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Das Bildnis Frankreichs

Das Bildnis Frankreichs in dem großen Roman ist deshalb bedeutungsvoll, weil hier ein Land in doppelter Optik gesehen ist: von außen und von innen, aus der Perspektive eines Deutschen und mit den Augen eines Franzosen, und weil Christofs Urteil nicht nur ein Sehen, sondern ein Sehen-Lernen bedeutet.

In allem und jedem ist der Gedankenweg des Deutschen absichtlich typisch gedacht. In seiner kleinen Heimatstadt hat er noch keine Franzosen gesehen, und sein nur von Begriffen genährtes Gefühl ist das einer jovialen, ein wenig herablassenden Sympathie. »Die Franzosen sind gute Kerle, aber schlapp«, das ist ungefähr sein deutsches Vorgefühl: marklose Künstler, schlechte Soldaten, verlogene Politiker, kokottenhafte Weiber, aber gescheit, amüsant und freigeistig. Etwas in ihm sehnt sich dumpf aus der deutschen Ordnung und Nüchternheit dieser demokratischen Freiheit entgegen. Die erste Begegnung mit einer französischen Schauspielerin, Corinna, irgend einer Wahlverwandten von Goethes Philine, scheint das leichtfertige Urteil zu bestätigen, aber schon bei der zweiten Begegnung mit Antoinette spürt er ein anderes Frankreich. »Sie sind so ernst«, staunt er das stille, schweigsame Mädchen an, das sich hier in der Fremde mit Stundengeben in protzigen Parvenüfamilien plagt. Ihr Wesen will sich durchaus nicht reimen mit dem althergebrachten Vorurteil, eine Französin müsse unbedingt leichtfertig, übermütig und erotisch sein. Zum erstenmal stellt ihm Frankreich das »Rätsel seiner doppelten Natur« dar, und dieser erste Anruf aus der Ferne wird geheimnisvolle Lockung; er spürt die unendliche Vielfalt fremden Wesens, und wie Gluck, wie Wagner, wie Meyerbeer, wie Offenbach flüchtet er hinüber aus der Enge der deutschen Provinz in die Traumheimat der wahren Weltkunst, nach Paris.

Das erste Gefühl bei der Ankunft ist Unordnung, und dieser Eindruck verläßt ihn nicht mehr. Er ist der erste und letzte, der stärkste, gegen den sich der Deutsche in ihm immer wieder wehrt, daß hier eine starke Kraft durch Mangel an Disziplin zersplittert wird. Sein erster Führer auf dem Jahrmarkt ist einer jener falschen »echten Pariser«, also einer jener Leute, die sich pariserischer gebärden als alle Pariser, ein eingewanderter deutscher Jude, Sylvain Kohn, der sich hier Hamilton nennt, und in dessen Händen alle Fäden des Kunstbetriebes zusammenlaufen. Er zeigt ihm die Maler, die Musiker, die Politiker, die Journalisten – enttäuscht wendet sich Johann Christof ab. Er spürt in ihren Werken nur einen unangenehmen »Odor di femina«, eine parfümierte, überladene, stickige Luft. Er sieht das Lob, die Pomade über die Stirnen der Einfältigen triefen, hört nur Geschrei und Anpreisung und Lärm, ohne ein wirkliches Werk zu sehen. Einiges freilich scheint ihm Kunst, aber es ist eine zarte, überfeinerte, dekadente Kunst, einzig aus Geschmack, nie aus Kraft gestaltet, innerlich brüchig durch Ironie, überklug, überfeinert, eine hellenistische, eine alexandrinische Literatur und Musik, Atem eines schon sterbenden Volkes, schwüle Blüte einer welkenden Kultur. Nur ein Ende sieht er und keinen Anfang, und der Deutsche in ihm hört schon das »Rollen der Kanonen, das dieses schwache Griechenland zerschmettern wird«.

Er lernt gute, er lernt schlechte Menschen kennen, eitle und dumme, stumpfe und beseelte, aber nicht einen einzigen in diesen Gesellschaften und Salons von Paris, der ihm Zutrauen zu Frankreich gibt. Der erste Bote kommt aus einer Ferne: es ist Sidonie, das bäurische Dienstmädchen, das ihn während seiner Krankheit pflegt. Hier erkennt er mit einem Male, wie ruhig und unerschütterlich, wie fruchtbar und stark die Erde ist, der Humus, aus dem alle diese fremden eingepflanzten Pariser Blumen ihre Kraft saugen: das Volk, das starke knochige, ernste, französische Volk, das seine Erde bebaut und sich um den Jahrmarktsbudenlärm nicht kümmert, das die Revolutionen gemacht hat mit seinem Zorn und die Napoleonischen Kriege mit seiner Begeisterung. Von diesem Augenblick an fühlt er, daß es ein wirkliches Frankreich geben müsse, das er nicht kennt, und einmal in einem Gespräch fragt er Sylvain Kohn: »Wo ist denn Frankreich hier?« Stolz antwortet Sylvain Kohn: »Frankreich, das sind wir!« Johann Christof lächelt bitter, er weiß, daß er es lange suchen muß, denn sie haben es gut versteckt.

