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Erstes Buch.
Die Knabenwelt


Erstes Kapitel.
Der junge Adler

D Die Erinnerungen aus meinen Kinderjahren reichen weit zurück. Ich habe keine frohe Jugendzeit verlebt; gerade daher prägten sich aber vielleicht gewisse Vorfälle mir lebendiger ein, als bei anderen, deren Jugend auf hergebrachte Weise, ohne tiefere Schmerzen, ohne ernstere Sorgen verstrich. Mitten aus dem Kreise meiner Kinderspiele wuchs, wie ein geharnischter Riese, mein Schicksal auf, und während ich noch mit einer Puppe, einem Schneemann, den ich selbst gemacht, zu spielen wähnte, hatte mich seine eiserne Hand gefaßt und den Knaben hinaus geschleudert aus dem Vaterhause in den Strudel des Lebens, wo er noch heut, ohne Aussicht auf einen Hafen, umherwogt. Denn dies selbe geheimnisvolle Schicksal hat die Küste, wo er seine Heimat glaubte, wieder verrückt, versenkt; sie glänzt ihm wie eine Fata Morgana bald hier, bald dort entgegen, noch aber war alles Meeresschaum und Nebel. Besonders deutlich entsinne ich mich eines Vorfalls aus meinem neunten Jahre, gewiß mit um deshalb so deutlich, weil ich in dem an sich unbedeutenden Ereignis den ersten Quell zu der seltsamen Wendung meiner Lebens- und Erziehungs-Geschichte suchen muß.

Als wäre es heute erst geschehen, so sehe ich noch die Straße, die Häuser, die Gesichter, die aus den Fenstern blickten, die rauchenden Schornsteine, ich getraue mich, die Pflastersteine wieder zu erkennen, auf denen ich und meine Gespielen gesessen, und es ist jetzt, wo ich dies schreibe, doch schon gegen zwanzig Jahre her. – Es war eine der Straßen von Berlin, welche erst unter dem vorigen Regenten fertig gebaut worden; noch hatte alles den Anstrich des Neuen und kaum Vollendeten, eine Betrachtung, die aber natürlich dem achtjährigen Knaben nicht in den Sinn kam. Ich freute mich nur, daß die Frühlingssonne schön und warm über die hohen Dächer schien, und da es mir nicht erlaubt war, mit meinen glücklichen Altersgenossen ins Freie zu gehen, war ich schon zufrieden, daß die Straße so breit war, und keine Schulbank darin stand, und keine Rute hinter dem Spiegel vorblickte. Je stiller es in unserem dunkeln Hause zuging, um so mehr überließ ich mich hier einer ungemessenen Lustigkeit, und so viel ich mich erinnere, standen meine Kameraden mir darin redlich bei. Wir spielten Murmel, eine beliebte Lustbarkeit von alters her bei unserer Schuljugend. Sobald der Sonnenschein den letzten Schnee von den Straßen geschmolzen, sieht man die Knaben auf den Bürgersteigen, die Schulbücher beiseite geworfen, lagern, und jeder holt seinen Reichtum von kleinen Marmorkugeln aus den Taschen, um der ersten Spielwut zu fröhnen. Man gräbt Löcher, wozu man sich allenfalls erlaubt, einen Pflasterstein auszureißen und sucht aus einer gewissen Entfernung seinen Murmel in die Vertiefung rollen zu lassen. Auf das strengste wird der Spieler beobachtet, um den Gewinn einiger Kügelchen oft Angstschweiß vergossen, wie an den grünen Tischen, wo Rittergüter auf dem gebogenen Pique-As schweben. Es herrscht eine Totenstille, die Erwartung harrt auf den Lippen, im starren Blicke, und erst wenn ein glücklicher Wurf entscheidet, bricht der lang verhaltene Knabenaffekt los, der sich dann nicht immer mit Schimpfreden begnügte. Nicht selten kam es zu jenen kleinen Kriegen, die alle Lustigkeit beenden und doch auch wieder die Würze derselben werden. An einer gewonnenen Schlacht schwelgte unsere Erinnerung länger, als die empfangenen Schläge schmerzten, und die ersten Freundschaften stifteten sich zwischen solchen, die sich wacker beigestanden hatten. Der Knabenhaß gegen einen solchen Schlagetot, von dem ich oder mein Freund blaue Flecke aufzuweisen hatte, wurde dagegen mit einem Ernst gehegt, der mich heut an die Sprache unserer Manifeste erinnert. Ich hatte von meinem älteren Bruder die Lehre erhalten, nie etwas auf mir sitzen zu lassen. »Wenn du einmal eine Memme bist, hören sie nie auf, dich zu necken!« und ich fürchte, ich bin dieser Weisung zu sehr in meinem Leben gefolgt. Der lange Schlagetot bekam es zu seiner Zeit richtig wieder, doch zu unser beider Vorteil, denn Haß und Groll wurden mit den Schlägen ausgeschüttet, und wir desto bessere Freunde für eine andere Gelegenheit. Nur wer angab, bei Lehrern oder Eltern, mit dem war kein Friede nach unserem Völkerrecht zu schließen.

