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Drittes Kapitel.
Bruder Gottlieb

Der gute Bruder Gottlieb! – Ich habe ihn wenigstens nie anders genannt, denn gegen mich war er ein guter Bruder. Er schnitzte mir die ersten Haselstöcke zu Reitpferden, er brachte mir die Pfeife aus dem Rohr, er spielte Pferd mit mir und ließ mich immer Reiter sein. Es war nicht das erste Mal, daß er mir beigestanden hatte; mein bester Spielkamerad, den ich den mutigen Fritz nannte, gestand mir in einer vertrauten Stunde, sie würden mich arg gehänselt haben, als ich das erste Mal zu ihren Spielen gelassen wurde, weil ich ihnen so apart ausgesehen, so empfindlich und spielverderberisch, wenn nicht der starke Gottlieb dabei gestanden hätte. Sie hatten sich damals in mir geirrt, denn ich wurde bald der tollste unter ihnen. Wie manche dummen Streiche, die von mir ausgingen, wurden vom starken Gottlieb durchgeführt. Er sah mir die Lust an den Augen ab, und nie, wenn es herauskam, gab er jemand an. Wie höre ich noch des Vaters unbarmherzige Schläge, als er dem Paten einen langen Papierzopf angeheftet, und ich hatte es doch zuerst gewünscht! Bebend stand ich an der Tür und hatte nicht die Kraft, die Klinke aufzudrücken, nicht die Kraft, einen Laut zu äußern, nicht die Kraft, fortzugehen, und jeder Schlag drinnen traf mich mit. »Warum hast du's denn nicht gesagt!« fragte ich, seine Hand beim Herausgehen pressend. »Dummer Junge, du hättest ja geweint; antwortete er. Ich nahm mir seitdem vor, nie mehr zu weinen, ich konnte es aber nicht verlernen, so lange ich mit der Mutter zusammen war. Mit dem Paten Advokaten stand ich in offener Fehde, und doch schämte sich der Geizhals nicht, wo er Vorteil sah, die Dienste seines Feindes anzunehmen. Herr Schlipalius hatte einen Taubenschlag, und Gottliebs leidenschaftliches Vergnügen nach Knabenart war Zucht und Fang dieser Haustiere. Es war ihm oft gelungen, mit einem paar Locktauben andere einzufangen, eine Entführung, über die sich unsere Jugend kein Gewissen macht. Ist diese Art Taubenjagd ja durch ein altes Herkommen in der Stadt geheiligt.

Dem klugen Advokaten gefiel diese Eigenschaft meines Bruders und hatte er ihm deshalb die Aufsicht über seinen eigenen schönen Taubenschlag anvertraut. »Er solle alles tun, was ihm gut dünke für die hübschen Tiere,« lautete der offene Auftrag, dem er verstohlen hinzusetzte: »und alles, was sonst in den Hof käme, wenn's auch nicht dahin gehörte, nicht fortlassen, und den Taubenschlag hübsch mit ausschmücken.« – Gottlieb kam dem Befehl aufs Wort nach. Die Taubenwirtschaft des Herrn Paten war nie in so blühendem Zustande; der Bruder lockte und pfiff in jeder freien Stunde, und es war eine Pracht zu sehen, welche Schwärme bunt gefiederter, seltener Tauben gurrend heranflogen, wenn Herr Schlipalius mittags die Erbsen streute. Seine Freude ging so weit, daß er unserm Gottlieb eine tombackne Uhr versprach, wenn er – mündig geworden, was freilich noch etwas weit hin war. Seltsamerweise aber, während die Taubenwirtschaft florierte, ging es dem Advokaten auf dem Rathause schlecht, er versäumte einen Termin um den andern, ward kontumaziert, in Ordnungsstrafe genommen, und er wußte doch nichts von der Vorladung. Die Sache konnte nicht länger verborgen bleiben, der darüber vernommene Gerichtsbote hatte Zitationsdekrete einem jungen Menschen auf dem Hofe, der in Diensten des Advokaten stehe, eingehändigt, und Gottlieb hielt auch nicht mit der Wahrheit hinterm Berge. Er hatte mit den Dekreten die innere Wand des Taubenschlages sauber beklebt, und ihn so auf eine eigentümliche Weise austapezierend, hatten die Tauben den Vorteil von den Zitationen gehabt, daß die Witterung ihnen nichts anhatte, und Gottlieb hatte doch nichts anderes getan, als daß er »mit allem, was in den Hof kam, wenn es auch nicht dazu gehörte, den Taubenschlag hübsch ausgeschmückt.«

Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß diese buchstäbliche Auslegung ihm vor unserem Vater nichts half. Er hat mir nie ein Leid zugefügt, mir so oft durchgeholfen, so manche Züge sprechen von einem ursprünglich guten Herzen, daß ich geneigt sein muß, milder über seine Verirrungen zu denken, als unsere ganze Familie, auch die Sanfteren mitgerechnet.

