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Sechstes Kapitel.
Das Familiengericht

Die Tür ging auf und hereintrat, von seinem Inspektor geführt, mein Bruder Gottlieb. Er war es, über den die Familie richten sollte, oder vielmehr, es war längst gerichtet, es war nur ein hochnotpeinliches Halsgericht, das vor der Familie vollzogen werden sollte. Zu keiner Beratung, zu keinem Beschluß, zu einem Schauspiel waren sie zusammengekommen. Die Demütigung eines armen Menschen, seine Schmach, dazu hatten sie sich geputzt, die eifrigen Geschäftsmänner ihre Schreibtische verlassen, die deutschen Frauen ihre Wirtschaft! – Ich mußte unwillkürlich, wenn in der Folge mein Lehrer die kannibalische Grausamkeit der Römer schalt, welche mit lechzenden Augen den Verbrechern zusahen, die erfinderische Grausamkeit den wilden Tieren vorwarf, an meine Verwandten denken. Doch es waren nicht übersättigte Römer, nur Bürger und Bürgerinnen einer Stadt, die noch nicht jährlich an sieben Siegen ihres Friedrich zehren konnte, es war nicht Grausamkeit und Blutdurst, nur die grausame Langeweile einer eintönigen, farblosen Zeit.

Ich weiß nicht, wer betroffener aussah, Bruder Gottlieb oder der junge Inspektor. Der letztere war sehr blaß, er ging unwillig an das Geschäft des Berichtens. Gottlieb sah trotzig und verdrossen vor sich nieder. Er hatte sich nicht einmal geputzt, was ihm sehr verargt wurde, und grüßte auch nicht beim Eintreten. Die Blicke, alle auf ihm haftend, machten ihn nicht verlegen.

»Gottlieb!« hub der Vater mit einer Ruhe an, die ich nur zu gut kannte, um sie für etwas anderes zu halten, als für die schwüle Stille, welche einem Gewitter vorangeht, »Gottlieb, willst du frei heraus reden? Ein offenherziges Geständnis mildert vielleicht die Züchtigung.«

»Sie wissen's ja schon alle,« entgegnete der Trotzige.

»Du willst nicht?«

Ehe mein Bruder antworten konnte, nahm der Inspektor das Wort, indem er versicherte, daß Gottlieb bei der Lehrer-Konferenz heut früh gestanden und alle Umstände ins reine gebracht seien. Der Lehrer stellte hierauf selbst zusammen, wovon bis auf uns Kinder alle schon wissen mochten, und dem Vater schien es nicht unangenehm, daß er nicht hier schon zu drohen brauchte. Er fragte nur nach jedem Artikel den Bruder: »Ist dem so?« und wenn er ja sagte, winkte er dem Inspektor fortzufahren.

Es kamen vorläufig manche Klagen zur Sprache, von Ungehorsam gegen seine Lehrer, seiner Faulheit, seinem Trotz, wie er ungeachtet seiner vorgeschrittenen Jahre noch auf den Schulbänken der unteren Klassen sitze. Es sei nicht sowohl Unfähigkeit als Unlust. Eine Kontrolle sei zuletzt nicht mehr möglich gewesen, da er einen Tag um den anderen die Lehrstunden versäumt und sich auf der Straße herumgetrieben habe. Des Unfugs, den er angerichtet, gab es genug, der zu Tage lag. Manchen heimlichen Gängen war man nur halb auf die Spur gekommen. Weshalb er indes heut vor dem Familiengericht stand, das war ein Vorfall ganz besonderer Art. Er hatte zu zweien Malen die öffentliche Ordnung gestört, es war Unfug geschehen, und die Behörde hatte sich einlegen müssen, Vorfälle von einer so traurigen Wichtigkeit, daß sie uns, von Zehnen gesehen, verschieden hinterbracht, allmählich bis zum Pünktchen überm i bekannt wurden. Ich teile Ihnen die Sache weniger mit, wie sie damals dem Familiengericht vorgetragen wurde, als wie ich sie mir selbst aus den verschiedenen Erzählungen zusammenreimte. Es war eine prächtige neue Kutsche durch die engen, schmutzigen Gassen der Altstadt gefahren. Die Marktleute sahen verwundert der seltenen Erscheinung nach, bis die Besitzerin, unglücklicherweise von Neugier geplagt, ihren Kopf vorbeugte, und man eine Jüdin erkannte. Einer rief die Entdeckung dem andern zu, und wo die Equipage vorbeifuhr, – es geschah wegen des Marktandranges nur langsam, – erhob sich groß und klein und gaffte, lachte, schrie in den Wagen. Schon folgte ihm ein Troß von Gassenbuben mit Witzen und Spottreden, als am neuen Markte die Passage ganz versperrt wurde. Die Erbitterung des Pöbels steigert sich, je weniger er Widerstand findet. Er nimmt Ruhe seiner Gegner für Verachtung an. Die arme Dame, ganz allein im Wagen, mochte ihren Vorwitz schon bereut haben, und lehnte sich zurück, als der immer dreistere, zahlreichere Pöbel den »Schicksel ans Fenster!« forderte. Sie sollte das Glas niederlassen, sich zeigen. Als es nicht geschah, flogen schon die Kohlstrünke gegen die flimmernden Goldleisten und das blank polierte Leder der Karosse. Man schrie und tobte, und als auch das nichts half, denn die Arme war in halbe Ohnmacht versunken, sprang ein junger mutwilliger Mensch auf den Wagentritt und riß den Kutschenschlag auf. Nun mußte sie wohl hervor; aber weder ihre schneeweiße Haut und die Rosenlippen, noch ihr schöner Wuchs, hervorgehoben durch das üppig den schlanken Leib umwallende schwarze Sammetkleid, durch die Perlen und den getriebenen Silberschmuck im pechschwarzen Haar, das hier und da den Puder unwillig abgestoßen, noch ihre sichtliche Angst in den dunkel glühenden Augen, nichts konnte den Pöbel besänftigen. Man knirschte, jubilierte, zeigte mit dem Finger auf die Zitternde.