So war auch diesmal Welt und Berlin, Schule und Straße über das Spiel vergessen, und die Aufmerksamkeit auf die Murmel ließ uns übersehen, was dicht um uns vorging. Wenn ich es Ihnen bis auf die Reden der Personen getreuer wieder berichte, als man glauben könnte, da Seele und Auge auf dem Pflaster und bei meinen Marmorkugeln war, so mögen die Gläubigen immer an einen magischen Einfluß denken, wenn ihnen nicht die einfache Erklärung genügt, daß ich manches, was ich hier erzähle, später selbst erzählen hörte.

Aus allen Nachbarhäusern waren die Leute zusammengetreten, die Vorübergehenden stehen geblieben, und aus den geöffneten Fenstern blickten Hauben und Frisuren, wobei ich bemerken muß, daß Anno 1740 die Zahl der Müßiggänger sehr gering in Berlin war. Es galt für eine Matrone, von einem unverheirateten Frauenzimmer gar nicht zu reden, als keine gute Sitte, wenn sie sich ohne Strickstrumpf am Fenster zeigte, und die Männer wurden damals noch durch andere Rücksichten als die des eigenen Nutzens zur Tätigkeit, ja zu einer gewissen Affektation derselben genötigt. Ich erinnere mich nie, einen müßigen Spaziergänger auf der Straße gesehen zu haben; alles nahm den Schein äußerster Beschäftigung an, man trug gern etwas unter dem Arm und in der Gegend des königlichen Schlosses sah man die Männer mehr laufen als gehen, soweit dies die Gravität der Zeit erlaubte. Denn allzu gefährlich war es, dem alternden Könige zu begegnen, wenn ihn etwa die üble Laune trieb, einen, der ihm auffiel, heranzuwinken und ein Examen mit ihm anzustellen. Wer nicht bestand, wer geckenhafter gekleidet war, als es ihm erlaubt schien und keine nützliche Beschäftigung nachzuweisen wußte, hatte eine üble Behandlung zu fürchten, wovor ihn Stand und Familienrücksichten am wenigsten schützten. Wußten doch alle, wie es in der eigenen Familie des Königs aussah. Der Charakter der Ehrbarkeit, schon angeimpft unserem protestantischen Vaterlande, trat daher besonders in Berlin heraus. Die Fröhlichkeit war auf ebenso derbe Lustbarkeiten und Späße verwiesen und durfte sich nicht außer der ihr angewiesenen Zeit und außerhalb der für sie bestimmten Orte zur Schau stellen. Die Straßen waren still, die Fenster oft mit Jalousien geschlossen und um die Nähe des kriegerischen Lustgartens ließen sich nur die Einwohner sehen, deren Geschäft es unumgänglich notwendig machte, oder für die es ebenso wenig gut war, wenn sie der Monarch vermißte. Denn die bewunderungswürdige Kontrolle, welche durch Friedrich jetzt in den preußischen Ländern eingeführt ist, kann nicht so genau sein, als es der hochselige König gegen seine Umgebungen war, wobei ihn ein erstaunenswürdiges Gedächtnis unterstützte. Singen und Lachen auf der Straße gehörten daher zu den Seltenheiten, und wenn es die Laune des Fürsten einmal wollte, konnte man merken, daß der Jubel nur erzwungen, immer mit einer Art Peinlichkeit vermischt war.

Um so auffallender war das Zusammentreten an der Ecke der Jägerstraße. Mehrere mögen stehen geblieben sein aus keinem anderen Grunde, als weil sie andere auch stehen sahen. Man meint, dies liege seit uralter Zeit im Charakter der Berliner. Ein Perückier, den wir Kinder nur gewohnt waren, treppauf treppab laufen zu sehen, für uns der Repräsentant eines Perpetuum mobile, hielt inne, zwei Tischlerburschen, welche einen Sarg trugen, ließen ihn mitten auf dem Straßendamm nieder, und es hätte nur gefehlt, daß auch ein Leichenzug still gestanden wäre, um seinem Toten noch dies überirdische Schauspiel zu zeigen, das meinen Zuhörern vielleicht sehr gleichgültig dünkt, welches aber, und nicht allein bei unseren Köchinnen und Ammen ein großes Aufsehen erregte und Stoff zu vielem Nachdenken gab. Die Sonne war so tief herabgesunken, daß ihre Strahlen, abgeschnitten von scharfen Dächern, nur noch den oberen Teil des Horizontes glänzend durchleuchteten. Man konnte die Schicht zwischen Schatten und Licht in der Luft wahrnehmen, und der erhellte Teil glühte ganz ungewöhnlich für einen nordischen Himmel. Die tiefe Röte am zweiten Stockwerk des Fürstenhauses lockte aus den Fensterscheiben Goldfeuer und Scharlachflammen, und das königliche Schloß dünkte an dem Abende, während die unteren Stockwerke in Schatten, Nacht und Asche versanken, in seinen oberen Teilen wie ein Feenschloß aus Luft und Feuerstoff gewebt. Die steigende Dunkelheit riß zwar Zoll um Zoll von diesem Gebäude aus Flammenguß an sich, aber das luftige Bild, wie es damals die Sinne empfangen, steht noch heute vor meiner Phantasie.