Gottlieb galt für einen verlorenen Sohn, für einen, der eigentlich nicht mehr zur Familie gehöre. Einige Familienglieder rechneten die Kosten nach, die der Ungeratene verursacht, sie tadelten, daß der Vater ihn so lange in seinem Hause geduldet. Einiges Licht über ein Verhältnis, das dem Kinde natürlich nicht aufgeklärt wurde, kam mir durch einen Vorfall, welcher sich ungefähr ein Jahr früher ereignet hatte. Gottlieb kam damals wirklich aus dem Hause, und zwar als Alumnus oder Pensionär auf das Joachimsthalsche Gymnasium. Bei der Gelegenheit waren unsere mütterlichen Verwandten sehr aufgebracht. Wenn er den Buben eine Profession lernen ließe, so habe der Vater schon übergenug getan, hörte ich laut äußern. Ihn studieren lassen, sei Hochmut, eine Kränkung der Familie. Mein Oheim, der Rat, stellte deshalb einmal förmlich meine Mutter zur Rede, daß sie es zugegeben, er drohte, wenn sie zu schwach sei, werde die Familie einschreiten, und sie beruhigte kaum den erhitzten Bruder, indem sie ihm mit lebendigen Farben das Gerede und Aufsehen schilderte, welches unfehlbar entstehen würde, wenn der Sohn eines anständigen Hauses, wie er doch einmal erzogen worden, bei einem Meister in die Lehre trete. Sie fragte ihn, ob es ihm lieb sein würde, wenn Gottlieb, mit einem Ballen unterm Arm, oder ein Schurzfell vor, ihn auf offener Straße als Herrn Onkel begrüße? Dem trotzigen Burschen sei das nicht zu verbieten. Dem Oheim Rat leuchtete das ein, mir aber nicht einmal: wie man auch nur auf den Gedanken kommen konnte, meinen Bruder zum Handwerker zu machen. Denn hatte auch mein Vater oft das Sprichwort im Munde: »Handwerk hat goldenen Boden,« so war es mir doch immer wie eine Art Entehrung vorgestellt worden, wenn ich geäußert: ich wollte Tischler werden. »Schäme dich, du bist anständiger Leute Kind,« sagte die Mutter, und nun war es bei allen wie etwas sich von selbst Verstehendes, daß mein Bruder etwas werden sollte, was für mich eine Schande war! Meine Mutter antwortete mir ärgerlich, ich verstände es nicht, und ein Kind müsse nicht alles wissen. Dadurch wurde aber meine Neugier nur mehr gespannt, und ich kam oft sehr zur Unzeit mit Fragen heraus. Ich erfuhr denn doch, daß meine Mutter nicht Gottliebs Mutter war, und nun schloß ich weiter, daß Gottliebs Mutter eine schlechtere oder gemeinere Mutter gewesen sein müsse als meine. Denn sein Rock war von weit gröberem Zeug als meiner, er saß immer unten am Tisch und mußte zuweilen aufwarten; ja, er putzte dem Vater und mir die Schuhe und, was mir damals das Merkwürdigste war, – er bekam selten etwas von den feineren Gerichten ab. Ich platzte daher, als man einmal vom Stande sprach, mit der Frage heraus, ob denn der Sohn den Stand vom Vater bekäme, oder von der Mutter? Die Mutter wurde rot, der Vater aber sagte ernst: »Vom Vater. Doch was soll das, Etienne?« – »Warum ist denn Gottlieb weniger als ich, da Papa Gottliebs Vater und auch mein Vater ist?« Die Mutter griff schnell zum Schlüsselbund und entfernte sich, den Vater sah ich hier zum erstenmal auch verlegen, er schaute der Mutter nach und verbarg seine Verlegenheit in einem sehr zornigen Blicke. Mir ward angekündigt, wenn ich noch einmal so naseweis wäre, solle ich drei Tage nicht am Tische essen, und sonst hatte man doch immer meine Wißbegierde gelobt. Ich grübelte nur desto mehr, und kam darauf, daß mein Vater sich wohl der ersten Frau recht zu schämen habe, denn so groß unsere Familie war, es waren keine Verwandten darunter von Gottliebs Mutter.