Wenn man auch aufgehobene Fäuste gesehen und Fluchworte gehört, so halte man deshalb nicht etwa unsern guten Pöbel für bekehrungssüchtig und intolerant. Nicht der Anblick einer Jüdin, die noch Jüdin war, reizte seine Wut, sondern die stattliche Karosse, in der sie fuhr. In einer Zeit, wo der Luxus auch bei den privilegierten Klassen beschränkt war, konnte und mußte ein solcher Staat und Pomp bei einer nur geduldeten die Gemüter aufreizen. Hatte doch vor kurzem ein reicher Bürgerlicher, der in ähnlichem Aufzuge vor dem Schloß vorüberfahren wollen, eine kränkende Demütigung von dem allem Luxus abholden Könige erfahren. Die Geschichte war von Mund zu Mund gegangen, und was dem Bürger nicht vergönnt war, wollte sich der Jude erlauben! Man wußte bald, es war die Tochter des reichen Agenten Sußmann, die Kutsche war aus London zum Hamburger Tor hereingekommen, man hatte sie als für den Hof bestimmt angestaunt, und nun stolzierte die Tochter eines Ebräers darin, in jenen Tagen mindestens etwas Unvorsichtiges!

»Heraus mit dem Schicksel!« »Zeigt ihr, was Pflaster ist.« – »Am Ende will das Judenpack mit Sechsen fahren und drei Vorreitern!« – »Überfahren möchten sie uns alle,« schrie es. »Unter dem Langarm sie hindurchgeführt, dann kann sie zu Fuß nach Hause laufen,« von solchen Stimmen hallte es rechts und links, so weit sie sehen und hören konnte. – »Heraus!« brüllte der Markt, »wir wollen ihr schon den Weg in die Jüdenstraße weisen.« – Das arme Mädchen war ohne Schutz; ihr reich galonierter Kutscher zitterte auf dem hohen Bock, dem bebänderten Diener, hinten auf, kniffen die Gassenjungen in die Waden, sie zerrten ihn an den Rockschößen, sie fragten ihn, ob er sich nicht schäme, hinterm Judenmädchen auf zu stehen? – Die stumme Schöne verstand nur zu gut, was ihr bevorstand. Sie sah vor sich »den Langarm«, den hölzernen Galgen auf dem Neumarkt, zwar 1740 nur noch mit den Porträts von Bankruttierern und Deserteuren behängt, aber ehedem ein Schandpfahl, vor dem manche Hexe in Person verbrannt war und mancher Jude gebüßt und geblutet hatte. Sie sah den Galgen und sah keine Rettung, wäre nicht Bruder Gottlieb gewesen. Es ist hier etwas dunkel geblieben, und ich glaube nicht mir allein, denn es verlohnte sich nicht, es aufzuhellen. Man wußte nicht, was Gottlieb antrieb sich des Judenmädchens anzunehmen, ob ihre Schönheit, ob etwas mehr, ob er sie nur zufällig, unter den Hökerweibern umherschlendernd, erblickt, oder ob er unter dem Troß ihrem Wagen schon von fern gefolgt war. Darüber hat er weder vor den Lehrern, noch vor der Familie Auskunft gegeben; er räumte nur ein, daß er Kameraden geworben, unter denen, welche seine Beschäftigung teilten, nämlich nichts taten, um sie, wie er sagte: »loszukriegen«. Der junge Tagedieb, der die Jüdin am Arm faßte, war ein Gymnasiast vom grauen Kloster, mit denen die vom Joachimstal in keinem guten Vernehmen lebten. »Sollen wir das ruhig ansehen, daß einer von den grauen Füchsen sich vor uns mausig macht!« feuerte er die um ihn an, und diese, nie geneigt, etwas ruhig anzusehen, wenn es einen tollen Streich galt, waren schnell zur Hand. Im Augenblick, wo das arme Mädchen wirklich schon auf dem Wagentritte stand, sich ängstlich um Hilfe umblickend, rief Gottlieb drohend den wohlbekannten Gegner an, wer ihm das Recht gegeben, die Wagentür aufzumachen? – Was ihn das Judenmädchen angehe, war die Entgegnung in einem Gespräch, das nicht angefangen war, um mit Worten aufzuhören. Gottlieb und der vom grauen Kloster waren Achill und Hektor bei den ihrigen, oft hatten sie schon Faust an Faust sich gemessen. Bald flogen die Bücher des grauen Klostermannes über die Äpfelkörbe der Höker, aber Gottfried selbst, der sie dahin geschleudert, flog zur Vergeltung auf eine Terrasse von Kohlkörben. Gottlieb hatte erprobte Freunde um sich, und auch der andere war, wie es so ausgezeichneten Klassenhelden zukommt, nicht allein. Aber Trojanern und Griechen erwuchs alsbald ein gemeinsamer Feind in den durch ihren Streit gekränkten Hökern. Pöbel und Bürger machten gemeinsame Sache gegen die Raufer und Störenfriede und die Jüdin – war darüber vergessen. Sie konnte sich wieder in die Wagenecke stehlen, und ihr Kutscher fand nach und nach Raum, langsam in eine Seite des neuen Marktes einzulenken. Aber den Rittern für und gegen sie ward es nicht so wohl; zwar schlugen sich Gottlieb und die Seinen, nicht ohne einige Wunden, und Bücher, Knöpfe und Hemdkragen auf der Wahlstatt zurücklassend, noch mit genauer Not durch, aber seinen Achill vom grauen Kloster hatte eine Hökerin zu fest am Zopf gefaßt, und er war unter unsäglichem Jubel der barfüßigen Begleitung nach der Wache abgeführt worden.

