte die Gefühllose die Treppe hinunter, die Röhrchen klappten am Geländer; mir rieselte die Haut.

Die Frühstücksmilch verschüttete ich zur Hälfte, die Semmel konnte ich nicht runterwürgen. Die Susanne schalt und zog mich mit sich hinaus. Auf dem ersten Treppenabsatz konnte ich schon nicht weiter; ich zerrte sie am Rock und bat sie, nicht so schnell zu gehen.

»Schämst du dich nicht, Etienne,« sagte sie, die über Nacht ihre Ketzerangst ganz verschlafen zu haben schien. »Du bist ein großer Junge, was werden die Verwandten dazu sagen?«

Ich wußte wohl, was ein Familiengericht war, es hatte weit mehr zu bedeuten, als daß der König tot war; ach, in diesem Augenblick war es schrecklicher als das Katholischwerden. Schon hatte mir auf der Lippe die Bitte geschwebt, sie solle ein Wort für mich einlegen; ihr Vorwurf weckte den schlummernden Stolz: »Nein! Die Verwandten sollen nichts dazu sagen; sie sollen sehen, wie du es aushältst!« Ich muß hier ein Bekenntnis ablegen: ich fühle mich zu diesen Verwandten wenig hingezogen, weder zu den mütterlichen noch zu den väterlichen, und liebte sie um so weniger, als mir von Mutter und Vater die höchste Ehrerbietung für beide eingeschärft wurde. Ich wollte die Mutter gern lieben und den Vater verehren, aber warum die Verwandten? Ich hatte nie gehört, daß sie besser waren als wir. Meine Eltern waren wohlhabend, aber die meisten der Familie waren reich, einige sehr reich. Bei Kindtaufen oder andern Festtagen verdroß es mich genug, daß Vater und Mutter untenan gesetzt wurden, und noch mehr, daß der sonst so strenge Vater immer zuerst grüßte. Und das alles bloß, weil die Leute mehr Geld hatten als wir. Gottlieb bestärkte mich in meinem Trotz und warnte mich, ich solle kein Schmarotzer werden. Und dieser Trotz wuchs mit den Jahren, je mehr mein kleiner Verstand begriff, daß unser ganzes Tun und Treiben sich auf diesen Verwandtenkreis bezog. Wenn etwas geschah oder vorfiel, so betrachtete man die Tat und Handlung nicht nach ihren Beweggründen oder in ihrer Wirkung, sondern es hieß: »Was wird der oder jener dazu sagen!« Wenn ein Vetter im zehnten Grade eine Ehrenstelle erhielt oder eine große Spekulation ihm glückte, oder eine vorteilhafte Heirat schloß, so sollte ich mich auch freuen; aber ich sah gar nicht, daß mein Vater durch die Ehrenstelle an Ehre und durch die Spekulation an Gelde gewann. Ebensowenig hatte meine Mutter etwas davon, ich noch weniger. Im Gegenteil taten die Vettern dann noch vornehmer als sonst gegen uns, was mich am allerwenigsten zu der geforderten Ehrerbietung anregen konnte. Man ging vielleicht damals so zu weit in Berücksichtigung der Familienbande, als man heut allzugeneigt scheint, sie hintan zu setzen.

Aber von ihnen sollte niemand wissen, welche Angst ich hatte. Ich wußte ja, wenn es einen Skandal gab, wie sie die Köpfe zusammensteckten, wie ihr Interesse für unsere Familie über Nacht baumhoch aufschoß, sobald es etwas zu urteilen gab. Als Gottlieb nach der ersten Karzerstrafe eine väterliche Lektion erhalten sollte, da fehlte niemand von ihnen beim Familiengerichte. Entschuldbare Neugier in einer Zeit, die so arm an Begebenheiten, so dürftig an Nahrung für den Geist war. Aber vor ihnen wollte ich mich nicht beugen!

Wie es da rauschte von Damastkleidern und bauschigen Seidenstoffen die Treppe herauf, Federn auf den turmhohen Frisuren schaukelten sich an dem eichenen Treppengeländer, galante, weiß frisierte Herren, den dreieckigen Hut unter dem Arm, führten zierlich die Damen wie im Menuettschritt herauf. Schönpflästerchen erhöhten die blendende Weiße der Wangen, Stahldegen, französische und deutsche Komplimente, Silberschnallen, bordierte Röcke; es schwirrte und flimmerte mir bunt vor Augen und Ohren und alles das kam, und aller der Putz, allein um – mich aushauen zu sehen! Mit einer kecken Miene sprang ich zwei Stufen auf einmal und wollte eben in das große Zimmer schlüpfen, als ein Anblick mich erschreckte. Durch die halb geöffnete Tür sah ich zwei lange Soldaten stehen. Die Christel reichte einem ein Glas Branntwein und er kniff sie dafür in die roten Backen, der andere probierte die Röhrchen. Ich hatte noch keinen Soldaten in meines Vaters Hause gesehen, aber gedroht hatte er zuweilen, er werde einen Unteroffizier holen lassen, und das war eine fürchterliche Drohung!