Auch vom Gymnasium her kamen bald Klagen, Gottlieb sei faul und verführe seine Mitschüler. Der Herr Pate war der gewöhnliche Zwischenträger; doch mußte es wahr sein, denn zuweilen kam ein Herr Inspektor selbst ins Haus und berichtete dem Vater, der dann dem jungen Lehrer schonungslose Strenge anempfahl. »Einen breiten Rücken hat er zwar,« – hörte ich einmal den jungen Mann mit bedenklicher Miene antworten, – »aber ich unterstehe mich zu zweifeln, ob Prügel allein erziehen. Der Junge hat einen unruhigen Geist und Riesenglieder, wer weiß, ob ihn die Natur zum Studieren bestimmt hat.« – Da wurde mein Vater sehr zornig, der überhaupt das Wort Natur nicht leiden mochte. Er sagte, der Vater habe zu bestimmen und müsse wissen, was für den Sohn tauge und wofür der Sohn tauge. Die Eltern schon seien zu nachsichtig gegen ihre Kinder, was sollte aber aus der Erziehung werden, wenn fremde Lehrer noch weichherziger sein wollten? Nur die Strenge und die Furcht mache den Mann, und wehe der Nachkommenschaft, wenn die alte Zucht und Sitte nicht mehr mit eiserner Festigkeit gehandhabt werde. Er endigte damit, dem jungen Lehrer, der gegen den Vater einige Verbindlichkeiten hatte und daher es anhören mußte, vorzuwerfen, er gehöre zu den Neueren, er wäre lau in einem Amte, er bahne der Sünde und dem Laster den Weg und werde es dereinst vor Gott, wo nicht schon vor der Obrigkeit zu verantworten haben, wenn er nicht bald von seinen falschen Grundsätzen zurückkäme. Der junge Mensch mußte, wie gesagt, schweigen, von Bruder Gottlieb wurden aber die Nachrichten immer böser. Er stiftete Aufruhr, verhöhnte die Lehrer, preßte durch körperliche Übergewalt Schwächere zu seinen Komplotten, verkaufte seine Schulbücher und ging oft, was wir nennen: hinter die Schule. Dabei fehlte es denn nicht an wöchentlichen Zeugnissen, wie er dafür gezüchtigt worden, im Karzer gesessen, und es schien mir oft, als sei der Vater mehr über die abgemessene Richtigkeit der letzteren erfreut, als über jene Nachrichten betrübt.

Am ersten Weihnachtsfeiertage sollte er wieder bei uns essen, es war für uns alle ein Festtag, aber ein wie anderer Gottlieb kam zurück, als er von uns ausgezogen war. Er war mager geworden, eine trotzige Wildheit lag in seinem ganzen Wesen, ein verstocktes Lächeln schwebte um seinen Mund, und die Augen sagten, daß die Knabenunschuld unseres Gottlieb dahin sei. Er sprach wenig und schien sich nicht bei uns zu gefallen. Die gute Mutter war am meisten erschrocken und schrieb es der schlechten Kost an der Alumnatstafel oder dem Hunger im Karzer zu. Als er daher das nächste Mal wieder auf acht Tage eingesperrt saß, trug sie mir heimlich auf, Mittel und Wege ausfindig zu machen, ihm Eßwaren zukommen zu lassen. Diese Gelegenheit fand sich bei dem in Kriegslisten erprobten Geiste der Gymnasiasten sehr bald. Es gab einen gutwilligen Pedell, den einige Groschen blind und taub machten. Er sah und hörte nicht, daß man ihm ein Tuch mit geschmierten Semmeln an die Perücke band, und trug sie, ohne seine Dienstpflicht zu verletzen, dem Gefangenen zu. Auch gingen die vergitterten Karzerfenster im Bodengeschoß des alten Gebäudes auf die Burgstraße hinaus, und ich konnte in der Dämmerstunde an den Bindfaden, den Bruder Gottlieb auf ein verabredetes Zeichen herabließ, eine »Brotschrippe« binden, oder Äpfel von den Obstschiffen auf der Spree, für mein erspartes Taschengeld erstanden. Mit welcher Beruhigung legte ich mich nach einer solchen guten Tat zu Bette: Bruder Gottlieb brauchte doch nun die Nacht nicht hungern, und die Schläge, die ich empfing, als der Vater mich einmal dabei ertappte, schmerzten nicht wie sonst. Es war der erste Trotz des Märtyrertums. Auch schlug mich der Vater nie so stark wie den Bruder.

