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Zweites Kapitel.
Frau Kurzinne

Des Menschen Herz ist ein trotzig Ding. Man könnte vielleicht aus dem vorigen schließen, daß ich nicht zu den Trotzigen gehöre, daß ich ein sanfter, duldender Knabe gewesen, dem bei jedem Verweise die Augen naß stehen, aus Furcht und Reue. Man hätte zu gütig meine Tränen ausgelegt. Die Furcht war wohl da, aber daneben die innerste Erbitterung, es war die überkochende Lust, so groß, so stark zu sein wie der lange Pate, um ihn so in Staub zu treten, es ihn so bitter empfinden zu lassen, wie er mich seine Jahre, sein Ansehen, seine Kraft, und es strömte mir aus den Augen, weil ich das nicht könnte.

Es war ein buntes, dumpfes Gewoge in der Stadt, an den Ecken standen die Leute und steckten die Köpfe zusammen; der Abend kam, und die Laden wurden nicht geschlossen, die Bürger gingen nicht nach Hause. Feldjäger und Läufer sprengten durch die Straßen, die Karossen fuhren nach und von dem Schlosse, das Militär stand aufmarschiert, und bei allem diesem Aufruhr war es eigentlich still. Mit dem ganzen Troß meiner Kameraden war ich Gass' auf, Gass' ab gelaufen, wo etwas zu sehen war. Man sprach von der Majestät des Königs, der Majestät der Königin, von des Kronprinzen königlicher Hoheit, von der Gruft in der Domkirche, Gott weiß wovon, mir war alles gleichgültig. Ein reichbordierter Leibjäger spornte an mir vorbei, die hängende Peitsche dem Pferde auf die Schenkel legend; dem Reiter rief ein Bürger nach: »Glück zu, Herr Mestag! der Ritt nach Rheinsberg kann Euer Glück machen.« Der Reiter hörte nicht, und ich auch nicht, denn mir summte immer nur Fritzens Frage im Ohr: »Hat er denn ein Recht, dir auf den Kopf zu klopfen?« Er hatte ja kein Recht. Er war nicht mein Vater, nicht meine Mutter, nicht mein Lehrer, nicht Wachtmeister bei der Polizei. Immer noch sah ich den verzogenen weilen Mund, die häßlichen zwei langen Vorderzähne, die wie der Schnabel eines Raubvogels zum Vorschein kamen, die blinzenden grauen Augen, das heisere Gelächter, ich hörte die Gassenbuben auch lachen und wurde blutrot, daß jemand über mich gelacht haben könnte. Hätte ich ihm doch im Gedränge begegnet, dem bösen Menschen, ich ganz allein!

Selige Unschuld des jugendlichen Hasses! Ich hätte ihn zerfleischen können in dem Augenblick, und im nächsten jubelte mein Herz aus, und meine Wange wurde rot, nicht vor glühender Scham, sondern weil mir ein alberner Schabernack einfiel. Ich hatte mich von den andern führen lassen, ohne Willen, ohne zu wissen wohin? Da fiel mir am andern Ende einer verlassenen Quergasse plötzlich ein Lichtschein ins Auge. Er kam von der Blechlampe aus einem Eckladen. An dem ovalen Widerschein am grauen Hause gegenüber erkannte ich, wo wir uns befanden, und schrie aus vollem Halse: »Frau Kurzinne steckt ihre Blechlampe an.« Die Blechlampe der Frau Kurzinne war uns allen nur zu bekannt. Meine Stimme klang so lustig, so herausfordernd, die Ideenverbindung lag für die meisten so nahe zwischen der kaum erlittenen Schmach und der Frau Kurzinne, die Aussicht auf einen lustigen Streich bot sich von selbst dar, daß die Soldaten, die Karossen, die Jäger, die Läufer auch bei den anderen vergessen waren, und alles sich um mich drängle, Aug und Ohr für das, was ich mitteilen wollte.