»Um eine Jüdin!« rief es hier und dort im Familienkreise, als die Untersuchung so weit gediehen war. Ich muß dabei anführen, daß der gute Inspektor und die zwei oder drei, welche dabei mitsprachen, den Vorfall für die Jüdin nicht so günstig vortrugen, als es vielleicht von mir geschehen ist. Sie bekam beiläufig arge Namen, ihre Schönheit wurde nicht herausgestrichen, und die Sache mit ähnlicher Entrüstung über die Anmaßung des Judenmädchens erzählt, als nur die Leute auf dem Neumarkt sie betrachtet hatten. Die philosophische Sonne, die damals schon mächtig ins Land hereinblickte, hatte noch nicht in unsere Familie geschienen.

»Ungeratener Bube!« unterbrach hier mein Vater die Untersuchung und seine eigene künstliche Fassung. »Was ging dich das Judenmädchen an? Hattest du Mutter und Vater nicht schon genug Kummer gebracht, mußtest du ihnen auch noch die Schande antun?«

Was erwartete ich anderes, als daß Gottlieb eine Antwort geben würde, wie der und jener kühne Paladin aus dem Märchen der alten Suse, wenn sie über eine Brücke ritten, die nicht breiter war als eine Degenscheide, oder mit einem Goliath anbanden, alles um eine gequälte Prinzessin zu befreien. Aber Gottlieb blickte finster vor sich hin und sagte nichts als: I, ich hätt's auch so getan.« Das klang, als wenn er's für sich sprach und an die Versammlung nicht dachte.

Der Vater faßte ihn an die Brust und fragte: »Was hättest du so getan?«

»Ob's 'ne Jüdin ist, das ist mir egal!«

»Egal!« schrie man von allen Seiten, und einige der jungen Damen sahen, kaum es glaubend, auf den Lästerer.

»Gottlieb, lieber Gottlieb, besinne dich, was du gesagt hast,« sprach der Vater, hastig und leise, er hielt ihn noch an der Brust und ich allein hatte es gehört. Der Vater zitterte und es mochte ihm so entfahren sein wie die Träne in seinem Auge, und er hätte doch nachher, ich weiß nicht was, drum gegeben, daß es niemand gehört.

Gottlieb sah nicht die Träne und er hatte es auch wohl nicht recht gehört, was der Vater ihn gebeten. Er sah von ihm weg und auf die Kousine, ein kindisches, geziertes Mädchen, die gerade einer anderen was ins Ohr zischelte und dabei kicherte und auf Gottlieb mit dem Finger wies.

»Nein, nicht egal,« fuhr er heraus. »Um eine Zierliese, die nicht grüßt, wenn ich den Hut abziehe, sich meiner schämt, weil ich 'nen schlechten Rock anhab', und wenn sie auch noch so schön ist, und noch so viel Geld hat, und zehnmal meine Kousine ist, um so eine Zierliese hätt' ich's nicht getan.«

»Gottlieb, Gottlieb!« riefen die Milderen warnend. Es war Öl in die Flamme.

»Und wenn sie zehntausendmal französisch spricht und zehntausendmal meine Kousine ist, sie hätten sie können untern Galgen stellen, so lange sie gewollt, ich hätte keine Hand gerührt.«

Man wandte sich entsetzt ab, einige schauderten. Der Vater hielt sich noch.

»Bedenke, junger, unglücklicher Mensch,« sagte der Inspektor, »vor wem du das sprichst, – die edlen Frauen und Jungfrauen hier –«

»Warum sind sie hier,« unterbrach Gottlieb.

»Lieber, lieber Gottlieb,« flüsterte ich zu ihm hinauf, denn er stand mir so nahe und ich sah das Ungewitter kommen.

»Sieh, wie die edlen Frauen vor Unwillen über deine Rede erröten.«

»Ei was, ich mach' mir nichts draus,« schrie er. »Laß sie doch rot werden vor Bosheit, das Judenmädchen bleibt doch schön und schöner als sie alle zusammen, und wenn sie aus ihrem schwarzen Aug' schaut, dann könnte man für sie ins Feuer springen und das ärgert sie ja nur, daß das keiner für sie tun will. Und besser ist das ordinäre Judenmädchen als alle Frölens und zierige Jungfern in ganz Berlin, denn sie würde nicht herkommen, um mich prügeln zu sehen; nein, das täte sie nicht, denn so schlecht ist sie nicht, ich wollte ja lieber selbst ein Jude um sie werden, als solche zierige Mamsell lieb haben, die kein Herz im Leibe hat.«

Ich konnte lieber glauben, Gottlieb hätte Branntwein getrunken, so heftig polterte das heraus; es war diesmal jedoch nur die Vorstellung, die ihn berauscht hatte. Die Blicke der Frauen sprachen aus, daß dies über ihre Fassungskraft ging. Nur meine Mutter, die einen entschiedenen Widerwillen gegen die Juden hatte, – ein Widerwille, der so weit ging, daß kein Handelsjude ins Haus durfte, daß sie in keinem jüdischen Laden einkaufte, – meine Mutter konnte einen Schrei nicht unterdrücken.