Ich huschte fast unbemerkt in den großen Saal. Und weil es so unbemerkt geschehen konnte, ward ich doch ordentlich zweifelhaft, ob denn um meine kleine Person die vielen Umstände gemacht worden. So glänzend, so vollständig war noch keine Hochzeit, kein Kindtaufen gewesen. Die Frauenzimmer, wenn auch für ihren Leib, konnten doch kaum in dem, was die Mode und der Schneider dazugetan, auf den Stühlen längs der vier Wände, die Herren mit ihren spitzen Degen kaum ohne sich zu spießen, an den Pfeilen und Fenstern Platz finden. Doch wurde daran fürs erste noch gar nicht gedacht. Meine Mutter bekomplimentierte sich, wie es sein mußte, mit den Eintretenden, die vorher unter sich auf dem Flur einen Kampf der Höflichkeit über den Vortritt bestanden hatten. Von meiner Mutter abgefertigt, entspann sich ein endloses Verbeugen, Knixen und Bekomplimentieren mit Redensarten, die eine wie die andere klangen. Die kerzengerade Haltung der Damen bei den tiefen Knixen, der Wellenschlag ihrer Reifröcke, in denen ihr Leib versank, die ernsten Mienen unter den turmhohen Frisuren und die wallenden Federn oben, ein vielfach in demselben Raume wiederholtes Karikaturbild. Ich hätte schon damals gelacht, wie es mir jetzt lächerlich in der Vorstellung dünkt, wäre nicht alles, Putz und die Freundlichkeit und die Komplimente, auf meinen Rücken abgesehen gewesen. Wer lacht, wenn ihm die Tränen im Auge stehen?

Es verging eine Viertelstunde, ehe dies wogende Meer auseinanderkam, ehe ein jeder einem jeden ein verbindliches Wort gesagt und dann seinen Platz gefunden hatte. Man sah meiner Mutter die Angst an; sie konnte doch aus Versehen einen Vornehmeren zu tief, einen Geringeren zu hoch plaziert haben! Die Ordnung hier war kein leichtes Geschäft, da nicht allein Rang und Reichtum an sich, sondern die verschiedene Abstammung zur Sprache kam. Ein deutscher und ein französischer Rat von einem Dienstalter, ein deutscher und ein französischer Kaufmann von gleichem Vermögen, wie sollten sie rangieren! Wie oft hatte meine Mutter den Vorwurf der Verwandten des Vaters gehört: sie begünstige ihre Kolonie, wie deutlich hatten dagegen die nähern Blutsfreunde es ihr zu verstehen gegeben: sie halte nicht genug auf Familienehre, sie sei zu nachgiebig gegen die Anmaßungen der Sippschaft ihres Mannes. So lange sie zusammen waren, war alles Süßigkeit und Freundschaft; wenigstens das muß ich den Verwandten meiner Mutter nachsagen, von ihrer Seite wurde der gesellige Friede nicht gestört.

Man reichte die Schokolade herum, und ich benutze diesen Moment, den geneigten Leser vorliegenden Abschnitts aus meiner Jugenderinnerung auf einige der Hauptpersonen aus der großen Familienversammlung aufmerksam zu machen. Seien Sie ohne Sorgen, daß ich deshalb einen vollständigen Katalogus auch der Nieten liefern will. Ebensowenig führe ich Ihnen in anderer Gestalt die Frau Kurzinne noch einmal vor, die, ich weiß nicht aus welchem Grunde, nicht erschien. Dagegen sehe ich noch sehr deutlich ihren würdigen Gatten, dessen hagere Figur, mit übereinandergeschlagenen Beinen und Armen, auf ein Fensterbrett halb sitzend sich lehnte. Die grauen Augen flogen schielend über den weiten Kreis, und der große Mund blieb in einem immerwährenden leisen Lächeln. Er schien der heimliche Dirigent oder gar der Autor des traurigen Schauspiels zu sein; wenigstens merkte man ihm an, daß er voraus wußte, was kommen sollte. Sein unansehnlicher, fast schmutziger Anzug paßte aber wenig für den Dirigenten einer so glänzenden Versammlung.

