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Die Zeit wird kommen

(1902)

Nur einmal noch verlockt (ein wenig geglücktes Werk dieser Jahre »La Montespan« fügt sich nicht in die Reihe seiner großen Bemühung) die Zeit Romain Rolland zu dramatischer Auseinandersetzung. Noch einmal wie im Dreyfusprozeß sucht er politischem Geschehnis die moralische Essenz zu entpressen, ein Erlebnis der Zeit in einen Konflikt des Gewissens zu erheben. Der Burenkrieg ist nur sein Vorwand, wie die Revolution für seine Dramen nur ein seelischer Schauplatz war: in Wahrheit spielt diese Tragödie vor ewiger Instanz, der einzigen, die Rolland anerkennt, dem Gewissen. Dem Gewissen des Einzelnen und der Welt.

»Le temps viendra« ist die dritte, die eindringlichste Variation des früh schon angeschlagenen Zwiespalts von Überzeugung und Pflicht, Staatsbürgertum und Menschlichkeit, des nationalen und des freien Menschen. Ein Kriegsdrama des Gewissens im Kriege der andern. Im »Triomphe de la Raison« hieß die Frage, »die Freiheit oder das Vaterland«, in »Les Loups« »die Gerechtigkeit oder das Vaterland«. Hier ist sie nun im höchsten Sinne gestellt, »das Gewissen, die ewige Wahrheit oder das Vaterland«. Die Hauptgestalt (nicht der Held) ist Clifford, der Führer der Invasionsarmee. Er führt Krieg, einen ungerechten Krieg (welcher Krieg ist gerecht?), aber er führt ihn mit seinem strategischen Wissen, nicht mit seinem Herzen. Wem bewußt wurde, »wieviel Abgelebtes schon im Kriege ist«, der weiß, daß man Krieg nicht wahrhaft führen kann ohne Haß, und ist schon zu reif, um hassen zu können. Er weiß, man kann nicht kämpfen ohne Lüge, nicht töten ohne die Menschlichkeit zu verletzen, kein militärisches Recht schaffen, wo das Ziel ein Unrecht ist. Ein eherner Kreis des Widerspruchs kettet ihn ein. »Obéir à ma patrie? Obéir à ma conscience?« – »Soll ich meinem Vaterland gehorchen oder meinem Gewissen?« Man kann nicht siegen, ohne Unrecht zu tun und darf nicht Feldherr sein ohne den Willen zum Sieg. Er muß ihr dienen und verachtet sie, die Gewalt, die seine Pflicht ist. Er kann nicht Mensch bleiben ohne zu denken und kann nicht Soldat bleiben mit seiner Menschlichkeit. Vergeblich sucht er Milderungen im Brutalen seiner Aufgabe, vergeblich Güte inmitten der Blutbefehle und weiß doch selbst, »es gibt Abstufungen im Verbrechen, aber es bleibt ein Verbrechen«. Rings um diesen tragisch leidenden Menschen, der schließlich nicht sich, sondern den das Schicksal bezwingt, sind die andern Figuren in pathetischer Klarheit gestellt, der Zyniker, der nur den nackten Vorteil des Landes sucht, der passionierte militärische Sportsmann, die dumpfen Gehorcher, der sentimentale Ästhet, der die Augen für alles Peinliche zudrückt und die Tragödie der andern als Schauspiel erlebt: und hinter ihnen allen der Geist der Lüge unserer Menschheit, die Zivilisation, das geschickte Wort, das jedes Verbrechen entschuldigt und seine Fabriken über Gräber baut. Ihr gilt die Anklage, die auf dem ersten Blatte steht und das Politische ins Allmenschliche erhebt: »Dieses Drama verurteilt nicht eine einzelne Nation, sondern Europa.«

Der wahre Held dieses Dramas aber ist nicht der Sieger von Südafrika, der General Clifford, sondern der freie Mensch, der italienische Freiwillige, ein Weltbürger, der in den Kampf gezogen war, um die Freiheit zu verteidigen, und der schottische Bauer, der das Gewehr weglegt und sagt: »Ich töte nicht mehr.« Die beiden, die kein anderes Vaterland haben als das Gewissen, keine andere Heimat als ihr Menschtum. Die kein Schicksal anerkennen als jenes, das der freie Mensch sich schafft. Mit ihnen, den Besiegten, ist Rolland (immer ist er bei den freiwillig Besiegten), und aus seiner Seele bricht der Schrei: »Ma patrie est partout où la liberté est menacée.« »Meine Heimat ist überall, wo die Freiheit bedroht ist.« Aërt, der heilige Ludwig, Hugot, die Girondisten, Teulier, der Märtyrer der »Wölfe«, sie sind alle Brüder seiner Seele, Kinder seines Glaubens, daß der Einzelne in seinem Willen immer stärker ist als die Zeit. Und immer höher und immer freier schwingt dieser Glaube sich auf. In den früheren Dramen sprach er noch zu Frankreich, dies letzte Schauspiel ist schon Aufschwung, sein Bekenntnis zum Weltbürgertum.


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