Der Vater hörte es, ein mißbilligender Blick traf meine Mutter und im nächsten Augenblick ein Streich von der Hand des Jähzornigen meines Bruders Backe. Er turkelte zurück, doch des Vaters Arm griff ihn und seine Stentorstimme herrschte ihn an: »Bitte ab.«

»Um des Himmels willen, ich bitte Sie nur um das eine,« kam meine Mutter ihm entgegen, »lassen Sie mich aus dem Spiele. Ich fordere, ich bitte ja sonst nichts.«

Die Familie, nämlich die französische, sah erst sich, dann den Vater an, und der Vater wußte nun, daß er der Bitte nachzukommen hätte. Und doch mochte er sich nicht enthalten, dem Bruder die blaßgewordene Mutter zu weisen: »Sieh, was du angerichtet hast. Wie oft hat diese arme Frau für dich gebeten, und so lohnst du ihr! Wie oft war sie es allein, die eine Züchtigung von dir abwandte, die du doppelt und dreifach verdient, wie oft ging sie in Tränen um dich zu Bett, wie oft stand sie in Tränen um dich auf –«

»Es ist ja doch nicht meine Mutter,« unterbrach Gottlieb.

O, das war schlimm! Des Vaters Gesicht bräunte sich. Es war bis jetzt nur seine saure Pflicht gewesen, der er nachzukommen glaubte, nun stieg der Jähzorn auf. – »Bube! Nein, deine Mutter ist sie nicht, aber sie ist mehr als deine Mutter. Sie hat das Recht, sie hätte es fordern sollen, daß ich dich zur Tür hinauswies, unter der Treppe bettete, auf dem Hofe arbeiten ließ, aber diese milde, engelreine Frau duldete deinen Trotz, sie gab dir noch gute Worte, sie hielt dich wie ihr eigen Kind, litt dich in ihrer Stube –«

»Ja, wie ihren Hund,« brummte Gottlieb.

»Taugenichts!« bebte des Vaters Stimme, aber er hielt inne, er hatte noch die Kraft sich zu zügeln, jedoch nur wie ein starker Mann etwa einen Schleusenflügel hält, er weiß, die Strömung reißt ihn nachher doch fort.

»Warum hat man mich nicht bei meiner Mutter gelassen,« sagte Gottlieb, »wenn sie auch ein schlechtes Weib war, sie hätte mich doch mehr lieb gehabt, und es wär' dann anders gekommen.«

Das war zuviel für den Vater. Der letzte Rest künstlicher Fassung, mit dem er zu Gericht geschritten, war aufgezehrt. Er hielt ihn krampfhaft an der Brust, er hob die Faust, die Augen des Mannes rollten fürchterlich. Aber der Vater stand nicht mehr als patriarchalischer Richter da, er hatte ja ein Familiengericht berufen; konnte man es dulden, daß er seinem Zorne nachgab? Zudem war die Katastrophe des Gerichts noch nicht gekommen, nicht einmal die Untersuchung war zu Ende, es war nur eine kleine traurige Episode, auf die keiner vorbereitet gewesen. Alle zunächst stehende Männer bis auf den Advokaten, der sich vom Fensterbrett nicht wegbewegte und zu allem wohlgefällig lächelte, waren auf und dem Vater in den Arm gesprungen: »Um des Himmels willen! bedenken Sie sich und die Familie.«

Der Vater bedachte das, der deutsche Mann war zu sich selbst gekommen. Er gab ihnen recht, wenn auch nicht mit Worten; er setzte sich wie abgespannt auf seinen Stuhl und winkte dem Inspektor fortzufahren. Während der ganzen folgenden Unterhaltung verhielt er sich still, als gehe ihn die Sache nichts an. Mich dauerte er fast, ich wußte nicht warum. Es hörte auch bald auf. Aber Gottlieb dauerte mich jetzt nicht mehr, ich gönnte ihm etwas, wenn ich gleich bald, als es so über Erwartung arg wurde, über jenen Wunsch erschrak. Meine volle Teilnahme, bis dahin von Gottlieb eingenommen, – ging nun auf die Mutter über, die Gottlieb so beleidigt, die der Vater so wild angesehen, die in all den Familiengesichtern nichts von dem Gefühl widergespiegelt fand, was ihres bewegte. Wie sprach sich die entsetzliche Angst vor dem, was noch kommen sollte, in den leidenden Zügen aus, und was hatte sie schon gelitten! Schmerzliche Eindrücke, von denen man zu anderen Stunden geglaubt, die feine Frau sei nicht imstande sie zu überstehen.

Die Untersuchung ging nun weiter und ich berichte darüber mit den Vorbemerkungen, wie zum ersten Teil derselben. – Eine Art zünftigen Studentengeistes herrscht seit alters unter den Schülern der beiden genannten Gymnasien. Die einem angetane Beleidigung wird bisweilen als allen zugefügt aufgenommen. Auf dem Weihnachtsmarkte, dem fröhlichsten Volksfeste unserer Hauptstadt, gibt es nicht selten kleine Schlachten, wo ganze Klassen verbrüdert ins Feld rücken. Der Schüler vom grauen Kloster war wohl wieder von der Wache entlassen, dafür aber von dem Direktor ins Karzer gesperrt worden. Dies hatte unter seinen Mitschülern einen fürchterlichen Durst nach Rache erweckt. Ihr Achill hatte einsitzen müssen (»brummen« nach dem Kunstausdruck), um einen Alumnus vom Joachimstal! Sie hatten gelobt, einer für alle und alle für einen, die Schmach nicht auf sich sitzen zu lassen, und da es schwer ist, am Berliner Pöbel und noch schwieriger an den Wachtsoldaten Rache auszuüben, gegen den Lehrer und Direktor nur in gewissen Fällen, so sollten die vom Joachimstal es büßen. Solche Verabredungen bleiben nicht lange geheim. Man wußte schon am andern Morgen in der Burgstraße, was vorher in der Klosterstraße beschlossen war, und durch alle Klassen ging der ernste, mit Drohungen begleitete Aufruf an die wehrfähige Mannschaft: sich nachmittags an den Sandbergen der Hasenheide zu stellen. Wir lächeln über den Ernst, aber wo ist die Grenze zwischen Ernst und Spiel? Der Student macht sich lustig über die Ernsthaftigkeit der Schüler, der Mann in Amt und Würde belächelt den blutigen Hader der Studenten, und läßt sich keine reifere Zeit denken, für welche der Zwist der Könige zum Kinderspiel wird? – Es fischt sich überall um etwas; das ist oft im Grunde herzlich wenig. Die Einbildung muß den Schein hinzutun und die Exaltation liefert die besten Waffen.