Unfern von ihm stand der Onkel Rat, gewiß der erste Stern in der Familie, obschon er noch keinen auf der Brust trug. Sein Haar war am feinsten frisiert, seine Schnallen waren die blanksten, sein Anzug der polierteste, gewiß war es auch seine Rede. Auf dem Degengriffe ruhte seine linke Hand, und auf seinen Lippen ein wohlgefälliges Lächeln. Ich hätte dem Onkel Rat gut sein können, wenn mich der ängstliche Mann nicht so heftig von sich gestoßen hätte, als ich in früher Zeit einmal ihm auf den Schoß sprang, um den guten Onkel zu küssen. Ich war nämlich etwas schmutzig vom Spielen auf dem Hofe, und er hatte neue schwarze Taffethosen an. In seiner Milde und Behutsamkeit war der Onkel Rat der Gegensatz zu meinem strengen, herb auffahrenden Vater. Man sprach zwar mit großer Ehrerbietung seinen Namen aus, sonst aber nicht viel von ihm. Er gehörte in Familienangelegenheiten zu seiner Frau. – Sein Bruder, der Geistliche, war ein bejahrter Witwer und sonst ein stiller Mann. Er trug eine rötliche, glatte Perücke und begrub sich den ganzen Tag in sein Studierzimmer, dessen vier Wände mit allen Ausgaben des Horaz sich füllten; das ist ziemlich alles, was ich von ihm wußte und weiß. Auch er zählte nicht für sich, er gehörte zur Familie, und daher war er bei uns. Ich will Sie nicht belästigen mit der Beschreibung des vollwangigen, glatt rasierten Kaufmanns, der so nachlässig mit dem dicken Arme über der Stuhllehne des Nachbars spielte, als sitze sein vollwichtiger Körper schon auf Millionen, was noch nicht der Fall war. Auch den herausgeputzten Materialhändler daneben deute ich Ihnen nur an, wie er sich auf den Spitzen seiner Schuhe wiegte, als könne sein kleiner Körper dadurch zur Höhe eines großen Kaufmanns anschwellen.

Aber der eigentliche Glanz unserer Familie strahlte vom Kanapee her. Dort saßen drei Frauen, und das war ein Anblick, der auch jedem Fremden gleich Ehrfurcht gebot. Die an den beiden Ecken hatte die Natur mit junonischer Schönheit bis ins Groteske ausgestattet; die mittlere, älter an Jahren, konnte kaum, vermöge ihrer höchsten Frisur und der Federn auf derselben mit den beiden Riesinnen Reih und Glied halten. Es war hier eine schwierige Vereinigung zwischen dem Stolz der Deutschen und der Kolonialverwandten zustande gekommen. Die mittlere Dame war nämlich die Tante Rätin, welche noch viel besser als ihr Gatte wußte, was es zu bedeuten hatte, königlicher Rat zu sein. Auch unterließ sie niemals, so oft wir bei ihnen waren, mir einzuprägen, daß meine mütterliche Familie eine alte Parlamentsfamilie, also doch eigentlich vom Adel sei. Das alte Parlament von Rouen machte sie denn auch dergestalt geltend, daß die beiden junonischen Damen, deren Metalladel vom Kanapee nicht fortzudrängen war, dem Parlamentsadel wenigstens den Mittelplatz einräumten. Um ihre Opposition gegen so verjährte Vorurteile an den Tag zu legen, sprachen sie indes nie ein Wort mit meiner Tante, und die beiden Seitenflügel des Kanapees drehten dem Zentrum desselben fast immer den halben Rücken. So saß meine Tante isoliert in ihrer Hoheit, aber, zufrieden; sie hatte doch den Ehrenplatz behauptet.