Die unglückliche Frau Kurzinne, deren Namen, oder vielmehr ihre Blechlaterne, einen düsteren Racheplan in mir erweckte, hielt den bescheidenen Materialladen an der Ecke, wo auch unterweilen Branntwein geschenkt wurde, schon fast sein Anfang des Jahrhunderts. Das kleine, bucklige, rotäugige Weib mit der keifenden Stimme und den großen Händen, war der argen Jugend weit umher nicht viel anders bekannt, als eine Hexe, über die man lacht und vor der man sich fürchtet. Es war eine rührige Frau, die ihr Geschäft verstand, und schon zwei Männer, welche entweder sie oder ihren Branntwein nicht hatten vertragen können, in Ehren hatte vors Tor tragen lassen, aber selbst noch keine Lust zeigte, ihnen zu folgen, obgleich ihr dritter es mit ihr und ihrem Aquavit aushielt. Haushälterisch und sparsam in jedem Dinge, war sie nur in einem verschwenderisch, in Worten. Jeder Kunde bekam seine Ladung Klagen auf die schwere Zeit, auf die argen Abgaben, auf das Wetter, es mochte schneien oder die Sonne scheinen, auf die Bosheit der Menschen, bisweilen selbst auf den lieben Gott, gratis in den Kauf. Man meinte, viele Käufer träten nur dieser Gratis-Zugabe wegen vor ihren Ladentisch, der in Berlin berühmt war. Ein Spott der mutwilligen Jugend, tat sie dieser doch häufig den Gefallen und machte, was man bei uns nennt ein »Aufgebot«, wenn die Gassenbuben vor ihrer Tür das Spottlied sangen:

Frau Kurzinne, Frau Kurzinne
Ist eine häßliche, alte Spinne.

Die Glastür flog auf, in ihrer ganzen Liebenswürdigkeit trat die Dame heraus und schimpfte so heftig und mit solcher Ausdauer, daß die zerlumpten Buben eher müde wurden im Lachen als sie in Erfindung neuer Ekelnamen. Ließ sich einer einmal erwischen, so tat sie an ihm praktisch dar, wie abgeneigt sie der philanthropischen Erziehungsmethode war, die keine Schläge will.

Ich brauche kaum anzuführen, daß ein Weib, das mit jedermann Lust verriet, anzubinden, nie seinen wirklichen Rechten etwas vergab. Sie war auf dem Rathause zu Hause und ihre Sachen müssen immer gut gewesen sein, denn sie soll nie einen Prozeß verloren haben. Übrigens hüteten sich die Nachbarn vor einem Rechts- wie vor einem Wortstreite, und sie mochte gegen zehn Jahre ihren immer kochenden Ärger vor einem grünen Tische ausgeschüttet haben, als der rechte Mann erschien, der ihr völlig gewachsen war. Advokat Schlipalius kaufte nämlich das große ihrem Laden gegenübergelegene Eckhaus, und er hatte kaum eine Nacht darin geschlafen, als gegen die verwittibte Kurzinne eine Klageanmeldung einem wohledlen Magistrat sauber mundiert von besagtem Advokaten eingereicht wurde. Die Sache verhielt sich so.

