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Das Asyl

Die Nachricht vom Kriegsausbruch trifft Romain Rolland in Vevey, der kleinen altertümlichen Stadt am Genfer See. Wie fast jeden Sommer, so hat er auch diesen in der Schweiz verbracht, der Wahlheimat seiner wichtigsten und schönsten Werke; hier, wo die Nationen einander brüderlich in einem Staat umfassen, wo sein Johann Christof zum erstenmal den Hymnus der europäischen Einheit verkündet, erfährt er die Nachricht von der Weltkatastrophe.

Sein ganzes Leben erscheint ihm mit einemmal sinnlos: umsonst also die Mahnung, umsonst die zwanzig Jahre leidenschaftlicher unbelohnter Arbeit. Was er seit frühester Kindheit gefürchtet, was er den Helden seiner Seele, Olivier, 1898 aufschreien ließ als innerste Qual seines Lebens: »Ich fürchte so sehr den Krieg, ich fürchte ihn schon lange. Er ist ein Alpdruck für mich gewesen und hat meine Kindheit vergiftet,« das ist plötzlich aus dem prophetischen Angsttraum eines Einzigen Wahrheit für hundert entsetzte Millionen Menschen geworden. Daß er um die Unvermeidlichkeit dieser Stunde prophetisch gewußt hat, mindert nicht seine Qual. Im Gegenteil, indes die anderen sich eilig betäuben mit dem Opium der Pflichtmoral und den Haschischträumen des Sieges, blickt er mit grausamer Nüchternheit in die Tiefe der Zukunft. Sinnlos scheint ihm seine Vergangenheit, sinnlos das ganze Leben. Er schreibt am 3. August 1914 in sein Tagebuch: »Ich kann nicht weiter. Ich möchte tot sein. Denn es ist entsetzlich, inmitten einer wahnwitzigen Menschheit zu leben und ohnmächtig dem Zusammenbruch der Zivilisation zuzusehen. Dieser europäische Krieg ist die größte Katastrophe seit Jahrhunderten, der Einsturz unserer teuersten Hoffnungen auf eine menschliche Brüderschaft.« Und einige Tage später, in nur noch gesteigerter Verzweiflung: »Meine Qual ist eine so aufgehäufte und gepreßte Summe von Qualen, daß ich nicht mehr zu atmen vermag. Die Zerschmetterung Frankreichs, das Schicksal meiner Freunde, ihr Tod, ihre Wunden. Das Grauen vor all diesen Leiden, die herzzerreißende Anteilnahme an den Millionen Unglücklichen. Ich fühle einen moralischen Todeskampf beim Schauspiel dieser tollen Menschheit, die ihre teuersten Schätze, ihre Kräfte, ihr Genie, die Glut heroischer Aufopferung dem mörderischen und stupiden Götzen des Krieges opfert. Oh, diese Leere von jedem göttlichen Wort, jedem göttlichen Geist, jeder moralischen Führung, die jenseits des Gemetzels die Gottesstadt aufrichten könnte. Die Sinnlosigkeit meines ganzen Lebens vollendet sich jetzt. Ich möchte einschlafen, um nicht wieder aufzuwachen.«

Manchmal in dieser Qual will er hinüber nach Frankreich, aber er weiß, daß er dort nutzlos wäre; für militärischen Dienst hat schon der schmale zarte Jüngling nie gezählt, der Fünfzigjährige noch viel weniger. Und einen Schein auch nur der Kriegshilfe zu erwecken, widerstrebt seinem Gewissen, das, erzogen in den Ideen Tolstois, sich gefestigt hat zu eigenen klaren Überzeugungen. Er weiß, daß auch er Frankreich zu verteidigen hat, aber in einem andern Sinn der Ehre als die Kanoniere und die haßschreienden Intellektuellen. »Ein großes Volk«, sagt er später in der Einleitung seines Kriegsbuches, »hat nicht nur seine Grenzen zu verteidigen, sondern auch seine Vernunft, die es bewahren muß vor all den Halluzinationen, Ungerechtigkeiten und Torheiten, die der Krieg mit sich bringt. Jedem sein Posten: den Soldaten die Erde zu verteidigen, den Männern des Gedankens den Gedanken ... Der Geist ist nicht der geringste Teil eines Volksbesitzes.« Noch ist er sich in diesen ersten Tagen der Qual und des Entsetzens nicht klar, ob und bei welchem Anlaß ihm das Wort notwendig sein wird: aber er weiß schon, daß er es nur in einem Sinne gebrauchen wird, im Sinne der geistigen Freiheit und übernationalen Gerechtigkeit.

Gerechtigkeit aber braucht selber Freiheit des Blickes. Nur hier, in neutralem Land konnte der Historiker der Zeit alle Stimmen hören, alle Meinungen empfangen – nur hier war Ausblick über den Pulverdampf, den Qualm der Lüge, die Giftgase des Hasses: hier war Freiheit des Urteils und Freiheit der Aussprache. Vor einem Jahre hatte er in Johann Christof die gefährliche Macht der Massensuggestion gezeigt, unter der in jedem Vaterland »die gefestigten Intelligenzen ihre sichersten Überzeugungen hinschmelzen fühlten« –, keiner wie er kannte so gut »die seelische Epidemie, den erhabenen Wahnsinn des Kollektivgedankens«. Eben deshalb wollte er frei bleiben, sich nicht berauschen lassen von der heiligen Trunkenheit der Massen und sich von niemand führen lassen als von dem eigenen Gewissen. Er brauchte nur seine Bücher aufzuschlagen, um darin die warnenden Worte seines Olivier zu lesen: »Ich liebe mein teures Frankreich; aber kann ich um seinetwillen meine Seele töten, mein Gewissen verraten? Das hieße mein Vaterland selbst verraten. Wie könnte ich ohne Haß hassen? Oder ohne Lüge die Komödie des Hasses spielen?« Und jenes andre unvergeßliche Bekenntnis: »Ich will nicht hassen. Ich will selbst meinen Feinden Gerechtigkeit widerfahren lassen. Inmitten aller Leidenschaften will ich mir die Klarheit des Blickes bewahren, um alles verstehen und alles heben zu können.« Nur in der Freiheit, nur in der Unabhängigkeit des Geistes dient der Künstler seinem Volke, nur so seiner Zeit, nur so der Menschheit: nur Treue gegen die Wahrheit ist Treue gegen das Vaterland.

Was der Zufall gewollt, bestätigt nun der bewußte Wille: Romain Rolland bleibt in der Schweiz, im Herzpunkt Europas fünf Jahre des Krieges, um seine Aufgabe zu erfüllen, »de dire ce qui est juste et humain,« zu sagen »was gerecht und menschlich ist«. Hier, wo der Wind aus allen Ländern hinweht, die Stimme selbst wieder frei die Grenzen überfliegt, keine Fessel das Wort bindet, dient er seiner unsichtbaren Pflicht. Ganz nahe schäumt in unendlichen Blutwellen und schmutzigen Wogen von Haß der Wahnsinn des Krieges an die kleinen Kantone heran; doch auch im Sturme deutet unerschütterlich die Magnetnadel eines menschlichen Gewissens zum ewigen Pol alles Lebens zurück: zur Liebe.


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