Die beiden großen Damen hatte ein besonderes Glück in die deutsche Familie meines Vaters versetzt. Ich konnte aber dem Himmel für diese besondere Gunst nie so dankbar sein, wie mein Vater es verlangte. Der Wechsler und Bankhalter Splittegarb hatte nämlich zwei einzige Töchter, die, was die Größe anlangt, seinem angefüllten Geldkasten nichts nachgaben. Von ihrer zwiefachen Höhe hatten sie die Schar der kleinen Freier mit hochmütigem Blicke übersehen, ohne unter ihnen einen Gegenstand bemerkenswert zu finden. Auch der Vater, einer der reichsten Männer der brandenburgischen Hauptstadt, der viel auf Gleichheit hielt, fand unter allen Bewerbern in der Nähe keinen würdigen Eidam, der in die andere Wagschale so viel werfen konnte, als er seinerseits hineintat. Er hatte aber nach Wien und Amsterdam geschrieben und vertröstete seine Töchter. Da wollte das launenhafte Glück, daß der König bei einer Bärenhetze beide junge Damen sah. Er hatte schon viel von ihrer Größe gehört, fand aber seine Erwartung noch übertroffen und ein Gedanke stieg in ihm auf, der sich noch selbigen Abends zu einem festen Entschluß gestaltete. Er wollte ihr Glück machen. Aber nicht jedermann in des Königs Umgebung hatte dieselben Ansichten vom Glück als der Monarch, und noch vor Anbruch der Nacht schlich ein Kammerlakai, der ein kleines Kapital in der Splittegarbschen Handlung stehen hatte, auch wohl selbst in freundlichen Diensten bei dem wohlunterrichteten Bankier stand, zu dem alten Herrn und vertraute ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit, daß Friedrich Wilhelm morgenden Tages beabsichtige, des Kaufmanns beide große Töchter mit den beiden Flügelleuten der Garde zu verheiraten. Aus seiner Schatulle selbst wolle er eine bedeutende Aussteuer geben, und eine Änderung seines Vorsatzes sei um so weniger zu bewerkstelligen, als er diese auf die Grundsätze der Gleichheit basierte Partie im Interesse des Staates beschlossen habe. Denn aus einer solchen Ehe konnten doch füglicherweise nur wiederum große Männer und Frauen für das Land hervorgehen! Seinerseits tröstete der Kammerlakei damit, daß die beiden Flügelmänner anständiger Leute Kind wären. Herr Splittegarb liebte, wie gesagt, auch die Gleichheit, hatte aber andere Begriffe als der hochselige König von den gleichen Ehen. Sein wohlfundiertes Handelshaus schien ihm keine Stützen oder Säulen an den beiden baumhohen Grenadieren zu gewinnen. Noch weniger freuten sich seine Töchter auf Männer mit Musketen. Ein Widerspruch gegen den ausgesprochenen höchsten Willen lag für den Hofwechsler außer der Frage; das leuchtete allen Teilen gleich ein. Es mußte daher eine vermittelnde Auskunft gesucht werden. Die verschriebenen Bräutigams aus Wien und Amsterdam wären selbst auf Fausts Zaubermantel nicht schnell genug eingetroffen, in der Stadt selbst aber waren keine tauglichen Remplaçanten in der Eile aufzutreiben.

Nun traf es sich, daß zwei Vettern meines Vaters als bescheidene Kommis im Comptoir des Herrn Splittegarb gerade noch arbeiteten, als der Wächter schon die zehnte Stunde ausrief. Sie waren nur an hohen Festtagen zur Tafel ihres Prinzipals gezogen worden und mit den Töchtern des Hauses in keine andere Berührung gekommen, als wenn sie ihnen beim Einsteigen in den Wagen den Kutschenschlag hielten. Man denke sich daher ihre Verwunderung, als beide, »wie sie da wären,« in des Prinzipals Wohnstube zitiert wurden. Hier fragte man sie, ob sie geneigt seien, Herz und Hand den Töchtern ihres Herrn zu überlassen. Da eine verneinende Antwort nicht wohl denkbar war, stand der Notar schon bereit, die Verlobungsringe lagen auf dem Tisch, die Protokolle waren bald in Richtigkeit, und die Damen schrieben in kaum verhehltem Zorn ihre Namen darunter. Da nun soll es sich begeben haben, behauptet der böse Leumund, daß eine Verwechselung vorfiel. Jungfrau A. verlobte sich durch ihre Schrift dem Kommis und Vetter B., da doch vorher bestimmt war, daß sie den Vetter A. heiraten solle, und Jungfrau B., dem B. bestimmt, jenem A. Der Notar wollte, als dies beim Vorlesen bemerkt wurde, den Bogen zerreißen, die Erbinnen erklärten aber, das sei im Grunde gleichgültig, sie hätten nicht Lust, zweimal zu unterschreiben, es müßte nun beim Schriftlichen bleiben, und meine Vettern waren noch allzu verblüfft von dem Glück und viel zu demütig, um etwas dagegen einzuwenden. So bekam jeder meiner Vettern erstens eine reiche Frau, er wußte nicht wie, und zweitens statt der bestimmten eine andere. Am anderen Morgen um sieben Uhr schon, – es war im Winter, saßen die Neuverlobten in zwei Kutschen und gaben ihre Karten in der Stadt ab. Um neun Uhr erhielt Herr Splittegarb die Aufforderung, vor dem Könige zu erscheinen. Er war außer sich vor Zerknirschung, als er das Anerbieten des Monarchen vernahm, sprach vom gerührten Vaterherzen, das ihm nicht länger erlaubt, den Tränen seiner geliebten Töchter zu widerstehen, von der aufopfernden Liebe der beiden Jünglinge, erbot sich aber, wenn Seine Majestät es gut heiße, das kaum geknüpfte Band wieder zu zerreißen. Der Monarch war ärgerlich, aber eine Verlobung, als Vorbereitung zu einem Sakrament, ihm eine viel zu ernste Sache, um dies zuzugeben. Die Splittegarbschen Töchter waren auch ärgerlich, die Sache aber war viel zu ernst, um sie wieder rückgängig zu machen. Auf diese Weise hatten unsere Vettern die reichsten Erbinnen von Berlin gewonnen, und das Glück war auf einmal, wir wußten nicht wie, in unserer Familie!