Da endlich kommt jene Begegnung, die für ihn Schicksalswende und Erkenntnis ist, er lernt Olivier, den Bruder Antoinettes kennen, den wahren Franzosen. Und wie Dante, von Virgil belehrt, durch immer neue Kreise des Erkennens wandert, so entdeckt er, geführt von seiner »seelenkundigen Intelligenz«, mit Staunen, daß hinter diesem Vorhang von Lärm, hinter diesen schreienden Fassaden eine Elite in der Stille arbeitet. Er sieht das Werk von Dichtern, deren Namen nie genannt werden in den Tageszeitungen, sieht das Volk, die vielen stillen, anständigen Menschen, die abgesondert von dem Getümmel ihr Werk tun, jeder für sich. Er erkennt den neuen Idealismus eines Frankreich, das an der Niederlage seelisch stark geworden ist. Zorn und Erbitterung ist sein erstes Gefühl bei dieser Entdeckung. »Ich verstehe euch nicht,« schreit er den sanften Olivier an, »ihr lebt in dem schönsten Land, seid wundervoll begabt, habt den menschlichsten Sinn und wißt damit nichts anzufangen. Ihr laßt euch von einer Handvoll Lumpen beherrschen und mit Füßen treten. Steht doch auf, tut euch zusammen, fegt euer Haus rein!« Der erste, der natürlichste Gedanke des Deutschen ist Organisation, der Zusammenschluß der guten Elemente, der erste Gedanke des Starken der Kampf. Aber gerade die Besten in Frankreich beharren darauf, abseits zu bleiben: irgendeine geheimnisvolle Klarheit einerseits, eine leichte Resignation andererseits, jener Tropfen Pessimismus in der Klugheit, den Renan am sinnfälligsten ausdrückt, schreckt sie vom Kampf zurück. Sie wollen nicht handeln, und das allerschwerste ist, sie zu veranlassen, gemeinsam zu handeln: »sie sind zu klug, sie sehen den Rückschlag vor dem Kampf«, sie haben nicht den deutschen Optimismus, und darum bleiben sie alle isoliert und einsam, die einen aus Vorsicht, die anderen aus Stolz. Irgend etwas von einem »Stubenhockergeist« ist in ihnen, und Johann Christof sieht es am besten im eigenen Haus. In jedem Stockwerk wohnen anständige Leute, die sich wundervoll miteinander verständigen könnten, aber sie schließen sich gegeneinander ab. Zwanzig Jahre gehen sie auf den Treppen aneinander vorüber, ohne sich zu kennen oder sich umeinander zu kümmern und so ahnen sich die besten unter den Künstlern nicht.

Da erkennt nun plötzlich Johann Christof in Vorteil und Gefahr den wesentlichen Gedanken des französischen Volkes: die Freiheit. Jeder will frei sein, keiner sich binden. Sie verschwenden unerhörte Quantitäten von Kraft, indem sie, jeder für sich, den ganzen Zeitkampf auskämpfen, aber sie lassen sich nicht organisieren, nicht zusammenspannen. Wird ihre Tatkraft auch von ihrer Vernunft gelähmt, so bleibt sie doch frei in ihren Gedanken, und so bleiben sie einerseits befähigt, alles Revolutionäre mit der religiösen Inbrunst des Einsamen zu durchdringen, andererseits ihren Glauben immer wieder revolutionär zu erneuern. Diese ihre Konsequenz ist ihre Rettung, denn sie bewahrt sie vor der Ordnung, die sie starr macht, vor der Mechanisierung, die vereinheitlicht. Johann Christof begreift, daß die lärmende Jahrmarktsbude nur da ist, um die Gleichgültigen anzulocken und den wahrhaft Tätigen ihre schöpferische Einsamkeit zu lassen. Er sieht, daß dieser Lärm als Anfeuerung zur Arbeit für das französische Temperament Bedürfnis ist, daß die scheinbare Inkonsequenz in den Gedanken eine rhythmische Form beständiger Erneuerung ist. Sein erster Eindruck war, wie der so vieler Deutscher, die Franzosen seien fertig. Nach zwanzig Jahren erkennt er, daß er richtig gesehen und sie immer fertig waren, um immer neu anzufangen, daß in diesem scheinbar widerspruchsvollen Geist eine geheimnisvolle Ordnung waltet, eine andere wie im deutschen Wesen, und eine andere Freiheit. Und der Weltbürger, der keiner Nation mehr die Prägung seiner eigenen aufzwingen möchte, sieht lächelnd und froh die ewige Verschiedenheit der Rassen, aus denen sich, wie aus den sieben Farben des Spektrums, das Licht der Welt, die wundervolle Vielfalt des ewig Gemeinsamen, der ganzen Menschheit zusammenfügt.


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