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Der Vorbereitete

Es mindert nicht das moralische Verdienst Romain Rollands, es entschuldigt nur vielleicht ein wenig die anderen, wenn man feststellt, daß Rolland wie kein anderer Dichter der Zeit innerlich auf den Krieg und seine Probleme vorbereitet war. Blickt man rückläufig heute in sein Werk, so wird man erstaunt gewahr, daß es von allem Anbeginn wie eine ungeheure Pyramide in vielen Jahren der Arbeit der einzigen Spitze entgegengebaut ist – jener Spitze, in die dann der Blitz, vom Polaren angezogen, einschlägt: der Krieg. Seit zwanzig Jahren kreist das Denken, das Schaffen dieses Künstlers unablässig um das Problem des Widerspruchs von Geist und Gewalt, Freiheit und Vaterland, Sieg und Niederlage: in hundertfachen Variationen, dramatisch, episch, dialogisch, programmatisch, durch Dutzende von Figuren hat er das Grundthema abgewandelt; kaum bietet die Wirklichkeit ein Problem, das Christof und Olivier, Aërt und die Girondisten nicht in ihren Diskussionen zumindest gestreift und gestaltet hätten. Geistig ist sein Werk das wahre Manövrierfeld aller Motive des Krieges. Darum war Rolland innerlich schon fertig, als die anderen anfingen, sich mit den Geschehnissen auseinanderzusetzen. Der Historiker hatte die ewige Wiederholung der typischen Begleiterscheinungen, der Psychologe die Massensuggestion und die Wirkung auf das Individuum festgestellt, der moralische Mensch, der Weltbürger, längst sein Credo geschaffen: so war Rollands geistiger Organismus gegen die Infektion des Massenwahns und die Ansteckung der Lüge gewissermaßen immunisiert.

Aber es ist eben kein Zufall, welche Probleme sich der Künstler stellt: es gibt keine »glückliche Stoffwahl« beim Dramatiker, der Musiker »findet« nicht eine reine Melodie, sondern er hat sie in sich. Die Problematik erschafft den Künstler, nicht der Künstler die Probleme, die Ahnung den Propheten, und nicht der Prophet die Ahnung. Wahl ist beim Künstler immer Bestimmung. Und der Mann, der das wesentliche Problem einer ganzen Kultur, einer tragischen Epoche im voraus erkannt hatte, mußte naturgemäß in entscheidender Stunde (obzwar sie es nicht ahnte) der Wesentliche für sie sein. Es war sinnbildlich, daß gerade die Lehrer der Weisheit, die systematischen Deuter, die Philosophen hüben und drüben, Bergson ebenso wie Eucken und Ostwald versagten, weil sie ihre ganze geistige Leidenschaft jahrzehntelang einzig an die abstrakten Wahrheiten, die »verités mortes« gewandt hatten, indes Rolland – als Systematiker ihnen unendlich unterlegen – mit seiner »intelligence du coeur«, seiner Herzensklugheit, die Erkenntnis der »verités vivantes«, der lebendigen Wahrheiten, antizipierte. Jene hatten für die Wissenschaft gelebt und waren darum kindlich oder knabenhaft vor den Wirklichkeiten, indes Rolland, der immer nur für die atmende Menschheit gedacht, in Bereitschaft war. Nur wer den europäischen Krieg wissend als den Abgrund gesehen, dem die wilde Jagd der letzten Jahrzehnte, jede Warnung überrasend, zustürmte, nur der konnte seine Seele gewaltsam zurückreißen, im Chor der Bacchanten mitzustürmen und trunken vom Chor und den betäubenden Paukenschlägen, sich das blutige Tigerfell umzuwerfen. Nur der konnte aufrecht stehen im größten Sturm des Wahns, den die Weltgeschichte kennt.

So steht Rolland nicht erst in der Stunde des Krieges, sondern von allem Anbeginn im Gegensatz zu den anderen Dichtern und Künstlern der Zeit – daher auch die Einsamkeit seiner ersten zwanzig Schaffensjahre. Daß dieser Gegensatz seiner Problematik sich aber nicht offen kundtat, sondern erst im Kriege zur Kluft wurde, lag darin, daß die tiefe Distanz, die Rolland von seinen geistigen Zeitgenossen scheidet, viel weniger eine der Gesinnung als des Charakters war. Fast alle Künstler erkannten ebenso wie er vor dem apokalyptischen Jahr den europäischen Bruderkrieg als ein Verbrechen, eine Schmach unserer Kultur, mit ganz wenigen Ausnahmen waren sie Pazifisten oder meinten es zu sein. Denn Pazifismus heißt nicht nur Friedensfreund sein, sondern Friedenstäter, »εἰϱηνοποιός« wie es im Evangelium heißt; Pazifismus meint Aktivität, wirkenden Willen zum Frieden, nicht bloß Neigung zur Ruhe und Behaglichkeit. Er meint Kampf und fordert wie jeder Kampf in der Stunde der Gefahr Aufopferung, Heroismus. Jene aber kannten nur einen sentimentalen Pazifismus, Friedensliebe im Frieden, sie waren Friedensfreunde, wie sie wohl auch Freunde des sozialen Ausgleichs, der Menschenliebe, der Abschaffung der Todesstrafe waren – Gläubige ohne Leidenschaft, die ihre Meinung lose trugen wie ein Kleid, um es in der Stunde der Entscheidung dann gegen eine Kriegsmoral auszutauschen und irgendeine nationale Uniform der Meinung anzuziehen. Im tiefsten wußten sie ebenso wie Rolland das Rechte, sie brachten es nur nicht bis zum Mut ihrer Meinung, Goethes Wort an Eckermann verhängnisvoll bestätigend: »Mangel an Charakteren der einzelnen forschenden und schreibenden Individuen ist die Quelle alles Übels unserer neueren Literatur«.

Das Wissen um die Dinge hat also Rolland nicht allein gehabt – das teilte er mit manchem Intellektuellen, manchem Politiker –, aber bei ihm verwandelt sich jede Erkenntnis in religiöse Leidenschaft, jeder Glaube in Bekenntnis, jeder Gedanke in Tat. Daß er seiner Idee gerade dann treu geblieben, als die Zeit sie verleugnete, daß er den europäischen Geist verteidigte gegen alle die rasenden Heerhaufen der einstmals europäischen und nun vaterländischen Intellektuellen, ist ein Ruhm, der ihn einsam macht unter den anderen Dichtern. Kämpfend wie immer seit seiner Jugend für das Unsichtbare gegen die ganze wirkliche Welt, hat er neben das Heldentum der Reiterattacken und der Schützengräben ein anderes, uns höheres gestellt: den Heroismus des Geistes neben den Heroismus des Blutes, und uns das wunderbare Erlebnis geschenkt, inmitten des Wahns der trunken getriebenen Massen einen freien wachen menschlichen Menschen zu sehen.


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