Frau Kurzinne steckte Sommer und Winter, so bald es finster wurde, die einzige schon erwähnte Blechlampe in ihrem Laden selbst an. Seit 1701 fiel der Widerschein dieser Lampe auf das Haus gegenüber und seit 1701 war es keinem Besitzer eingefallen, sich deshalb zu beschweren. Der Advokat aber behauptete, das Licht, mit polizeiwidriger Schärfe in den Reverberen gesammelt, habe dergestalt gegen die Scheiben seiner Studierstube geblendet, daß er abends keinen Federstrich tun konnte, als er sich darauf in das Fenster begeben, nach der Ursache auszuschauen, seien ihm seine Augen völlig geblendet worden, und er habe hierauf die Nacht an beträchtlichen Schmerzen gelitten, die ungewiß machten, ob er ferner den vollen Gebrauch seiner Augen behalten werde. Darauf erging folgenden Tages von seiner Seite eine mündliche Aufforderung durch den Schreiber an die Wittib, des Inhalts: sie solle stehenden Fußes die Lampe umdrehen oder so hängen, daß das Licht gegen die Erde falle, demnächst sich erklären, ob und wie viel Kaution de non amplius lucendo sie in futuro stellen wolle? Frau Kurzinne schickte dem Advokaten zur Antwort eine jener derben deutschen Redensarten über die Straße, welche sich in keine andere Sprache übersetzen lassen und auch in unserer Schriftsprache nur durch die Umschreibung ausgedrückt werden kann: »Er solle sich seinen Schaden selbst ersetzen.« Dies tat denn auch, wenn gleich nicht auf die von der Wittib angegebene Art, der Advokat, und der Prozeß Schlipalius contra Kurzinne schwebte mehrere Jahre, von beiden Seiten mit allen erdenklichen Schikanen geführt. Ihren Kunden versicherte die Bürgerin oft: der große Herzog Malpruch von England sei, ehe er ins Fürstenhaus logiert worden, in demselben Hause abgestiegen, und dem großen Feldmarschall, vor dem die Franzosen siebenmal gelaufen, sei es nie eingefallen, über die Lampe zu klagen, sondern er habe sie einmal, als sie ihm einen Knix gemacht, eine gute Frau genannt, und der Tintenklexer, der vor einer Fledermaus sieben Meilen laufe, der sich zur Ehre schätzen müsse, wenn ihm eine rechtschaffene Frau ins Haus leuchte, wollte sich unterstehen, zu klagen, aber er wäre ja – und nun folgte ein Strom von einer donnernden Kraft und Schwere, daß er die Batterien des gemeinten Marlborough und des noch größeren Eugen übertönt hätte.

Wie erstaunte man daher, als eines Morgens Advokat Schlipalius in den Eckladen trat und mit nichts weniger als fürchterlicher Miene einen Schluck wieder den argen Nebel forderte. Er trank die Flüssigkeit langsam herunter, hielt das Glas gegen das Licht und versicherte, nirgends ein solches Danziger Magenwasser gefunden zu haben. In Zeit einer Stunde schlürfte er, den Ellbogen auf den Ladentisch gestützt, drei Gläser aus, und als er in die Tasche griff, sagte Frau Kurzinne mit aller Freundlichkeit, die ihr möglich war, er solle sich nicht inkommodieren, das würde sich ja schon »alles« finden. Darauf führte sie ihn selbst zur Tür hinaus und wünschte dem Herrn Advokaten über die Straße hinüber, daß männiglich es hörte, einen gesegneten Appetit. Zwei Tage später war dies »alles« in Richtigkeit, und am dritten steckte die Verlobungsannonce schon am vergoldeten Spiegelrande in meiner Eltern Putzstube. Die alte Susanne hatte mir oft von dem seltsamen Brautzuge erzählt, der im weitesten Umwege über die offene Straße ging. Unsere Straßenjungen jubilierten, und der Küster am Werder hatte Mühe, sie nur soweit abzuhalten, daß sie die heilige Handlung nicht durch ihr häßliches Spinnenlied vor der Kirchtür störten. Die seltsame Ehe trug für die Welt und Berlin keine anderen Früchte, als daß die Gerichtssporteln im Rathause sich vermehrten. Denn Advokat Schlipalius entzog sich als treuer Ehemann nicht der sauren Arbeit, die vergelbten Schuldbücher seiner Vordermänner im Ehejoch Zahl für Zahl durchzurechnen, und was Frau Kurzinne vergessen oder als zweifelhaft zurückgeschrieben hatte, klagte die verehelichte Schlipalius unter Kuratel ihres Ehemannes gewissenhaft ein. Über die ganze Friedrichs- und Dorotheenstadt, den Werder, ja bis nach Neu-Kölln hinein, erstreckte sich das Spinnengewebe ihrer Prozesse. Im übrigen blieb alles im alten Stande, er in seinem Hause, sie in ihrer Ladenstube und die Gassenjungen sangen nach wie vor:

Frau Kurzinne, Frau Kurzinne
Ist eine häßliche, alte Spinne,

worüber die Frau Advokatin Schlipalius sich ebenso erboste, als die verwittibte Kurzinne, ihr Ehegatte aber lächelte, denn es verlohnte sich nicht, eine Injurienklage gegen die Eltern der lumpigen Brut anzustellen. Darüber kam es nun zuweilen zu häuslichen Szenen, indem sie ihn zum Ergötzen der Nachbarschaft über die Straße eine alte Schlafmütze schalt, der Hausfriede konnte aber, wie gesagt, nicht gestört werden, denn sie durfte nie in sein Haus, und er nur zu Mittag in ihres, ausgenommen, wenn er des Morgens das Buch von gestern im Laden durchsah und eine Morgenstärkung auf den Weg nahm.

Über die Motive der Heirat gab es verschiedene Vermutungen. Beim Gericht meinte man, der Advokat habe gewittert, daß es mit seinem Prozeß schlecht stand, pfiffige Leute wollten wissen, er habe sich hinter seinen Herrn Konfrater, der die Sache seiner verwittibten Widerpart führte, gesteckt und so in Erfahrung gebracht, daß Frau Kurzinne eine Partie sei, mit der sich eine Märkische Gütergemeinschaft ohne Schaden eingehen lasse. In unserem Hause wollte man leider einen anderen Grund ahnen. Die famose Heirat war nicht lange nach der meines Vaters erfolgt, und als der Herr Pate seine Braut der Mutter vorstellte, sagte seine höhnische Miene: »Habe ich Sie nicht bekommen, Frau Muhme, habe ich doch eine andere, und Frau ist Frau.« Wenn meiner Mutter die Gegenwart des Advokaten immer unangenehm war, so war sie es seitdem doppelt. Bei großen Staats- und Familienakten blieb es unerläßlich, auch die Frau Patin einzuladen. Darin teilten alle anderen Familienglieder, was nicht immer der Fall war, meiner Mutter Ansicht; nur der Vater hatte dem Advokaten die gemeine Verbindung bald verziehen, denn, sagte er, der Ehrenmann heiratet nicht um ein glattes Gesicht und seidene Kleider, nicht um mit seiner Frau zu prunken, sondern um eine Hausfrau zu gewinnen, die mit ihm arbeitet und schafft.

Was half es der armen Frau heut abend, daß sie die Gattin des Herrn Advokaten war? Unritterlicher Sinn der Knabenwelt. Die schwache Frau sollte das Unrecht entgelten, welches wir an dem stärkeren Manne nicht zu rächen imstande waren! Darum jauchzten wir auf beim Schein ihrer Blechlampe, und ich – leider muß ich es bekennen – war das Haupt der dunklen Verschwörung, die an der anderen Straßenecke ihre Köpfe zusammensteckte. Und wie erfinderisch ist Knabenwitz! Jeder hatte einen besonderen Plan, jeder erwartete, daß alle dem seinigen beitreten würden; da aber auf diese Weise ein Dutzend Erwartungen und ein Dutzend Pläne zusammenkamen, so war es drauf und dran, daß die ganze »gerechte und heilige« Verbrüderung scheiterte, etwas, das auch bei anderen Verbrüderungen eintreten soll, welche nicht auf offener Straße und nicht von neunjährigen Knaben geschlossen werden. Diese mochten nicht die Fenster einwerfen, jene nicht die Lampe auspusten, weil das Ölflecke auf den Kleidern gebe. Indes stimmten alle dafür, es müsse ein überaus witziger Streich sein, und endlich war man einig.