Die Blicke unserer guten Nachbarn gingen weit höher, denn sie verfolgten eine Flucht, die ich anfänglich für Tauben hielt. Aber sie stiegen zu hoch und kühn, und als sie in rascher Wendung wieder herabstürzten, und das helle Sonnenlicht ihr dunkles Gefieder beschien, ward ich meines Irrtums inne. Es waren Raubvögel in großer Zahl und unter ihnen, eine seltene Erscheinung für unsere flache Gegend, ein junger Steinadler, der eben erst flügge geworden sein mochte. Sie kreisten bald in den höchsten Lufträumen, dem Auge kaum erkennbar als schwarze Punkte, bald schossen sie bis da hinab, wo Licht und Schatten sich trennten, und die Sonne glänzte von den schwarzen Federn des schönen Adlers und dem bunten Gefieder der Habichte, Falken oder Reiher. Sie kamen so nahe an die Dächer, daß man ihre feurigen Augen, ihre gebogenen Schnäbel, die zusammengezogenen Krallen deutlich sehen konnte. Gekreisch und Gekrächz und die herabstäubenden Federn zeugten von dem effektiven Kriegszustande in den Lüften. Die alten heimischen Raubvögel machten sichtbar Jagd auf den fremden Eindringling in ihre Regionen, in ihre bis da unangefochtenen Rechte. Es muß für den Unbefangenen ein eigener Anblick gewesen sein, die Stillen und Fleißigen, die selten ihre Blicke von der Arbeit und der Erde aufrichteten, mit emporgereckten Hälsen in den Horizont gaffen zu sehen, und Habicht, Falke und Adler taten ihnen den Gefallen, ungefähr auf das Fleckchen Horizont über unserer Straße ihr Kreisen zu beschränken. Ich glaube, man sah eine halbe Stunde mit immer steigender, immer lebhafterer Teilnahme dem Spiele zu, und Ausrufungen, wie »Jetzt, jetzt« – »Nein, noch nicht!« tönten durch die Menge, um lautloser Stille Platz zu machen.

»Nun ist's um ihn geschehen,« rief der Hufschmied, dessen Ambos in seiner Schmiede an der Ecke zu meiner Mutter Verdruß vom frühen Morgen bis in die späte Nacht nicht ruhen wollte, und es klang zwischen Wehmut und Verdruß in des rauhen Mannes Kehle.

»Ja, jetzt haben sie ihn,« setzte ein anderer bedauernd hinzu, »Wie kann auch ein einzeln Tier gegen solche Hetze sich wehren?«

»Wenn's eine Eule wäre!« sagte ein alter Jäger. »Aber wißt ihr, was ein Adler ist! Sie haben einen Adler aufgescheucht.«

»Oder ein Adler sie,« warf der vierte ein.

»Das ist egal, er muß ihnen nicht ins Revier kommen,« bemerkte eine mir nur zu wohlbekannte Stimme, von der ich leider noch oft zu reden genötigt sein werde.