Wenigstens hieß es so. In den engeren Familienkreisen unserer Vettern befand es sich nicht jederzeit. Außerhalb des Hauses zog man freilich von nun an vor ihnen, als vor reichen Leuten, tief die Hüte, im Hause waren sie aber nicht mehr als vorher, das heißt die gehorsamen Diener ihrer Prinzipalstöchter. Sie mußten, wenn sie in die Wohnzimmer ihrer Frauen treten wollten, sich melden lassen, sie wurden zum Essen gerufen, mußten Fächer und Tücher halten, einer sogar den Mops, und ihren Ehehälften in die Gesellschaft folgen. Bei uns hatten die guten Vettern es nicht so übel, denn an den Sofalehnen neben ihren Frauen postiert, redeten diese oft ein freundliches Wort mit ihnen, was freilich nur geschah, um mit einigem Anstande der Tante Rätin den Rücken zu kehren.

Ich scheine Ihnen vielleicht etwas boshaft in der Schilderung meiner Familie. Ich will den Vorwurf nicht ganz ablehnen, denn ich gebe zu, daß alles, was zwischen uns bis dahin vorgefallen, weder meine Achtung noch meine Liebe erwecken können. Auch was nachdem sich ereignet, war wenig angetan, mich auf andere Gedanken zu bringen. An jenem Morgen verdroß es mich zumal, daß mein Vater, sobald er meiner ansichtig wurde, von mir verlangte, ich solle umhergehen und allen Frauenzimmern nach der Reihe die Hand küssen. Das war wohl sonst in der Ordnung, aber auch heute es zu fordern, wo sie nur die Bosheit hergetrieben hatte, war doch zu grausam. Ich machte mich nach der Reihenfolge an meinen sauren Frondienst und bei jeder knöchernen Hand, die ich an meine Lippen drückte, mußte ich das Kompliment wiederholen: » Bon jour, meine werte Cousine, wie freuen wir uns der Ehre, Sie in unserem Hause zu sehen.« Wenn doch auch nur eine gewesen wäre, die mir die Floskel erlassen hätte! Besonders schwer wurde es mir, die großen, kalten Hände der beiden Riesinnen aufzuheben, und ihnen das unwahre Kompliment zu sagen. Ich dachte mir dabei, wie schwer sie auf den Backen meiner beiden Vettern lasten müßten! Nur die Tante Rätin lächelte mit gnädiger Freundlichkeit, streichelte mir das Kinn und sagte, ich sollte mich nicht zu sehr fürchten. Im übrigen, der Wahrheit die Ehre, war manche gute Seele unter den anderen Verwandten, die keinem ein Leides zufügte, und mir sogar dann und wann Naschwerk brachte, für die ich aber doch keine Neigung fassen konnte, denn ich sei ein wilder Bursch und gehöre gar nicht in die Familie, sagte die eine deutsche Tante und war mir doch von Herzen gut.