Die Hasenheide, ein sandiger Kiefernwald auf der südlichen Spreeseite, dort versammelten sich die Helden, dort ward die große Schlacht für Vaterland und Ehre geliefert, welche ebenso gut wie der Protestantismus nach der alten Suse Meinung, in dem Adler- und Geierkampf am abendlichen Horizonte gemeint sein konnte. Von drei Uhr nachmittags bis abends sechs Uhr stritt man, und es floß, wenn auch nicht Blut, doch Schweiß. Die Heldenwelt der Iliade stieg aus ihren Gräbern auf. Man beschimpfte sich, man forderte sich heraus, man pausierte, um sein mitgebrachtes Butterbrot zu essen. Ein Held erlegte ihrer drei, nämlich schwächere, und die Toten standen immer wieder auf, ohne Zauberbeschwörung, da sie nicht in den Styx, sondern nur in weichen, märkischen Sand gefallen waren. Gottlieb war ein grimmiger Hektor gewesen, er hatte gesiegt. Dort standen die Reste des Klosters Posto fassend auf den steileren Sandhöhen, die Rollberge genannt. Von hier galt es sie vertreiben. Höhnisch fragten sie hinunter, ob die anderen Lust hätten für das Judenmädchen raufzuklettern? Mehr brauchte es nicht für Gottlieb: »Dort oben ruhen wir aus,« rief er, schwang die Kieferwurzel; ein Hallo und der Sturm war auf den ersten Ansatz gelungen. Die Verteidiger purzelten und stürzten von der Höhe hinab, mancher von den Siegern mit, es gab Beulen, blutige sogar, zerrissene Kleider, verstauchte Glieder, die Helden knirschten weniger vor Wut, als vor verschlucktem Sand, der Staub wirbelte über ihren Köpfen hoch und verbarg, Siegern und Besiegten, etwas, was wenigstens ebenso schlimm war, als die Höker und der Pöbel auf dem neuen Markt. Eine starke Polizeiwache, von Bürgern und Volk begleitet, war von dem Eifer der Kämpfer unbemerkt durch den Wald herangeschlichen und hatte sie umzingelt. Schon wurde einer nach dem anderen zum Jubel der Bürger nicht sanft gefaßt. Sollte das der Lohn des Siegers bleiben? Mit funkelnden Augen blickte Hektor Gottlieb zwei Äneas um ihn an; sie winkten »ja«. Man wollte nicht allein den Griechen, sondern auch den Göttern widerstehen. Ohne eine neue Schlacht ging es nicht, ein Entwischen hätte den Siegestrunkenen auch Schimpf gedünkt. Man schlug sich, das Wurzelende traf das Kinn des Polizeisergeanten, daß er blutend zurücktaumelte. Der Schreck über das ungeheure Attentat gab ihnen Zeit. Sie brachen durch; verfolgt, gejagt, kam ihnen die Dunkelheit zu Hilfe und Gottlieb hatte die Stadt erreicht, ehe die Nemesis ihn ereilt. Sie ließ ihm auch diesen Abend noch Frist, ihrer Beute gewiß am nächsten Morgen, und der von ihren Furien getriebene Sieger hatte noch Muße, mich aus den Händen des Herrn Maßmann zu befreien.

»Gewalt gegen die königliche Polizei!« Der Oheim Rat schlug die Hände zusammen, der Pate Schlipalius nahm wohlgefällig eine zweite lange Prise, und sein Nachbar hörte ihn schmunzeln: »Das kostet was.«

Freilich hatte es schon etwas gekostet, denn dem verwundeten Sergeanten war noch gestern abend ein hübsches Geldstück ins Haus geschickt worden. Er hatte nun früh am Morgen auf der Stadtvogtei zu Protokoll gegeben, daß er an Nasenbluten leide. Die fiskalische Untersuchung war beseitigt, was half das aber Gottlieb? – Die Familie war entrüstet, das hatte der französische Teil derselben doch nicht erwartet. – »Er bringt uns in Schande und Schmach!« »Unser Name kommt in die Polizeiakten!« »Um einer Jüdin willen stürzt er die Familie ins Unglück!« Es konnte ihm nun und niemals vergeben werden. Sein Urteil war durch alle Instanzen Verdammung! Der Vater erhob sich wieder, langsam, kalt: »Willst du's leugnen?«

»'s ist just so,« entgegnete Gottlieb.

»Hast du sie aufgewiegelt?« – Gottlieb besann sich einen Augenblick und schüttelte dann den Kopf.

»Haben sie dich verführt?« fuhr der Vater fort und trat einen Schritt näher. Seine Brust hob sich. Er war wieder auf einen Augenblick Vater und nicht Richter. Er hoffte.

Aber Gottlieb lachte. – Hätte er doch nicht gelacht!

»Warum machtest du ihren Anführer?«

»Ich sollte sie doch nicht allein lassen,« sprach Gottlieb mit Stolz. »Es war meine Klasse, und ich bin Primus.«

»Ich glaube, er täte es noch einmal,« sagte der Oheim Rat.

»Noch hundertmal!« schrie Gottlieb. »Ich wäre ja ein schlechter Kerl, wenn ich zurückbliebe.«

»Und die Polizei!« rief entsetzt der Oheim Rat; es war, als ob er Gottlieb noch bitten wollte, nicht so ruchlos zu denken.