Aber alle Einzelreden verstummten jetzt vor der bangen, steigenden, aufs äußerste gespannten Erwartung, denn wie ein Bienenschwarm zusammengedrängt, kreisend und wirbelnd um einen Punkt, schoß das ganze Volk geflügelter Unholde herab. »Ist das Tollheit im Vogelreiche!« murmelte der Jäger. Es stäubte von Federn um die Kämpfenden. »Das war ein Blutstropfen!« rief ein anderer. »Der hat's weg,« jauchzten die Jüngeren. Ein Habicht getroffen und gelähmt, flatterte herab und ließ sich auf einer Dachrinne nieder. »Daß ich eine Flinte hätte!« rief der Jäger. Aber die spießbürgerlichen Beobachtungen des ätherischen Schauspiels sollten auf eine seltsame Weise ein Ende nehmen. Wer hätte den Gedanken träumen mögen, gute Berliner Bürger mitten in ihrer Residenz in Furcht vor Raubvögeln! Aber so blitzartig schoß die Brut herab, daß die meisten sich unwillkürlich bückten, ja sie griffen an die Perücken. Mir ist, als höre ich noch das Wehen seiner Fittiche. Der Adler hatte seinen Verfolgern einen Vorsprung abgewonnen, und diese, in Schuß geraten und jetzt eingeschüchtert durch die Nähe der Menschen, stoben auseinander. Der Adler war gerettet. Als befinde er sich unter den Seinen, als verstehe es sich von selbst, daß keine Hand das königliche Tier berühren könne, so war er mit einer majestätischen Ruhe an den Köpfen fortgeschwebt! Wie er nun aber wieder aufstieg in schönen kühnen Kreisen frisch und kräftig, als schüttele er die Drangsale ab, und seine stolzen Flügel in den letzten Sonnenstrahlen wiegte, brach eine unwillkürliche Lust aus den hundert und aberhundert Kehlen. Ein Triumphgesang ihm nachgesandt und ein schallendes Gelächter; ein Spottlied den Habichten, die zu spät dumpf krächzend ihm folgten. Andere haben das seltene Phänomen nachher auf den Zinnen des Schlosses sitzen gesehen, wo er, vom letzten Strahl der untergehenden Sonne beschienen, seine Flügel lüftete und sorglos das Gevögel um sich kreisen ließ. Zur Erklärung der seltsamen Erscheinung wollten einige ein solches Tier auf den Müggelbergen bei Köpnick, andere mehrere Adler aus den Rauenschen Bergen bei Fürstenwalde gesehen haben, wodurch indessen das Wunder, wenn es eins ist, noch nicht erklärt wird, indem auf beiden Hügeln keine Steinadler nisten.

Ich kann Ihnen auf das genaueste angeben, wie der Erzähler dieses Vorfalls demselben beigewohnt hat, und es mag mit dieser zufällige Umstand sein, welcher mir die Erinnerung so äußerst lebendig erhalten hat. Einem holländischen Maler nämlich, die einzige Art von Künstlern, welche des hochseligen Königs Vorliebe für Holland in Berlin duldete, war meine Figur ausgefallen, und er hatte sie von seinem Fenster aus schnell skizziert. So sah ich mich denn später, als ich zufällig des Malers Bekanntschaft machte, auf einem Jagdstück von seiner Erfindung: auf den Knien sitzend, die Hände schlaff vor mir im Schoß: und mit offenem Maule verfolgt der verwunderte Knabe einen Falken oder Adler, der der Sonne zufliegt. Wiewohl ich, als eine getreue Kopie der Natur, das Beste am Bilde meines Malers sein mochte, der nicht bei Rembrandt in die Schule gegangen war, konnte sich doch meine Eitelkeit wenig geschmeichelt fühlen, indem unser Apelles in boshafter Unschuld meinem Gesicht den frappantesten Ausdruck der Dummheit gegeben hatte. Indes meinte er, es sei eine große Ehre für mich, auf einem Jagdstück konterfeit zu sein, wo der hochselige König in eigener Person und zwar zu Pferde abgeschildert stehe, wie er vom Wusterhausener Schloß auf die Schnepfenjagd zieht. Obgleich auf diesem kostbaren Stück drei Genien mit Posaunen über dem Tressenhute des Königs schwebten, wollte der Sohn des abgeschilderten Monarchen es doch nicht kaufen, und mein armer Schelm von Maler verließ nach seines königlichen Mäcens Tode Berlin kopfschüttelnd und allen Leuten versichernd: nun sei es mit der Kunst im Preußischen aus.

Wie der Holländer mich gemalt, saß ich und gaffte noch immer in den leeren Raum, wo der verschwundene Adler geschwebt, als ein Spielgenosse mich aufrüttelte. »Du bist dran.« Meine Phantasie aus den Wolkenräumen sammelte sich schnell zu der Entscheidung auf platter Erde. Ein großer Gewinn hing von meinem nächsten Wurfe ab. Adler und Habichte waren vergessen, als der Murmel aus meinen Fingern glitt und meine Kameraden mit weit aufgerissenen Augen die rollende Kugel verfolgten. »Er geht hinein,« schrie es, und die ganze kleine Genossenschaft fiel mit den Vorleibern vor, die Hände auf dem Pflaster. Er wäre auch hineingerollt und ich der Sieger des Abends geblieben, wäre nicht im entscheidenden Moment ein grober Schnallenschuh dazwischen getreten. Die Kugel berührte die rindslederne Sohle, prallte ab, und das Spiel war nicht gewonnen. Ein lautes O weh! ein unwillkürliches Aufjauchzen! Doch sei es zur Ehre meiner Kameraden gesagt, ihr Jubel verstummte im Augenblick, sie schämten sich. Allein ein heiseres Hohngelächter und der unbewegliche Fuß sagten mir, daß hier von keinem Zufall die Rede war. Erbittert, meiner selbst nicht mächtig, griff ich nach den Murmeln neben mir, sie dem Spielverderber an den Kopf zu werfen. Ich weiß nicht, ob ich es ausgeführt, wenn ein anderer vor mir gestanden, als der vor mir stand; aber wie kühlte sich schnell mein hitziges Blut, wie lahmte die Sehne des Arms und wie preßte meine kleine Hand die drei Marmorkügelchen, als gelte es, sie in ein Stück zusammenzudrücken, als ich einen Mann vor mir sah, den ich unter allen Männern am mindesten gern sah.