Nun hatte ich den Bruder Gottlieb schon recht lange nicht gesehen. Er zerrte mich hastig fort, daß ich kaum mit seinen langen Beinen Schritt halten konnte. »Hast du auch schon Lust, eine Prügelei anzufangen?« sagte er in dem rauhen Tone, der ihm seit einiger Zeit eigen war. »Da mußt du dir erst andere Knochen anschaffen, du bist doch noch ein Kind.« Das war ein Vorwurf, der mich mit jedem Jahre mehr verdroß. »Bruder Gottlieb!« antwortete ich ihm, »ich hätte nicht geschrien, wenn er mich nicht mit schwarzer Seife hätte reiben wollen.«

»Das wäre freilich ein Elend gewesen, wenn ein so vornehmer Junker gestunken hätte. Du spitzest dich wohl darauf, wenn du einen Hut mit einem Federbusch tragen wirst und einen Degen mit einem Klunker dran?«

So lieblos und rauh hatte er noch nie zu mir gesprochen. Ich warf es ihm vor.

»'s ist wahr,« sagte er, »du warst immer mein guter Bruder, du hieltest zu mir, du hast nichts mit den anderen gemein.« Es überkam etwas den Rohen auf einmal, daß er mir heftig die Hand preßte, das Gesicht aber wandte er ab, vielleicht war eine Träne auf den Wimpern: »Du würdest auf der Straße nicht hochmütig vorübergehen, du reichtest mir wohl noch die Hand und sprächst: Bruder, wie geht's dir? Aber sieh dich vor, Fritz, lange wird es auch nicht dauern, wenn du mit dem Geschmeiß zusammenbleibst. Das Vornehmtun steckt an.«

»Ich werde immer dein Bruder sein,« sagte ich.

Er schüttelte den Kopf und setzte sich auf einen Stein am Lustgarten. »Weil du's nicht verstehst,« sprach er, »ich bin ja nicht dein Bruder, ich bin ja nur ein Bankert.«

So wirrisch hatte er schon oft geredet; was ich aber nicht deutlich verstand, konnte mich auch nicht stören. Ich sprach ihm von der Mutter, wie gut sie's mit ihm meine, wie oft sie in Tränen gesessen, wenn der Vater ihn geprügelt.

»Verstellung!« rief er. »Sie ist ein Weib und wie alle die von ihrer Sippschaft. Wenn ich mir einmal den Schnee nicht ordentlich von den Sohlen abtrat, und was von auf die Decke kam, fing sie ja gleich ein Leben an; und sie brauchte nur einen schiefen Mund zu machen, so schlug der Vater los. Du kannst mir's glauben, Fritz, er steckt doch im Grunde unter dem Pantoffel, wenn sie auch noch so weich tut und lamentiert, und hinter ihr steckt die ganze Familie, und was das Volk will, muß der Vater tun, weil er einmal reingeheiratet hat. Sie rechnen ihm jeden Groschen an, den sie mitgebracht hat, und jedes Stück Silber, das sie haben, da soll er eigentlich den Hut vor abziehen, und wäre dein Onkel dazumal schon Rat gewesen, er hätte sie gar nicht gekriegt. Es täte not, daß der Papa alle Sonntage bei der Sippschaft rumginge und jedem die Hand küßte, daß sie sie ihm nur zur Frau gegeben haben. Meinethalben, ich habe nichts mehr mit dem Volke zu tun, und wenn du nicht ein so guter Junge wärst und so halb und halb mein Bruder, bloß weil du Etienne heißest, könnte ich dich packen und in den Kupfergraben werfen!«

Jetzt ward ich erst inne, in welchem Zustande der Erhitzung Gottlieb sich befand. Ich machte ihn darauf aufmerksam, und daß die Abendluft kühl ginge, er solle sich das Hemd zumachen und das Halstuch fester umbinden. Er lachte mich aus.

