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Geheimnis der Gestalten

Der Roman selbst hat keine Vorbilder in der Literatur, wohl aber seine Gestalten in der Wirklichkeit. Der Historiker in Rolland zögert nicht, einzelne Charakterzüge seiner Helden Biographien großer Männer zu entnehmen, manchmal auch die Porträts den Zeitgenossen anzunähern: in einem ganz eigenartigen, von ihm erst erfundenen Prozeß bindet er thematisch Erfundenes mit geschichtlich Verbürgtem, kombiniert einzelne Eigenarten zu neuer Synthese. Seine Charakterzeichnung ist oft mehr Bindung als Erfindung, er paraphrasiert als Musiker – immer ist sein Schöpfungsprozeß im letzten ein musikalischer – thematisch leichte Anklänge, ohne sie aber vollkommen nachzubilden. Oft meint man wie in einem Schlüsselroman schon eine Gestalt an besonderen Merkzeichen zu erkennen, da gleitet sie über in andere Gestalt: und so ist aus hundert Elementen jede Figur als neues gebildet.

Johann Christof selbst scheint vorerst Beethoven zu sein – Seippel hat ausgezeichnet die Beethoven-Studie eine »préface«, eine Vorrede des Johann Christof genannt – und tatsächlich sind die ersten Bände ganz nach dem Bilde des großen Meisters geformt. Aber bald erkennt man, daß im Johann Christof mehr versucht ist: die Quintessenz aller großen Musiker. Alle Gestalten der Musikgeschichte sind gleichsam summiert, und aus dieser Summe ist die Wurzel gezogen. Beethoven, der Größte, ist nur der Urklang darin. In seiner Heimat, am Rhein, wächst Johann Christof auf, auch seine Ahnen stammen aus flandrischem Geschlecht, auch seine Mutter ist Bäuerin, sein Vater ein Trunkenbold – nebenbei finden sich in dieser Gestalt manche Wesenszüge Friedemann Bachs, des Sohnes Johann Sebastian Bachs. Auch der Brief, den man dem kleinen Beethoven redivivus an den Fürsten in die Feder zwingt, ist ganz nach dem historischen Dokument gebildet, und die Episode des Unterrichtes bei Frau von Kerich erinnert an Frau von Breuning, aber schon früh spielt manche Reminiszenz, wie die Szene im Schloß, in Mozarts Jugend hinüber, und das kleine Abenteuer des Johann Wolfgang mit Fräulein Cannabich ist hier hinübertransponiert zu Johann Christof. Je mehr er heranwächst, um so mehr entfernt er sich vom Beethoven-Bilde: rein äußerlich gemahnt er bald mehr an Gluck und Händel, von dem Rolland an anderer Stelle die »kraftvolle Brutalität, die jeder fürchtete«, schildert, und Wort auf Wort paßt auf Johann Christof die Charakterprägung »Er war frei und reizbar und konnte sich nie an die Regeln der Gesellschaft gewöhnen. Alle Dinge nannte er geradeaus beim Namen und ärgerte zwanzigmal im Tag alle, die ihm nahe kamen.« Einen großen Einfluß hat dann Wagners Biographie: die Flucht aus der Revolte nach Paris – wie Nietzsche sagt »aus der Tiefe seiner Instinkte« –, die jämmerlichen Arbeiten bei kleinen Verlegern, die Miseren des äußeren Lebens, all das ist oft fast wörtlich Wagners Novelle »Ein deutscher Musiker in Paris« in Johann Christofs Leben übernommen.