»Schmeißen, Patron?« sagte die hagere Gestalt im kurzen Advokatenmantel und legte die langen Arme auf den Rücken, als erwarte sie nicht ungern das straffällige Attentat, während es sie doch nur eine Handbewegung gekostet, meinen bewaffneten Arm festzuhalten. Meine Bestürzung freute ihn. Er holte die eine Hand langsam vor und strich sich wohlgefällig über das ungeheure Kinn seines olivenfarbenen, langen Gesichts. »Warum schmeißen wir denn nicht zu, Patron, wir machen unserem Verwandten und Paten noch nicht genug Ehre?«

Mit seinen dürren, langen Fingern klopfte er mir auf die geschlossene Hand und die Kugeln, ich weiß nicht, ob vor Schmerz oder Ekel, fielen heraus. Er hob sie grinsend auf und wie ein gefundenes corpus delicti glitten sie in des Advokaten Westentasche. »Also die waren mir von meinem sauberen Paten bestimmt. Ich werde das zu seiner Zeit dem Herrn Papa und der Frau Mama referieren, und Erkundigung einziehen, ob sie dazu alle Sonnabend das schwere Taschengeld hergeben, daß der Herr Patron Steinkugeln sich kauft, um damit anständige Leute, Honoratiores, zu werfen, zu schmeißen, zu insultieren. – Wir sitzen wohl schon recht lange hier bei der noblen Vergnügung? Auf dem Wege, ein Straßenjunge zu werden! – Ist ja eine scharmante gute Aussicht bei der Erziehung. – Werden es bald soweit gebracht haben, wie unser Taugenichts von Bruder. – Und die Hosen, die Stiefeln, wie sieht das aus! – Freilich, wer den lieben, langen Tag auf dem Straßenpflaster rutscht, da sind Ellbogen und Knie bald durch, die Spitzen von den Schuhen kommen nach. – Herr Vater und Frau Mama können nur immer neue machen lassen, das würde uns gefallen. – Nicht wahr?«

Es ist schwer zu sagen, ob der gedehnte, schneidende Ton des Herrn Paten widerwärtiger war oder sein persönlicher Anblick. Mein Vater war ein mehr als strenger Mann. Er hatte uns gewöhnt, ihn nur mit Zittern anzusehen, ich habe nie ein freundliches Wort von ihm gehört, nie einen väterlichen Blick erhascht, es lag in seinen Grundsätzen, uns nur durch die Furcht zu erziehen, die Liebe hielt er nicht für nötig. Dennoch war seine herbe Erscheinung für mich eine Wohltat, wenn ich sie mit der des Herrn Paten verglich. Ich will Sie nicht mit den stechenden Redefloskeln des Mannes ermüden, welche um so bitterer herauskamen, je mehr er sah, daß wir uns vor ihm fürchteten: aber Sie erlauben mir eine kurze Schilderung von einem Manne, der nicht wenig zur Verbitterung meiner Kinderjahre beigetragen hat.