»Und wenn noch so viel Maulaffengesichter von Sergeanten Nasenbluten kriegen!«

»Gottlieb, und die Familie!«

»Ich mag nichts von der Familie wissen. Sie hat noch nie etwas von mir wissen wollen.«

»Und du sollst doch von der Familie wissen!« sprach der Vater. »Wärst du Sohn von einem Tagelöhner, an der Hecke geboren, hätte ein Fremder dich hier zurückgelassen, um dich allein würde sich keine Hand rühren. Man überließe dich deinem Lose. So schlecht bist du schon. Wenn du barfuß auf der Schwelle lägst, ich ließe dich vom Hausknecht fortjagen. Aber du bist mein Sohn geworden, du bist es nun einmal, und ich muß noch die saure Last tragen. Weil du zur Familie gehörst, die du lästerst, darum nimmt man sich deiner noch einmal an, darum versucht man noch, dich am Rande des Verderbens aufzuhalten, darum spricht man noch einmal zu dir, väterlich, eh es zum äußersten kommt. Höre mich an!«

Gottlieb stand da, die Arme schlaff an der Seite herabhängend, den unverwandten Blick zu Boden gerichtet, und hörte oder hörte nicht.

»Seit du aus der Wiege gekrochen, Gottlieb, hast du mir Kummer gemacht. Ich habe dich strenge gehalten, wie ein rechtschaffener Vater; mir kannst du's nicht zurechnen, daß du ein schlechter Mensch wurdest. Ich habe dir nie etwas verziehen, nie etwas nachgesehen. Was du gewünscht, ich war nie so schwach, es dir zu gewähren. Mein Arm wurde eher wund als dein Rücken; mich klage nicht an einst da oben, daß du so bist, an mir liegt's nicht, Gottlieb. Du wolltest nicht sehen, und willst es noch nicht, wie diese würdige Frau, die eigentlich dich aus dem Hause werfen gesollt, dich als Knabe geschützt und gewartet, wie sie dich erzog, gleich ihrem eigenen Kinde. Du hast ihr mit schrecklichem Undank gelohnt. Soll ich dir die Rechnungen vorhalten, was du mich gekostet? Soll ich dir all die verbitterte Lust nachrechnen, wenn eine Klage die andere verdrängte, die unruhigen Abende, wenn ich auf dich wartete, und man dich nach Hause schleppte wie einen Missetäter, soll ich dir die grauen Morgen vormalen, die du mir gemacht? Gottlieb, der Verdruß, den du Vater und Mutter verursacht, wird einmal ein Berg werden auf deinem Grabe. Aber das ist nur das Kleinste, das waren nur deine Knabensünden. Nun hast du angefangen, wo es zum Galgen ausgeht. Denke nicht, weil ich jetzt weich spreche, daß ich dich damit werde laufen lassen; zu deinem Besten will ich so handeln, daß du sagen sollst, ich wäre vorher weich gegen dich gewesen. – Aber mein Vaterherz wünscht, daß du zuvor noch in dich gehst, daß du mir dankst. – Sieh um dich her, die ehrbare Familie, die du so oft gekränkt, noch in diesem Augenblick. Ehe ich dich ausstoße und dich einem neuen Schicksal überlasse, gebe ich dir noch ein Mittel zur Buße. Man hat für dich gebeten, – bedenke, was das heißt: für dich gebeten! – Den Kopf auf. Sieh die achtbaren, ehrwürdigen Frauen und Herren, die um dich das gelitten, sieh sie dir an und dann falle auf deine Knie. Rutsche umher von einem zum anderen und flehe zu jedem, daß sie dir ihre Hand reichen, daß du sie küssen, baß du ihnen abbitten darfst, was du ihnen angetan hast.«

Es glänzte was von einer Träne in Gottliebs Auge. Er schlug die Wimpern auf und schaute sich um, aber schnell wischte er das Naß weg. Sein Knie hatte gezittert, jetzt stand er wieder kerzengrad und rührte kein Glied.

»Auf die Knie, Bube, und bitte ab!«

Er schüttelte mit dem Kopf.

»Gottlieb! Zum letzten und zum ersten Male bittet dich dein Vater.« – Seine Stimme zitterte.

»Ich tu's nicht.«

Der Oheim Rat ergriff Hut und Stock, drückte dem Vater die Hand und verließ, sich etwas gegen die Damen verbeugend, schnell das Zimmer. Gottlieb war geliefert. Nun war keine Gnade mehr. Der Oheim war der sanfteste von der Familie.

Ich erwartete, als der Vater jetzt winkte, die Röhrchen würden hereingebracht werden. Statt dessen aber wurde Gottlieb selbst abgeführt. Es war eine Totenstille im Zimmer. Ich sah auf meine Mutter; sie hielt das Tuch ans Gesicht. Der Kopf ruhte auf der Stuhllehne. Mein Vater verbarg sein Gesicht an der Scheibe, die großen Muhmen wehten sich mit ihren Fächern an. Niemand sprach ein Wort, und wie fürchterlich lebendig war doch die Unterhaltung, die von draußen hereinklang! – Einige Gesichter, es sei zu ihrer Ehre gesagt, blickten fragend hin, wie weit das gehen solle? Stephanie schmiegte sich zitternd an mich, aber der Pate Advokat hinter mir murmelte: »Er muckst noch nicht.« Da entfuhr dem Armen, schon unter den Händen des zweiten Peinigers, ein flüchtiger Schmerzenslaut. Die Tante Rätin sprang vom Kanapee auf und faßte den Vater am Arm: »Um Gottes Willen, Herr Schwager, jetzt halten Sie inne!«

Der Inspektor war hinausgeeilt und kehrte mit Gottlieb zurück. Seine Backe blutete etwas, er sah noch trotziger als vorhin aus. Er schüttelte sich, aber von Zerknirschung war nichts in seinem Gesichte.