Der Pate Schlipalius drohte mir mit dem Finger, als unsere Blicke sich trafen, es sah aber nur zur Hälfte wie Ernst, zur anderen wie Schelmerei aus. Meinen Platz nahm ich bei meinen kleinen Kousins und Kousinen auf der Fensterbank, wohin mich die freundliche Stephanie winkte. Es waren gute, stille Kinder, mit denen ich recht gern zusammen war, nur nicht allzu lange. In früheren Zeiten verdarb ich ihnen das Spielzeug und sie weinten über mich, klagten aber nie bei den Eltern; in der letzten war ich ihnen zu wild, und sie mir zu zahm. Als ich mich einmal mit ihnen Zeck jagte, fiel die kleine Stephanie, von mir verfolgt, dergestalt an eine Schrankecke, daß sie eine dicke Beule auf acht Tage davon trug, und doch hatte der Fall für mich keine andere Folge, als daß die Tante Rätin drohend den Finger hob und sagte: Wenn ich so mit meiner kleinen Braut umspränge, werde sie nicht meine Frau sein wollen. Ich herzte und küßte sie, und alles war gut. Die Tante dachte, wie ich später erfuhr, im Ernst an eine Verbindung; mein Vater nannte das Kindereien, und meine Mutter schwieg. Sie schwieg zu allem, zu dem, was sie wünschte und was sie fürchtete. Für mich war ein Reitpferd ein weit interessanterer Gedanke als eine Braut, und schon der Haarzopf, der mir auf Pfingsten versprochen, hatte etwas viel mehr Lockendes. Aber wer schilt die Ränke der Diplomatie, wenn sich schon ähnliche Künste bei kaum neunjährigen Knaben zeigen! Heut setzte ich mich nicht ohne bewußte Absicht neben Stephanie und tat schön mit ihr. Ihre Mutter nickte freundlich dazu, und ich hoffte nun, wenn es zum ärgsten kam, auf ihre nicht ungewichtige Fürsprache.

Der Vater sah ruhiger aus, als ich es mir vorgestellt hatte. Die Hände auf dem Rücken stand er nicht weit von mir, und ich bekam manches von dem ab, was er mit dem Oheim Rat im Vertrauen sprach, während die Schokoladenbecher noch klappten, und die Mitteilungen der Gevatterinnen und Nachbarinnen in ein dumpfes Gesumme ausliefen.

»Sie haben mich falsch verstanden, Herr Schwager,« sagte der Rat. »Wenn die Familie interzedierte, so geschah das gegen die unziemlich dem Subjekte eingeräumten Rechte. Ist das nun einmal geschehen, kommen ganz andere Familienrücksichten zur Sprache.«

»Welche, Herr Rat, wenn ich fragen darf?«

»Man hat den Buben hineingelassen in die Familie, schlimm genug, daß man es hat, aber er ist nun einmal darin.« –

»Bis ich ihn ausstoße,« fiel mein Vater ein.

»Auch das hätte sich tun lassen, auch dagegen hätte ich nichts gehabt, aber mit Art. Mit Art läßt sich alles tun.«

»Das ist einmal meine Art so.«

»Sie hätten ihn aus Berlin fortschicken können. Dazu boten sich hundert Gelegenheiten und Vorwände. Ihn über die Grenze geschafft oder nach Preußen, es hätte nachher kein Mensch von ihm gesprochen. Nun, nachdem er uns allen die Schande gebracht hat, wollen Sie uns die Schande noch größer machen. Es wird ein Gerede werden in der Stadt, das bis in die königlichen Kollegia dringt. Man wird den Skandal der Familie zurechnen, man wird mich fragen –«

»Dann antworten der Königliche Rat, daß Sie nichts dazu getan, sintemalen ich allein Herr in meinem Hause und Vater in meiner Familie bin.«

So hatte ich den Vater noch nie gegen die Familie reden hören.

»Alles ganz gut, Herr Schwager,« bemerkte ängstlich der Oheim, der ihn vergeblich durch leises Sprechen nötigen wollte, auch seine Stimme zu mäßigen. »Hätte sich das nicht aber eben so gut mehr unter der Hand abtun lassen?«

»Nein!« rief der Vater, und ich sah die Adern ihm an der rechten Hand schwellen. »Dem Taugenichts und der Familie und der Stadt, und wer es hören will, will ich zeigen, daß ich kein weichherziger Vater, daß ich Herr über meinen Willen und meine Kinder bin. Ja, ich will es einmal! Gerade weil der Skandal publik geworden, soll er auch publik ausgehen. Dazu habe ich die werten Familienglieder invitiert nach alter, guter, deutscher Sitte, und wer nicht kommen wollte, konnte ja ausbleiben!«

Der Rat neigte sich mit dem frisch gepuderten Kopf hierhin und dorthin, als hätte er so manche Zweifel, die er doch nicht aussprechen wollte.

»Freilich die Familie –«

»Freut sich am Skandal,« fiel der Vater ein.

»Für die unserige muß ich dagegen protestieren, Herr Inspektor.«

»Und doch, Herr Rat, fehlt gerade von dero Familie keine Seele.«

Der Advokat grinste vernehmlich und nahm eine lange Prise; der Rat, als habe er nicht darauf gehört, zog an der langen Kette seiner Repetieruhr.