Advokat Schlipalius gehörte zu unseren Verwandten. Wie nahe er es eigentlich war, kann ich nicht angeben; man verfährt in Deutschland bei der Vetter- und Muhmenschaft nicht mit heraldischer Strenge. Auch war er es nur von seiten meines Vaters; vor meiner Mutter sollte der Ehrenmann, ehe sie dem Vater die Hand reichte, selbst auf Freiersfüßen erschienen sein. Ich mag nicht glauben, daß es nur der empfangene Korb gewesen, der ihn zu dem Störenfried gemacht, als der er nur zu häufig bei uns auftrat. Scheelsucht und Neid müssen schon an seiner Wiege gesessen haben. Er war geizig im hohen Grade, aber noch weit mißgünstiger als geizig. Behutsam, auflauernd, nachtragend, kriechend, wenn es sein mußte, und mit allen Eigenschaften eines Schmeichlers; nur nicht mit den angenehmen, wußte er sich doch so wenig selbst zu beherrschen, daß man ihm die Schadenfreude in den Augen las. Es verriet wenig Zartgefühl, daß er, ungeachtet seines Verhältnisses zu meiner Mutter, der tägliche Gast in unserem Hause wurde. Die stille, gute Mutter mochte dies in einer Zeit, über die ich keine Rechenschaft geben kann, schmerzlich empfunden haben; jetzt war ihr seine Gegenwart doppelt zuwider, indem er fast nie über die Schwelle trat, ohne den Angeber zu spielen. Mit seinen Luchsaugen der beständige Aufpasser auf uns Kinder, entging ihm kein leichtsinniger, kein toller Streich, und so war ihm dies Geschäft zur anderen Natur geworden, daß er, wenn wir ihm keinen Stoff gaben, seine Aufmerksamkeit auf Nachbarskinder und Domestiken richtete. Wenn er in seinem Dachfenster lag, ging ich ungern vorüber, wie der Stutzer vor dem gichtgeplagten alten Könige. Der Unterschied zwischen beiden war nur, daß der Monarch seinem aufsteigenden Zorn sogleich Luft machte, und dann war es vorbei, mein Pate hingegen notierte in seinem unverwüstlichen Gedächtnis jede kleine Unregelmäßigkeit und der hinkende Bote kam jedesmal nach. Dem Vater galt Herr Schlipalius für einen deutschen Ehrenmann, den keine schwächlichen Rücksichten zu einem Schritt rechts oder links ab von seinem Gradeaus bewegen konnten. Rühmte er sich doch, als Advokat nie einen Vergleich geschlossen zu haben, und gegen jedes Urteil kam er mit Protestationen und Querelen ein. Machte ihm das weder bei seinen Oberen noch seinen Kollegen Freunde, so verschaffte es ihm doch bei manchem Bürger den Ruf eines unerschütterlichen Rechtsfreundes. Ja mein Vater rechnete es ihm sogar als Zeichen seines geraden, eisernen Sinnes an, daß er ihm selbst einen Prozeß um die Reparatur eines Gartenzaunes an den Hals geworfen. »Recht muß Recht bleiben. Entweder hat er Recht oder ich, ein Mittelding ist nicht möglich,« pflegte er zu sagen. »Ist das Recht auf seiner Seite, und er täte aus Freundschaft oder Verwandtenliebe nicht alles, was er kann, für sein Recht, so handelte er unrecht.« Seit die durch drei Instanzen getriebene Sache durch ein Judikat zu unseren Gunsten entschieden war, mußte Pate Schlipalius jeden Sonntag bei uns essen, zum großen Leidwesen von uns Kindern. Denn er würzte die schon herben Tischgespräche auf seine Weise. Oft wartete er mit einer Angeberei, bis das Lieblingsgericht des Angeschuldigten aufgetragen wurde. Dann rückte er mit einem »Apropos, da fällt mir ein« heraus, und das Ende vom Liede war, daß der Arme den rauchenden Teller unberührt lassen und mit einem Stück Brot auf den Flur mußte. Ein anderer Schadenfroher würde vielleicht Mitleid affektiert und für das Kind gebeten haben; so viel Geradheit lag aber in der Tat in seinem Charakter, daß er nicht liebenswürdiger erscheinen wollte, als er war. Vom Vater wurde ihm die Unliebenswürdigkeit nicht minder als Tugend angerechnet, denn es lag in den Ansichten der strengen Zeit, ein humanes, wohlgefälliges Benehmen als Weichheit zu stempeln.

Der Haß des vorigen Königs gegen die Advokaten ist bekannt. Da es seinem despotischen Willen nicht gelungen war, den ganzen Stand, den er für unnötig hielt, abzuschaffen, hatte er diesem Hasse in einer barocken Verordnung Luft gemacht. Jeder Advokat mußte als Uniform einen kurzen Mantel tragen, damit die Leute ihm schon von weitem aus dem Wege gehen konnten, und wehe dem, welcher sich ohne diese Tracht auf der Straße sehen ließ. Für die hohe, hagere Gestalt unseres Herrn Paten mit seinen überlangen Armen und Storchbeinen, die in noch ungestaltere Füße ausliefen, war sie besonders günstig. Wenn er sie nicht in den Westentaschen hielt, hingen ihm die Hände unter dem Mantel heraus, wie zwei immer drohende Strafruten. Er selbst hatte nicht das mindeste dazu getan, seinem widerwärtigen Aussehen abzuhelfen; seine Manschetten, die geblümte Schoßweste waren selten rein, an der hier und da zerstörten Perücke fehlte der Puder, ja es schien, als wenn er ein eigenes Vergnügen darin setze, durch seine Gegenwart zu erschrecken. So stand er jetzt plötzlich vor uns und betrachtete die Lust der Knaben mit derselben Mißgunst, wie er vorhin dem Kriege in der Luft zugesehen haben mochte. Er wollte uns entgelten lassen, daß es nicht in seiner Macht gestanden, den Vögeln ihr freies Spiel zu verbieten, und war unerschöpflich in seinen näselnden Verweisen. Aber ein zu scharf gespannter Bogen bricht nach dem Sprichwort, eine zu lange Strafrede ermüdet. Meine Spielkameraden, anfangs kaum weniger als ich selbst erschreckt, fingen an einzusehen, daß es doch nur Worte waren, die besseren schämten sich, daß ich wegen des häßlichen Mannes verloren haben sollte, und einer reichte mir meinen Murmel wieder: »Wirf noch mal, Etienne, das soll nicht gelten.«