»Willst du nun abbitten?«

Auf allen Gesichtern ängstliche Spannung; mit halb geöffneten Munde, den Kopf vor, stierte man auf ihn. Auch die hartherzigsten, auch die großen Kousinen hatten doch jetzt nur einen Wunsch. Der Vater sah nicht hin; die Hände unwillkürlich auf dem Schoß gefaltet, lauschte er mit verhaltenem Atem. Ein Liebender, mein' ich, kann nicht ängstlicher auf das Jawort warten. Gottlieb fuhr mit der linken Hand über den Rücken, schaute sich um, und seine Stimme hat mir nie so roh geklungen, als die drei Silben jetzt: »Ich tu's nicht.«

Es überlief mich eiskalt, ich glaube, jeder bis auf den Herrn Paten, auch die große Kousine, fuhr doch zusammen. Nur der Vater nicht. Er schien mir zu wachsen, wie er sich aufhob, aber der Mensch war fort, es war ein Richter geworden von Stein oder Erz. Er sprach kein Wort, aber er winkte. Die Tante sprang noch einmal auf und umfaßte seinen Arm: »Mein Gott, Sie wollen ihn doch nicht totschlagen lassen?«

Die Tür öffnete sich abermals, und die beiden großen Unteroffiziere traten ein. Sie hielten keinen Stock, kein Röhrchen, nur über dem Arm des einen hing eine blaue Jacke mit roten Aufschlägen. Wer hätte nicht gewußt, was das zu bedeuten hatte; aber wohl nicht alle hatten vermutet, daß es bis dahin kommen würde. – Der Unteroffizier probierte mit einem Zollstabe an Gottliebs Körper.

»Er hat das Maß,« sagte er und trat zurück.

Gottlieb hatte das Maß, damit war es ausgesprochen: er gehörte nicht mehr der Familie an. Noch jetzt meine Verehrtesten, trotz der Glorie, die jedes Haupt eines preußischen Kriegers umstrahlt, kennen Sie das Schrecken in bürgerlichen Familien, wenn es an die Türe der Eltern pocht, die einen kantonpflichtigen Sohn haben. Man betrachtet den Gerufenen als einen doppelt Verlorenen. Einmal geht er dem Tode entgegen; aber der Tod der Kugel ist nur der Tod des Leibes. Es gibt noch einen anderen des Geistes. Wenn er wiederkehrte, was soll der Verwilderte im friedlichen Bürgerhause? Und, sonderbar, betrachtete man gerade bei uns das Unterstecken ins Regiment als das fast letzte Korrektionsmittel für ungeratene Söhne, auf die keine sanftere Züchtigung mehr wirken will. Ein unbestimmtes Herkommen läßt den Vätern diese alte patriarchalische Gewalt. Sie sprechen mit einem Regimentskommandeur, und wie dieser die Befugnis hat, kantonpflichtige Söhne zu entlassen, kann er auch ihm freiwillig Verhandelte enrollieren. Es ist eine letzte Kur auf Tod und Leben, oder besser, man entledigt sich so auf die wohlfeilste Weise eines Familiengliedes, welches nur Kosten, Sorgen, Schande verursacht. Was der Soldat tut, fällt nicht mehr auf die Familie zurück. Ich glaube, daß kein Gesetz diese hausväterliche Macht billigt. Sie ist aus dunkler Tradition herübergekommen und verdient gewiß, wie so viele Mißbräuche in unserem Jahrhundert der Aufklärung und der Philosophie, ausgetilgt zu werden.

Meine geneigten Leser wissen, welche Metamorphose in den zwanzig Jahren seit 1740 mit dem preußischen Soldaten vorgegangen. Es war kein Name mehr, der nur dunkle, widerwärtige Bilder weckt. Der Funke des Prometheus ist in die stolze Marionette gefahren. Das war damals anders. Der Gedanke an Ehre, an Auszeichnung lag sehr fern. Man dachte nur an Faulenzer, zusammengelaufenes oder -getriebenes Gesindel von allerwärts her, preisgegeben einer bleiernen Disziplin, und doch allen rohen Lastern des Müßiggangs. Dahin war Gottlieb ausgestoßen, und Sie begreifen, daß der vorige rohe Auftritt, vielleicht für viele meiner zarten Leserinnen empörend, in seiner moralischen Wirkung gering gegen den war, der nun vor uns lag.

Der Vater winkte den Unteroffizieren; sie breiteten die Montur aus.

»Sieht Er, Bube, dort! Das ist ein neues Haus für Ihn, weil Ihm seines Vaters nicht gefällt! Seines Vaters Haus war für Ihn zu eng, probier Er's, ob das weiter ist! – Es sind nur drei kurze Schritte, Gottlieb, und Er ist aus der Familie, von der Er nichts wissen wollte. Ich bitte Ihn nun nicht mehr, es soll Ihn niemand mehr bitten, es soll keine Träne mehr um Ihn fließen, ich werde nicht mehr des Nachts auf Ihn warten, des Morgens soll Er mir nicht mehr Wermut in den Kaffee tröpfeln, seinen Namen streich ich aus der Hausbibel, an seinem Geburtstage soll man fasten. Nun hat Er die Wahl, nun geh Er, geh Er schnell –«

Gottlieb ging nicht, aber wie er da stehen blieb, das war so schlimm, als wenn er gegangen wäre. Seine Hände krümmten sich, sein Arm rührte sich nicht; auf seinen zusammengebissenen Zähnen stand aber geschrieben: »Ich tu's doch nicht.«

»Wenn er nicht kommt, so geht ihr nur zu ihm. Es ist ein vornehmer Herr.«

Die beiden Korporale hatten ihn am Kragen gefaßt. Noch einmal blickte ihn der Vater von der Seite an; es war noch etwas von Erwartung im Auge, ein letzter matter Schein von Hoffnung. Aber die späte Reue kam nicht. Er wandte sich schnell nach dem Fenster. Nun rissen sie meinem Bruder wie einem Gliedermann, so regungslos ließ er es mit sich geschehen, die Jacke vom Leibe und zogen ihm die Montur, die nicht sitzen wollte, an. Die Frauen wandten sich ab, Stephanie und ich, wir weinten Arm in Arm bitterlich. Gottlieb war den Unteroffizieren unerwartet zu Hilfe gekommen. Auf einen starken Ruck mit beiden Armen saß die enge Montur, aber die Naht platzte. Sie meinten, das täte nichts, knöpften ihn zu und nun war er – ein Soldat.