»Wie die Zeit verstreicht. Um zwölf Uhr versammelt sich das Kollegium.«

»Bis zwölf ist es abgetan,« bemerkte der Vater. »Wir warten nur auf den Inspektor.«

»Die Herren vom Joachimstal werden heut auch zu tun haben,« sagte der Oheim. »Warum verschoben wir es nicht wenigstens? Daß gerade an einem so wichtigen Tage die Familie zusammen mußte.«

»Für mich ist ein Tag so wichtig als der andere, wenn ich meine Pflicht tue,« rief der Vater, »selbst die neue Majestät soll mich darin nicht hindern. – Ist sie schon aus Rheinsberg eingetroffen?«

»Gewiß, gewiß. – Der Inspektor läßt auf sich warten,« wiederholte mein Oheim offiziös und ließ die Uhr repetieren.

»Die Herren denken vielleicht schon daran, daß eine neue Zeit kommt,« hub der Vater nach einer Pause an. »Nun, das ist etwas früh, der alte Herr hat sich kaum schlafen gelegt; man würde meinen, schicklichkeitshalber sollten sie doch traurig scheinen, bis er in der Gruft liegt. Aber das wird unserer Jugend zu lang. Hübsch schnell abgeworfen die alte, strenge Zucht, die Aufsicht ist fort. Ja, wir werden andere Zeiten bekommen, Herr Schwager. Die deutschen Männer aus der guten von ehemals können immer ihr Plätzchen hinterm Ofen bestellen. Der alte Dessauer soll gestern schon sehr bedenklich den Kopf geschüttelt haben. Für den wird auch keine Ehre mehr abfallen. Die bleibt den modischen Ausländern

Das Wort Ausländer war so betont, daß der Oheim Rat es nicht außer acht lassen konnte.

»Wenn wir in der Manierlichkeit durch die Ausländer auch etwas prosperieren könnten, sollten wir sie doch ja im Lande festhalten,« entgegnete er.

»Ich meine, Herr Schwager, sie werden sich halten lassen.«

»Es weiß ja noch niemand, was kommen wird,« sagte der Rat.

»Ich meine, wir können es raten. Unser magerer Sandboden, denk' ich, wird jetzt fett werden von Unrat. Die nichts zu beißen und zu brechen haben auswärts, werden zu uns laufen, wenn sie nur Verse machen können und einen Witz reißen über die Ehrbarkeit. Es wird ein sauberes Gesindel ins Land kommen. Berlin wird ein Magnet werden für alle schlechte Sippschaft. Alfanze und Tanzmeister kommen in den Geheimenrat, der brave deutsche Mann wird sich nicht tief genug bücken können und doch nichts abkriegen als Spott. Man wird einen Verdienstorden stiften für ungehorsame Söhne. Die Zucht- und Arbeitshäuser werden sich füllen, wenn man's noch der Mühe wert hält, für sie was auszugeben. Die schöne Armee, die das Königreich bei den Potentaten in Respekt hielt, sehe ich schon entlassen, denn für die Soldatenzucht soll der junge Herr so wenig Sinn haben als für Kirchenzucht und Ordnung. Die Akademie wird ins königliche Schloß logiert. Im Staatsrat wird man wohl Konzerte geben. Der Tag wird Nacht und die Nacht zum Tage von den lustigen feinen Gesellschaften. Ein ehrbarer Mann wird nicht mehr am Schloßplatz wohnen können, und der große Kurfürst auf der Brücke kann sich nur umkehren, weil er nicht mehr aufs Schloß wird sehen wollen. Ja, Herr Schwager, das sehe ich kommen: König Friedericus der Erste, gottseligen Andenkens, hat das Königreich Preußen gestiftet, und unter Friedericus dem anderen wird es in Schimpf und Schande untergehen.«

Den Rat durchzuckte die vehemente Äußerung. »Herr Schwager sind in einer irritierten Stimmung,« sagte er, während seine Augen mit dem Ausdruck des inneren Entsetzens umherforschten, wer die Blasphemie mit angehört haben könne.

»Kann sein!« sagte mein Vater.