»Es gilt nicht!« wiederholte die kleine Schar. »Den Fuß weg!« schrie schon ein Beherzterer. Ich zitterte, die Tränen standen mir in den Augen; es waren aber mehr Tränen der Wut über ein erlittenes Unrecht als der Furcht. »Wirf dreist zu, Etienne!« schrie man mich an. »Was hat er ein Recht, uns das Spiel zu verderben.« – »Fort der lange Laban!« – »Fort da!« rief ich nun auch, und Lust und Bosheit hatten in der Knabenbrust gesiegt. Der Herr Pate hatte den Fuß fortgezogen, ich zielte, und meine Kugel glitt in das Loch. Allgemeiner Jubel! ich hatte gewonnen; doch jetzt, wo niemand mir die Ehre bestritt, blickte ich schüchtern zum Advokaten auf, um zu wissen, was sie mich kosten würde. Er grinste freundlich, schmunzelte etwas von »scharmanten Kindern;« ach aber im Augenblick, daß ich nach meinen Kugeln fassen will, daß die anderen rufen: »Zählt sie!« war es abermals geschehen. Seine Fußspitze schaufelte die ausgeworfene Erde in das Loch und seine rindslederne Sohle trat die Murmel fest. Da stand der lange, häßliche Mann, und seine noch häßlicheren Beine stampften wie zwei Pflasterschläger auf unser verlorenes Spielzeug.

Da lagen alle meine Trophäen begraben, und die hellen Tränen stürzten aus den Augen. Auch damit war der grausame Mensch noch nicht zufrieden. »Wir wollen doch den Herrn Polizeisergeanten rufen, ob er die Permission gegeben hat, hier Steine auszureißen, das obrigkeitliche Pflaster zu lädieren und Gruben zu graben, wo ein Mensch stolpern kann. – Was würden wir sagen, Patron, wenn man uns auf die Vogtei brächte, bei Wasser und Brot eine Nacht einsperrte und am Morgen eine Lektion aufzählte.« Der Pate gehörte zu dem Schlag Menschen, die, je weniger Widerstand sie finden, um so dreister werden. Die Gelenke seiner dürren Finger hämmerten mir jetzt, wie eben noch seine Beine auf dem Pflaster, auf dem Scheitel. Es tat empfindlich weh. Ich schrie. Meine Kameraden murrten, sie blickten sich fragend an, indessen noch war die Autorität auf des Advokaten Seite. Als aber einige Vorübergehende still standen und Miene machten, sich des gemißhandelten Knaben anzunehmen, erwachte auch ihr Mut. Man schrie, tobte, man umringte den Herrn Paten, laute Anklagen gegen den Spielverderber brachen heraus. Der mutige Fritz raffte schon eine Hand voll Erde auf, sie ihm in sein gelber werdendes Gesicht zu schleudern, ich schluchzte, diesmal weniger aus Schmerz als aus Politik, um die Mittelpersonen zu gewinnen, und der Straßenskandal war auch auf dem besten Wege sich zu vergrößern und vielleicht in eine große Verfolgung und Hetzjagd auf den Advokaten auszuarten, als plötzlich etwas in buchstäblichem Sinn dazwischen trat und uns zum Vorteil des letzteren auseinander trieb.