Der Eckladen hatte zwei klingelnde Glastüren. Einer von uns sollte nun nach dem andern zur einen Tür eintreten, und wenn die Frau Kurzinne aus der Stube käme, ihr einen guten Abend wünschen und zur anderen wieder sehr schnell hinauslaufen. Das dünkte uns sehr witzig, aber man wollte Variationen. Der eine sollte sich erkundigen, wie sich ihr Herr Gemahl befinde, der andere fragen, wie viel ein Dreier Pfennige hat, ein dritter für einen Heller klein Geld einwechseln. Jeder Einfall wurde im voraus ungeheuer belacht, aber man stritt über die Verteilung der Rollen und schon war es abermals drauf und dran, daß sich das Ganze zerschlug, als jeder zuerst und keiner zuletzt kommen wollte. Indes fand man eine Regel. Diejenigen, welche der Frau Kurzinne am fremdesten waren, sollten vorangehen, sie nicht zu früh auf die Spur zu bringen. Ich, als nur zu bekannt, sollte den Vexierreigen schließen. Ich glaube, ich war der dreizehnte und entging auch nicht dem Lose, welches nach dem Ammenglauben den dreizehnten trifft.

Alles ging vortrefflich. Der erste, ein bescheidenes, freundliches Kind, mit schüchterner Stimme sich nach dem Befinden des Herrn Advokaten erkundigend, bekam eine ebenso freundliche Antwort und noch ein Stückchen Zuckerkant auf den Weg, brachte uns aber die nicht ganz angenehme Nachricht, daß, statt der Frau Kurzinne, nur ihr kleiner Ladendiener gekommen war. Der zweite, mit der kalkulatorischen Frage und dem Dreier erhielt zur Antwort, das sei eine dumme Frage, der dritte mit dem Heller aber schon den Bescheid, er solle sich hinausscheren und nicht wiederkommen. Als nun aber die eine Klingeltür sich öffnete, wenn die andere sich schloß, es klingelte, klappte, stürzte, lachte und man kam und lief, als wäre es eine Feuerprobe, – denn mit jedem Augenblick wurde der Boden unsicherer – fing auch der kleine Ladenhüter etwas zu ahnen an. Der untersetzte, stämmige Bursche glotzte uns, die Hände unter der braunen Schürze, mit den kleinen hellblauen Augen und dem roten breiten Gesichte an, wie einer, der selbst mehr Lust hat, mitzujubeln, als Wache zu stehen. Und da gerade, als ich die erste Tür öffnete, mußte die Frau Advokatin herausstürzen.

»Aber, Musje Maßmann, sollen Ihnen die Jungens noch auf der Nase 'rumtanzen, bis Sie merken, daß Sie ein Maulaffe sind? Steht mir wie ein abgekochtes Zimmtröhrchen und rührt sich nicht! Wozu hat Ihnen der liebe Gott zwei Arme gegeben, und zwei dicke Hände dran? In den Schwarzseiftopf, Musje Maßmann, reingegriffen mit beiden, und den Rangen hinter die Ohren gerieben, daß sie gewaschen nach Hause kommen!«

Musje Maßmann bedurfte nur dieses Anstoßes. Er strich sich sein blondes, vorn herabfallendes Haar hinter die Ohren, stemmte sich mit den Armen auf den Tisch, und war im Nu hinüber voltigiert. Ach, kaum daß ich die Tür hinter mir zugeschlagen, als sie auch schon wieder aufflog. Mein Herausstürzen gab das Signal zur Flucht. Das Feldgeschrei war: »Die Kurzinne ist hinter uns!« und mir blieb nichts übrig, als – wie ein guter Feldherr den Rückzug zu decken. Hinter mir her klappten die Pantoffeln des Verfolgers, und die Frau Advokatin schrie: »Wenn's auch man einer ist, Musje Maßmann: man einer, daß wir ein Exempel statuieren!«

O Treue der Welt, wie wirst du Spreu; Zuverlässigkeit der Freundschaft, wie wirst du ein Schatten; Rittersinn, wie wirst du ein Hauch, wenn der Vorteil ins Spiel kommt! Was schilt man die Politik der Kabinette, wenn schon Kindesunschuld den Verräter spielt, wenn die Stimme eines bösen Weibes, wenn die Faust eines fünfzehnjährigen Ladenburschen solche Verbrüderungen so lösen kann! Da hielt mich der kleine Musje Maßmann, an meinem Haarbeutel hielt er mich, ich schrie aus Leibeskräften, ich rief bei allen Göttern und Heroen der Freundschaft um Hilfe, Beistand, vergebens. Musje Maßmanns ausgestreckte Rechte und sein: »Wer sich untersteht!« wirkte mehr. Mich schleifte er halb an den Haaren, halb an den Ohren, und der Barbar achtete nicht, wie ich in letzter Angst ihm in die Schenkel kniff.