»Ich bin ja kein feiner Herr nicht, und für unsereins braucht nicht so gesorgt zu werden. Habe mir etwas Luft gemacht draußen in der Hasenheide. – Was siehst du mich so bedenklich an, Fritz Hasenfuß? Courage, ich hab' einen Schnaps getrunken. Siehst du's mir an, Junker? Ja, das ist nun mal geschehen, am ›düsteren Keller‹. Lauf, was du laufen kannst, Etienne; bin schlechte Gesellschaft für dich.«

Branntweintrinken war mir von der Mutter als das äußerste Maß irdischer Gottlosigkeit vorgestellt worden. Dem Herrn Paten Advokaten wurde wohl des Morgens ein Glas Likör präsentiert, das trank er aber nur für seine Gesundheit. Unseren betrunkenen Küster hatte ich einmal vor Vaters Haustür gesehen im Rinnstein liegen und ihn fluchen gehört auf die Leute, die ihn forttragen wollten. Das Bild hatte mehr gewirkt als alle Vorstellungen meiner Mutter. Und nun trank Gottlieb auch Branntwein! Jetzt erst fiel mir ein, was sie damit sagen wollten, als sie ihn einen verlorenen Sohn nannten. Ich sah ihn schon von der Bank fallen, im Rinnstein liegen, gegen die Bürger losschlagen: Ich umfaßte ihn und bat ihn mit Tränen im Auge so sehr, nicht mehr Branntwein zu trinken.

»Sei ohne Sorge, ich habe keinen Dreier mehr in der Tasche. Es verpustet bald. 's ist auch im Grunde nur die Erhitzung von draußen. Es setzte eine arge Schlägerei da. Laß uns nicht von sprechen, sie werden doch Lebens genug von machen.«

Ich fragte ihn, ob er denn Erlaubnis erhalten, heute nachmittags vors Tor zu gehen?

»Wenn sie uns nicht geben, muß man sich nehmen. Wird so bald damit aus sein. Wenn mich der Vater nicht losläßt, laufe ich fort. Ich habe die alte schweinslederne Grammatik durchgeackert von dem großen roten Buchstaben vorn bis auf den pausbackigen Engel hinten und habe sie nun dick. Alles kauderwelsch; damit fängt man keinen Vogel. Der alte Professor mit der ungepuderten Perücke versteht's auch nicht besser, und wenn man ihn fragt und aus dem Text bringt, wird er rot und wild und nennt uns naseweis. Ich mag nicht ein solcher roter Federfuchs werden, und einen Priesterrock ziehe ich auch nicht an, weiß oder schwarz. Ich will nicht studieren und will sehen, wer mich dazu zwingen tun kann. Der Vater hat auch nicht studiert, sein Vater auch nicht, was soll ich's denn ausbaden? Ein Gelehrter ist nie ein ganzer Kerl, hat der König selbst gesagt; darum nur sperren sie mich ein, sie wollen mich immer am Gängelband haben und keinen Mann aus mir machen, sondern einen Hund, der ihnen apportiert. Ich will's ihnen aber beweisen, daß man selbst wollen muß. Warum geben sie mich nicht zu einem Förster in den Wald, da hätt' ich hingehört. Hinter dem alten Könige drein, Wetter, wie hätt' ich wollen über Stock und Block peitschen, die Sau hetzen, ihr das Messer an die Gurgel halten, und ›Vivat der König!‹ hätt' ich geschrien aus voller Kehle, wenn die alte Majestät einen Keiler niederstach. Bersten vor Ärger hätten deine französischen Tanten sollen, wenn ich hinter ihm zu Pferde, in einem langen grünen Rock mit breiten Tressen in Berlin einritt; das gönnen sie mir nicht. Das war's, du kannst mir's glauben.«