Es war diesmal kein himmlisches, sondern ein sehr irdisches Schauspiel. Um die Ecke der Wallstraße tönten schon eine Weile gedämpfte Trommeln und einige Kompagnien von Friedrich Wilhelms Riesengarde lenkten nach dem königlichen Schlosse zu. »Platz da!« rief der vorderste Unteroffizier und stieß den Advokaten beiseite, mit seinem blinkenden Sponton zwischen uns fahrend. Seltsam mußte es ihm vorkommen, daß nicht alles schon auseinander geflogen war, denn die Potsdamer Riesen waren schon an solche schweigende Verehrung gewöhnt. Der Handwerksmann zog vor einer Ablösung den Hut und vor einem Bataillon machte Groß und Klein auf der Straße Front. Man konnte es wohl tun, ebenso vor Verwunderung, als aus Respekt, denn nie in der Welt mögen so viel gigantische Männergestalten sich an einem Ort zusammengefunden haben, als dazumal in Berlin. Uns Kindern erschienen diese Riesen immer wie Wesen anderer Art. Wußte doch jeder, wie sie gehätschelt und gepflegt wurden. Sie allein wurden in der arbeitsamen Zeit nicht zur Arbeit angehalten. Mancher dieser wohlgenährten Soldaten ließ sich sein Gewehr zur Parade nachtragen. Wie sonderbare, märchenhaft klingende Erzählungen zischelte man sich zu über Art und Weise, wie sie aus ihrer Heimat hergelockt und in die Montur gesteckt worden! Man konnte den phlegmatischen Schweizer, den ernsten Schottländer, das freche, doch belebte Gesicht des Irländers heraus erkennen. Der hochblonde Schwede marschierte neben dem dunklen Sarmaten, und in den schwarzen Augen des Südländers glühte ein Feuer, verurteilt, hier nutzlos zu verdampfen. Das bequeme Leben gab Haltung und Mienen, aber nicht den behaglichen Ausdruck des wohllebigen Weltmannes. Ich hatte einmal einen fremden Offizier äußern hören, alle diese Sechsellensoldaten wären im Felde nicht mehr nütze, als bleierne, und bleierne wußte ich, konnten nur stehen und fallen. Ein verfehltes Dasein drückt auf den einzelnen einen unverkennbaren Stempel; hier ruhte er deutlich auf einem ganzen Korps. Wenn sie vorübermarschierten, ein Gegenstand staunender Ehrfurcht für Alt und Jung, wandte kaum einer sein Auge rechts oder links, so gleichgültig schien ihnen alles. Und denken Sie nicht, die Verdrossenheit sei immer der nachhallende Schmerz über eine gewaltsame Einsteckung gewesen. Die Mehrzahl hatte sich ja kaufen lassen, zum Teil zu ungeheueren Preisen; ihnen ging nichts ab, als eine Sache, für die sie fechten, eine Sache, für die sie sich begeistern konnten. Und doch sollte ihr Ausgang werkwürdiger sein, als die Geschichte ihres Daseins. Sie wissen, daß König Friedrich bei seiner Thronbesteigung das unnütze, kostspielige Korps auflöste. Die Reste desselben, nicht mehr gehätschelt, nicht mehr gepflegt, Soldaten wie die anderen unserer Armee, sahen wir bei Kollin wie Helden der alten Zeit stehen und fallen für einen König, der nicht ihr König, für ein Land, das nicht ihr Vaterland, für eine Sache, die ihnen gleichgültig war. Wer erklärt das?

Man war diese Garde fast nur im feierlichen Parademarsch zu sehen gewohnt, heute war darin etwas anders, sie schienen rascher sich zu bewegen und doch nicht so sicher. Weil ihr Dienst so regelmäßig, die Straße, die Stunde, wo sie passierten, seit Jahren so bestimmt war, fiel dieser außergewöhnliche Marsch jedem anderen, als uns Kindern auf. Ich sah nichts, als daß mir die langen Leute heut noch trauriger erschienen, und Fritze meinte daher, sie seien sehr zur unrechten Zeit gekommen, denn ohne sie hätten wir einmal sehen sollen, wie der böse Mensch es von ihm abbekommen hätte. »Siehst du, Etienne,« sagte er, »der Kerl machte schon Miene abzuziehen, und dann hätten wir alle hinterdrein gesetzt. Geschrien hätte ich, was das Zeug hält, und alle Straßenjungen wären mitgelaufen, daß es eine Lust war. Und wenn auch einer nachher geklatscht hätte, und ich auf einen Tag ins Karzer gemußt, was tut das, wenn man seine Pflicht tut und recht hat!«

Das wurde freilich erst gedacht und gesprochen, als die letzten Reihen der Grenadiere längst um das Fürstenhaus verschwunden waren und hinter ihnen her, wie Eisenspäne vom Magnete angezogen, was auf der Straße Beine hatte. Der Herr Pate war eine große Autorität, die berufene Polizei eine noch weit größere, aber Friedrich Wilhelms Garden waren Wesen, in deren Gegenwart es wohl erlaubt war, zu denken, wer damals denken mochte, doch nicht zu sprechen, kaum zu atmen. Der Herr Pate hatte sich unter ihrem Schutz längst davon geschlichen.


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