Da standen wir vor dem Laden, und schon darum eine beträchtliche Anzahl Müßiger, alle begierig, Zeugen zu werden einer exemplarischen Exekution. Es stand mir niemand bei, nicht einmal das gute Bewußtsein. Frau Kurzinne leuchtete auf der Ladenschwelle mit ihrer Blechlampe und schrie und schrie: »Nur recht stark, Musje Maßmann, daß er's empfinden tut.« Noch krümmte ich mich, noch wehrte ich mich, fest an meinen Peiniger mich nestelnd, daß von den Schlägen und Püffen ein Teil auf ihren Urheber zurückfiel. Ich hoffte, es werde doch eine mitleidige Seele sich erbarmen, ich sah Fritz, wie er die andern aufmunterte, ich bemerkte manches gutmütige Gesicht, ach und ein Trost – der Advokat war ja nicht dabei. Es regte sich auch Mitleid, und ein Bürger äußerte: ein alberner Jungenstreich müsse nicht gar zu streng genommen werden. Aber leider schrie ein Nachbar Schuhflicker aus seinem Fenster:

»Lassen Sie sich nicht abhalten, Frau Nachbarin; den Jungen muß man's eintrichtern. Ist ja nicht mehr zum aushalten. Wenn da keiner drein schlagen will, i so möchte man ja über die Spree ziehen und sehen, wo noch Zucht und Ordnung zu Hause ist. Ein reputierlicher Bürger kann am Ende nachts kein Auge mehr zutun, wenn die Straßenjungen das Regiment führen.« – »Er hat recht,« wiederholten einige ehrbare Schlafmützen. »Das darf nicht so fortgehen,« und der Paladin vom Pechdraht, in der Lust, sich zu erbosen, eine Lust, die bei gemeinen Leuten beiläufig viel Ähnlichkeit haben soll mit dem Durst, flackerte noch mehr auf bei der Mahnung seiner Ehefrau hinter ihm: »Du, das ist vornehmer Leute Kind!«

Was kümmerten vornehme Leute in dem Augenblicke den Mann, für den die Frau, welche seine Wiesenkabel vorm Stralauer Tor kaufen wollte, die vornehmste Person von der Welt war. »Was! Vornehmer Leute Kind! Bin ein Berliner Bürger und kümmere mich nicht um vornehmer Leute Kinder. Zugeschlagen aufs Leder, nun just, Musje Maßmann, und wär's eines Grafen Sohn. Das Fleisch fühlt's egal, ob ein Bürgersmann drauf sitzt oder ein Edelmann!«

»Ein schöner Edelmann!« schrie die Prinzipalin drein. »Bohms Junge! Der lange Inspektor ist sein Papa und die zierige französische Madame seine Mama. Wollen vornehm tun, die Leute, weil sie an der Kolonie hängen und der liebe Herrgott Sonntags französisch zu ihnen spricht, aber es ist nichts hinter. Wollen die Kinder apart erziehen, pudern anders als ein ehrlicher Mensch und gehen auf den Spitzen von den Zehen und tragen bunte Hacken, aber die Schnallen sind drum nicht feiner Silber. Da soll ich Respekt vor haben! Nein, ich habe keinen vor. Mein Vater war ein Trompeter und konnte ihnen zeigen, was ein X ist und ein U, und mir hat der liebe Gott eine Lunge gegeben und eine Zunge. Ich bin eine Berliner Bürgerin, ein eheliches Kind, ich lebe nicht von Franzosen und von Juden, ich lebe von meinem Verdienst und kümmere mich nicht um die vornehmen Leute. Die können im Monde wohnen, ich wohne am Werder, ich zahle meinen Grundzins und dem König meine Akzise, Branntwein schenke ich, wer ihn honett bezahlen kann, aber den will ich sehen, wer mir Respekt beibringen will! Kurz hieß mein letzter Mann, Schlipalius heißt mein jetziger. Schlagen Sie zu, Musje Maßmann.«

Ein Appell an den Demos verfehlt in einer großen Stadt selten seine Wirkung, Von den Bürgersleuten war nun nichts mehr zu hoffen, und Herrn Maßmanns Arm lag schwer auf mir; eigentlich schon sein ganzer Leib.