»Sollten doch bedenken,« fuhr der Rat fort, »mit wem man sich unterhält; auch bedenken, daß der Kronprinz in letzten Tagen in löblichem Vernehmen mit der Majestät seines hochseligen Herrn Vaters standen.«

»Kann sein, kann sein, Herr Rat! Mancher Mann sieht durch eine schwarze Brille, aber doch darum geradeaus. Ich habe nicht gelernt anders sprechen als ich denke. O ich weiß, es hoffen bei uns viele, denen die alte Zucht ein Dorn im Auge war, auf die neue Sonne. Sie meinen, ein Kronprinz, der französische Bücher schrieb, habe einen guten Anfang gemacht zu einem deutschen Könige. Preußen wird ein Schlaraffenland werden. Die alten Vorurteile werden mit eins fortgeblasen sein und die Bauernknechte französisch reden, weil der junge König ein Philosoph ist. Ich meine aber, wir leben in einem armen Lande und mit dem bloßen Sonnenschein ist nichts getan. Ich meine wir sind nicht hier, um Melonen und Weintrauben zu ziehen, sondern mit unserer Hände Arbeit Korn zu säen zum täglichen Brote, nicht um zu singen und zu tanzen, sondern im Schweiße unseres Angesichts zu graben, pflügen, säen und dann zu ernten, was der liebe Gott in seiner Gnade beschert.«

»Worin Seine neue Majestät auch gewiß nichts ändern werden,« sagte der Rat mit feinem Lächeln. »Indessen,« setzte er hinzu, »mein lieber Inspektor, wir können doch nicht alle Bauern sein; wenn wir alle den Flegel in die Hand nähmen, wo bekämen wir dann unsere Inspektoren her! – Freilich, es könnte mancherlei anders werden, manche Bären wird man nötigen, ihre Pelze auszuziehen; aber keine Sorge, ich stehe Ihnen dafür, Herr Schwager, es werden noch Bären genug bleiben. Man wird der Kunst und Wissenschaft an der Spree vielleicht Tempel bauen, allein darum wird man doch in Teltow Rüben ziehen, und die Bauerntölpel werden noch nicht Flöte spielen.«

»Wenn wir aber einen König haben, der Flöte spielt und französische Verse macht, wie da, Herr Schwager, werden die europäischen Potentaten, die schon mit Neid unser Wachstum anschielten, denselben Respekt behalten, als da ein König, wie der Hochselige, seine siebzigtausend ihnen vorexerzierte?«

»Nun, wenn er auch gerade keinen zweiten Eugen verspricht, so gibt es doch in der Historie Beispiele von Manövern ohne Soldaten, von Schlachten, die man auf dem Papier liefert, von einer diplomatischen Strategie. Der junge König wird höfliche Agenten an die diversen Höfe schicken, durch Versicherung ferneren Wohlwollens alte Freunde zu erhalten, durch graziöse Komplimente andere, so ein böses Gesicht machen, zu gewinnen suchen. Da er ein feiner Mann ist, wird ihm das besser gelingen als dem Hochseligen, der mit etwas zu derber Sprache dreinfuhr. Seine geschmackvolle Neigung hat ihm schon als Kronprinz Freunde bei den einflußreichen Großen und schönen Geistern in Paris gemacht. Der Hof von Versailles wird ihn gewiß protegieren, und die von einigen Patrioten hier so absonderlich gefürchtete Regierung wird sonder merklichen Aufhebens und Skandal, mein werter Herr Inspektor, zu Ende kommen.«

Meines Vaters patriotisches Herz hatte zwar viele Furcht vor dem kaiserlichen Hofe, immer gaukelte ihm dunkel die Furcht vor, daß einmal ein zweiter Schwarzenberg über Nacht uns um unsere Selbständigkeit, den Protestantismus, oder Gott weiß was, bringen könne; aber er war doch mehr Deutscher als Preuße, und der Gedanke einer Protektion von Versailles mußte sein Innerstes empören.

»Amen!« rief er. »Gut, daß ich ein alter Mann bin und das Ende nicht zu erleben brauche. Bring' er's zu Ende und mit Ehren; ich will meine eigene Ehre. Die ist altmodisch, darum will ich sie für mich behalten. Mein Haus ist auch altmodisch, aber es hat eichene Türen und eiserne Beschläge dran; die sollen Zucht und Sitte verschließen.«

Ihr Gespräch wurde hier durch die allgemeine Aufmerksamkeit unterbrochen, mit der alle Köpfe sich nach der Tür drehten. »Er kommt,« hieß es, und man hörte mehrere Tritte die Treppe herauf.

»Wer kommt?« fragte es in mir und mein Herz schlug so stark, daß es meine Nachbarin erschreckte. Mein kleiner Verstand hatte sich längst sagen können, daß ich diesmal nicht der Verurteilte war, daß das ganze Gewicht des Familienzorns auf einem anderen lastete, ich konnte ahnen, wer der andere war, und doch, – der Himmel muß große Nachsicht haben mit der menschlichen Schwäche, ich konnte in dem Moment meine ungeheure Freude nicht vor mir selbst verbergen, daß es ein anderer war, und nicht ich.


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