Ich wußte wohl von Gottliebs Lust, Jäger zu werden. Der strenge Vater hatte ihm aber eine adlige Equipage gezeigt und gesagt, wenn er das noch einmal wünsche, solle er ein solcher Jäger werden, das heißt einer, der nicht hinter dem König reitet, sondern hinter einer Herrschaft auf dem Wagentritt steht. Immer das Gegenteil von dem zu tun, was wir Kinder wünschten, hielt er für Pflicht. Wenn man ihnen verrät, daß ihr Wille den rechten Weg gehen kann, hört die Erziehung auf, äußerte er häufig zu Oheim Rat, und so streng befolgte er diesen Grundsatz, daß er zuweilen gegen seine eigene Überzeugung handelte, wenn sie zufällig mit dem ephemeren Willen seiner Kinder übereinstimmte. Was konnte er Vernünftiges gegen Bruder Gottliebs Wunsch haben? Hätte er den starken Knaben, der zum Studieren so wenig Lust verriet, zu einem Förster gegeben, wer weiß, ob er nicht ein ehrenwerter Mann und Bürger geworden wäre. Ich bat ihn jetzt dringend, nicht an so böse Dinge zu denken und wieder ins Gymnasium zurückzukehren, ich wollte nichts zu Hause von merken lassen, daß ich ihn hier gesehen und gesprochen.

»Du guter Junge!« sagte er und verbarg das Gesicht in beiden Händen, wie über etwas nachdenkend: »Ich hatte mir vorgenommen, gar nicht mehr zurückzukehren.«

»Bruder Gottlieb!« schrie ich und fiel ihm um den Hals, »du willst doch nicht durchgehen? Tue das nicht. Ich will dir alles tun, was du willst, ich will bei der Mutter bitten, mit der Mutter beim Vater. Du weißt, wie gut mir der Onkel Rat ist. Sie sollen alle den Vater bitten, daß er dich fortnimmt und in den Wald schickt.«

Er lächelte finster: »Da meinst du, es helfe was? Ja, wenn ich's nicht wäre.« –

»Du hast mich heute losgemacht, das werde ich dir im Leben nicht vergessen,« fuhr ich fort. »Du hast mir immer durchgeholfen, so manchmal, wenn es nahe dran war, hast du die Strafe auf dich genommen, Gottlieb, liebster Gottlieb, verlaß uns nicht.«

Es muß doch etwas in meinem Tone gelegen haben, das ihn rührte, meine Gründe hätten es vermutlich nicht getan. Aber sein Entschluß schien hin.

»Es bleibt doch nicht, Fritz. Es muß einmal brechen, so oder so. 's ist nur auf die lange Bank geschoben; denn sitzen bleib' ich nicht. Ich fange an, oder sie. Sie wollen's mit mir zu arg treiben, da sollen sie aber auch sehen, wer ich bin. – Ich bin müde, gute Nacht, Fritz, wer weiß, wann wir uns wiedersehen.«

Ich hoffte, daß es recht bald sein möge, und dankte ihm noch einmal für seinen großen Dienst, und dieser Dank kam wärmer heraus, als alles vorher. Denn unbeschadet meiner brüderlichen Teilnahme, war doch der Gedanke, daß ich ohne ihn eingeseift nach Hause hätte gehen müssen, viel schrecklicher als alle Strenge oder Ungerechtigkeit gegen den armen Gottlieb.

Er gab mir einen herzhaften Kuß: »Das versprich mir, Fritz,« sagte er, »wenn du mal ein großer Herr und ich Gott weiß was bin, schäm' dich nicht, wenn ich dich dann Fritz anrede. Denn wenn ich dich Etienne heißen muß, so bist du nicht mehr mein Bruder.«

Ich bin nämlich, außer Etienne und einigen anderen französischen Kalendernamen, auch Friedrich getauft, meinem Vater oder dem Königshause zu Ehren. In der Familie aber wurde ich nie so gerufen.

»Aber du,« sagte Gottlieb im Scheiden, »mach', daß du nach Hause kommst, denn bei dir wär's zu früh, wenn du ihnen so antworten wolltest wie ich. Laß dich nur nicht sehen vor dem Paten, und wenn sie von deinem Streich schon erfahren haben, so steck' dich hinter die Mutter.«

Er ging langsamen Schritts über den Lustgarten der Friedrichsbrücke zu. Es war dunkle Nacht geworden. Ein sanfter Regen fiel herab und ein ferner Donner verkündete ein heranziehendes Gewitter, aber noch immer war Bewegung auf den Straßen, Militärpatrouillen marschierten, Reiter mit Fackeln sprengten über die Brücke, und an den Fenstern des großen Schlosses und in den meisten Häusern war Licht. So machte ich mich auf den Rückweg nach Hause.


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