»Patron, will er nun Abbitte tun?« Ich biß die Zähne zusammen und bat meine Tränen, daß sie nur ein bißchen warten sollten.

»Sieh die verstockte Brut!« schrie die Kurzinne. »Tüchtiger, tüchtiger, Musje Maßmann; ihn mit einem Denkzettel nach Hause geschickt für die superkluge, feine Frau Mama«.

Der boshafte blonde Mensch begegnete mit einem unerhörten Vorschlage der Aufforderung seiner Meisterin; »Frau Prinzipalin, den Schwarzseiftopf her, schnell, den Schwarzseiftopf,« schrie er. »Ich will ihn einseifen, daß sie's acht Tage lang riechen sollen!«

Er hatte mich in seiner Gewalt, aber das war zu viel. Er hätte mir den Hemdkragen abreißen, die Haare ausraufen, mich blutrünstig schlagen können, mit geschundener Haut nach Hause schicken, Blut entehrt niemand, aber – schwarze Seife! Schon machte der Barbar die Pantomime, rieb mit trockener Hand Ohren, Backen, Nase, Mund, Schopf, Hals. Mein feines Hemde, die Handkrausen, der Nesteltuchkragen, das Haarband, – die Phantasie roch schon das Schreckliche, und so eingerieben sollte ich nach Hause gehen, so geschändet mich meinem Vater zeigen, so meiner Mutter vor Augen treten! – Sie lächeln über meine komische Furcht, die Damen, welche als würdige Vorsteherinnen großer Wirtschaften den Nutzen auch der schwarzen Seife zu schätzen wissen, die Militärs vielleicht noch mehr, indem die Ökonomie des Lagers uns wohl gelegentlich zwang, eigenhändig dies Material anzugreifen. Aber – Sie kennen nicht die besonderen Gefühle einer Honoratorienfamilie der Kolonie.

Obgleich die reformierten Franzosen 1740 so gute brandenburgische Patrioten waren, so loyale Untertanen wie nur die Nachkommen der märkischen Familien, gegen deren mannhafte Stammhalter die zitternden Krämer und Fuhrleute einst das bekannte Gebet stammelten:

Vor Köckeritze und Lüderitze,
Vor Krachte und vor Itzenplitze,
Behüt' uns, lieber Herre Gott!

würden sie es doch für eine große Beleidigung angesehen haben, hätte man sie für von demselben Blute gehalten. Einen von der Kolonie konnten sie auf den ersten Blick an seiner Kleidung, seinem zierlichen Gange, dem süßen Mienenspiel unterscheiden. Man dünkte sich Wesen besserer Art, nur daß man diesen Adel nicht durch junkerhaften Hochmut, sondern durch eine gewisse Zurückhaltung, ein feines, zuvorkommendes Benehmen geltend machte. Die Leute sollten fühlen, wer wir waren. Unter anderen prätendierte man, unsere Sinne wären viel feiner, unsere Nerven empfindlicher, unsere Leidenschaften, wenn man sie uns überhaupt zugestand, zarter. Gegen das Rohe und Gemeine wurde uns von früh an ein Widerwille eingeprägt. Unser Spielzeug mußte gewählt sein, die ungeschickten Nürnberger Drechslerwaren durften uns nicht in die Hände kommen. Man wies uns wohl im stillen, wie den jungen Römern die Ausschweifungen der trunkenen Sklaven, die Ungezogenheit, das plumpe Benehmen unserer deutschen Nachbarkinder, indem man uns warnte, empfahl man uns aber, sehr höflich gegen sie zu sein. In unseren Gesellschaften war die Mokerie immer auf dem Tapet; die geselligen Lächerlichkeiten unserer deutschen Freunde wurden unerbittlich durchgehechelt, je näher sie uns standen, um so beißender. In diesen großen Bund war jeder von selbst eingeweiht, der aus Frankreich stammte und französisch sprach; hatten wir ihn auch nie sonst gesehen, so war er doch sogleich unser Vertrauter, wenn wir über den Verstoß eines deutschen Verwandten uns lustig machten. Man nahm kein Blatt vor den Mund, denn wer hätte sich so vergessen sollen zu verraten.