Mit einer Stimme, die aus dem Grabe kam, eiskalt, tonlos, – Gott weiß, wie das im Augenblick kam, ich dachte an die nasse Luft, die mich einmal unten in den Rüdersdorfer Kalkbrüchen angeweht hatte, – so redete ihn der Vater an: »Dahin hat Er's nun gebracht, aber Er wird's noch weiter bringen. Aus meinem Haus ist Er verstoßen, aus der Familie ausgeschieden, Er gehört nicht mehr dazu. Was Er mir zu melden hat, geht durch den Feldwebel. – O, wir werden bald von Ihm hören. Nun ist Er der Zucht ledig. Nun wird Er, wenn Er nicht unter der Muskete steht, dem lieben Gott die Tage stehlen, auf den Promenaden im Sonnenschein liegen, die Bürger foppen und ehrsame Frauen insultieren. Nun kann Er sich balgen nach Herzenslust in den Branntweinschenken und sich an liederliche Dirnen hängen. Des Tages wird er saufen und knöcheln und nachts werden sie ihn ausziehen. Nicht mehr anständige Bürger, der Korporal wird ihn nach Hause schleppen. Um den rotgeschminkten Vetteln was in die Schürze zu werfen, um von ihnen betrogen zu werden, wird Er betrügen. Vom Betrügen ist nur ein Schritt zum Stehlen. Unter den Fuchteln wird Er sich sehnen nach der Züchtigung seines Vaters. O, hätt' ich doch stärker geschlagen, – hätt' ich – – es wäre doch nicht dazu gekommen! Aber dabei bleibt's noch nicht stehen. O, Er will weiter, Er will höher hinaus. Nach dem Galgen geht er geradeswegs. Wenn Er Spießruten läuft, wenn der Boden unter Ihm brennt, wenn das Blut Ihm vom Rücken träufelt, wenn die Fetzen Ihm herunterhängen, dann denke Er –«

Ein Aufstand unter den Frauen unterbrach hier den Vater. Meine Mutter, die keine Träne vergossen hatte, war einem langen Kampfe mit der Ohnmacht erlegen. Sie war vom Stuhl gesunken. Geschrei, Verwirrung. Man suchte sie aufzurichten, man rief nach Riechwasser. Der Vater tat nichts, er konnte nichts tun; auch seine Kraft war hin. Er sank blaß in den Stuhl, die Augen stier vor sich hin, indes der Mann der einen großen Kousine das Riechfläschchen, das ihm seine Frau gab, der Mutter hinhielt. Die große Kousine selbst winkte ihrer Schwester und meinte, es sei Zeit zu gehen, als die Tante Rätin ihre Schwägerin hinausführte.

Noch während der Verwirrung rief der Pate Advokat die Dienstboten herein, die, auch bestimmt im Nachspiel des großen Familienakts eine Rolle zu spielen, schon bereit standen. Er übernahm die des Vaters. Er zeigte ihnen den verlorenen Sohn, er sagte ihnen, daß er nicht mehr der Sohn sei, daß er nicht ins Haus gehöre, daß er nicht mehr über die Schwelle treten, daß niemand ihm die Tür öffnen, ja nicht mal eine Botschaft von ihm annehmen dürfe. Und mit besonderem Vergnügen setzte der Pate die Drohung hinzu, wer dem nicht pünktlich nachkomme, werde fortgejagt.

Die Dienstboten hörten mit stummer Scheu zu. Gottlieb stand noch immer in der Mitte des Zimmers. Doch war eine Veränderung mit ihm vorgegangen. Der Trotz von vorhin hatte eine andere Farbe angenommen, seit er des Königs Kleid trug. Stramm, wie ein gedienter Soldat stand er da, größer dünkt mich als früher, und sah dem Vater, dem grausamen Vater, dessen Regiment nun aus war, dreist ins Gesicht. Der Vater sah ihn nicht wieder an.

Christel mußte dem Gottlieb ein Stück Brot geben. Es sei das letzte aus seines Vaters Hause, verdolmetschte der Advokat die symbolische Handlung. Er solle sich nun noch einmal die Wände ansehen, wo er geboren, wo er erzogen worden, es sei das letzte Mal. Gottlieb sah sich die Wände an, von allen Anwesenden keinen einzigen. Es trat keine zweite Träne in sein Auge. »Kehrt!« kommandierte der Unteroffizier, »Marsch!« der andere, und Gottlieb ging aus seines Vaters Hause. Mir war es lieb, denn ich hatte vor etwas Angst: daß er bleiben könnte, bis alle die anderen fortgegangen, und wie sollte Gottlieb und der Vater, wenn sie allein waren, sich ansehen!

Der Vater bat den Advokaten, an seiner Stelle den Fortgehenden für Teilnahme und Aufmerksamkeit zu danken. Er stand auch auf, er verbeugte sich gegen jeden, tief, tief, aber er sprach kein Wort, und ich glaube, er kannte keinen von ihnen.


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