Entscheidend aber wird die eben erschienene Hugo Wolf-Biographie Ernst Decseys auf die Umgestaltung der Hauptfigur, auf die fast gewaltsame Loslösung vom Beethoven-Bilde. Hier sind nicht nur einzelne Motive übernommen – der Haß gegen Brahms, der Besuch bei Hassler (Wagner), die Musikkritik im »Marsyas« (Wiener Salonblatt), die tragische Farce der verunglückten Penthesileaouverture und jener unvergeßliche Besuch bei dem fernen Verehrer (Professor Schulz-Emil-Kaufmann) –, sondern hier ist von innen heraus der Charakter, die musikalische Schaffensform Hugo Wolfs in die Seele Johann Christofs eingesenkt. Die dämonische, die vulkanische Art der Produktion, die oft in elementaren Ausbrüchen mit Melodien die Welt überströmt, vier Lieder an einem Tage in die Ewigkeit werfend, dann plötzlich auf Monate versiegt, der brüske Übergang von der Seligkeit des Schaffens in die finstere brütende Untätigkeit – diese tragische Form des Genies dankt Johann Christof dem Bilde Hugo Wolfs. Bleibt sein körperliches Leben in die wuchtigeren Formen Händels, Beethovens, Glucks gebannt, so nähert sich sein geistiger Typus mehr dem nervösen, krampfigen, sprunghaften des großen Lieddichters (nur daß Johann Christof noch dazu die selige Heiterkeit, die kindliche Freude eines Schubert in manchen hellen Stunden gegeben ist). Und hier ist sein Zwieklang: Johann Christof ist der alte Musiker, der klassische Typus und der moderne in einem, dem selbst manche Züge Gustav Mahlers und César Francks nicht fremd sind. Er ist nicht ein Musiker, Gestalt einer Generation, sondern die Sublimierung der ganzen Musik.

Aber auch von Nicht-Musikern sind Elemente in Johann Christofs Gestalt verwoben: aus Goethes »Dichtung und Wahrheit« die Begegnung mit der französischen Schauspieltruppe, aus Tolstois Todesstunde jene Flucht in den Wald (wo auch zuerst im Bilde eines Umnachteten schattenhaft Nietzsches Antlitz für eine Sekunde hervorglänzt). Grazia ist thematisch die Unsterblich-Geliebte; Antoinette, in Anklang an eine nahe Gestalt, die rührende Schwester Renans, Henriette; in der Schauspielerin Marguerite Oudon erinnern Züge an das Schicksal der Duse, andere an die schauspielerische Art der Suzanne Desprès. In Emanuel wiederum vermengen sich Elemente aus dem Wesen Charles Louis Philippes und Charles Peguys mit Erfundenem, in leisen Andeutungen sieht man die Figuren Debussys, Verhaerens, Moréas' im Hintergrund der Handlung sich erheben. Und in den Charaktertypen des Abgeordneten Roussin, des Kritikers Lévy-Coeurs, des Zeitungsunternehmers Gomache, des Musikalienhändlers Hecht haben sich beim Erscheinen der »Foire sur la place« manche getroffen gefühlt, die gar nicht gemeint waren, so kraftvoll typisch sind die Porträts einer niederen Wirklichkeit entnommen, die in ihrer unablässigen Wiederholung des Mittelmaßes ebenso ewig ist, wie die seltenen, die reinen Gestalten.

Ein edles Bild aber, das Oliviers, scheint nicht der Welt entnommen, sondern ganz ersonnen, und eben dieses fühlen wir als das Lebendigste, wir, die wir es erkennen, weil es in vielen Zügen ein Selbstporträt ist, nicht so sehr des Schicksals als der menschlichen Wesenheit Romain Rollands. Wie die alten Maler hat er unmerklich sich selbst in leichter Verhüllung mitten in die historische Szenerie gestellt: es ist sein eigenes Antlitz, das zarte, schmächtige, feine, leicht vorgebeugte, seine Energie, diese ganz nach innen gewandte, in reinstem Idealismus sich verzehrende, sein Enthusiasmus diese klare Gerechtigkeit, die für sich, aber nie für die Sache resigniert. Freilich im Roman läßt dieser Sanfte, der Schüler Tolstois und Renans, dem geliebten Freunde die Tat und schwindet hin, ein Symbol einer vergangenen Welt. Johann Christof war nur ein Traum, die Sehnsucht des Sanften nach der Kraft: und diesen Traum seiner Jugend hat Olivier-Rolland selbst gestaltet, indes er sein eigenes Bild hinlöschte von der Tafel des Lebens.


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