Wenn ich hier von »uns« rede, so gilt dies von mir nur zur Hälfte. Nur meine Mutter war von der Kolonie, mein Vater aber ein echter Deutscher. Dagegen lernte ich in der Familie ihres Bruders den ganzen Heiligenschein der Kolonie kennen, der noch oft genug im Verfolg meiner Geschichte sein seltsames Licht auf meine Knabenstreiche werfen wird. Für diesmal nur so viel zur Erklärung meiner besonderen Angst, daß meine Mutter nie mit schwarzer Seife, sondern mit der feinsten französischen waschen ließ, und daß eine unverheiratete Tante einmal bei uns in Ohnmacht gefallen war, bloß weil die Majorin von der Pulvermühle auf dem Sofa neben ihr mit einem in schwarzer Seife gewaschenen Taschentuche sich Luft wehte. Ich hatte gesehen die nervenschwache Tante hinten überfallen auf das Kissen, hatte gesehen meine Mutter, wie sie der Majorin einen mißbilligenden Blick zuwarf, und jetzt sollte ich sehen, wie Frau Kurzinne stöhnend vom Gesims den schweren Topf langte, wie Musje Maßmann mit seinen großen Händen nach dem Gefäß griff, ich fühlte die kalte, fette, stinkende Seife, zu unauslöschlicher Schmach meiner Mutter Sohn um das Gesicht gerieben, und das konnte ich nicht sehen, geschweige denn »empfinden«, wie Frau Kurzinne sich ausdrückte. Das war zu viel. Ehe noch Frau Kurzinne handrecht den Topf niedergestellt, ehe Herrn Maßmanns Hand hineingetaucht, stieß ich einen entsetzlichen Schrei aus. Wie Simson die Tempelsäulen erschütterte, packte ich mit letzter Kraft die Beine meines Peinigers. Ein anderer Schrei mischte sich im den meinen, es war Herrn Maßmanns, über den noch eine dritte Gewalt gekommen war. Man rang, und Musje Maßmann stürzte über mich weg zu Boden. Ehe ich noch wußte, wie dies zugegangen, und wem ich die unerwartete Rettung verdankte, hörte ich eine Stentorstimme: »Wer dem Kinde was tun will, der komme her!«

Es war mein athletischer Bruder Gottlieb, der dastand, den linken Fuß auf dem Leibe des Herrn Maßmann und den rechten Arm drohend der Menge hinhielt. Frau Kurzinnes Lampe beleuchtete so viel von dem muskulösen Gesichte des kräftigen Jungen, daß alle umher begriffen, es sei etwas Gewagtes, mit ihm anzubinden. Manche wollten es doch, Frau Kurzinne schimpfte, der Nachbar Schuhflicker sprach von der Polizei, und Musje Maßmann, wieder aufgesprungen, klopfte sich den Staub von den Knien und lächelte dumm. Aber jetzt erhob auch der lange unterdrückte Mut meiner Freunde sich von neuem. Die dem Ladendiener zu Hilfe eilen wollten, fanden Widerstand, man tobte, schimpfte, stieß sich, Frau Kurzinne holte ihren Seiftopf, daß er nicht zu Schaden komme, und mein Bruder Gottlieb riß mich auf. Im allgemeiner werdenden Tumult und der Dunkelheit machte er sich mit mir auf und davon.


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