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Lehrjahre

Nicht nur die innere Linie des Lebens, auch die äußere Richtung des Berufes hat in diesen beiden Jahren in Rom entscheidende Form gewonnen: ähnlich wie bei Goethe harmonisiert sich in der erhabenen Klärung südlicher Landschaft das Widerstreitende des Willens. Ein Unsicherer, Unentschiedener war Rolland nach Italien gegangen, Musiker dem Genius nach, Dichter aus Neigung, Historiker aus Notwendigkeit. Allmählich hatte sich dort in magischer Bindung die Musik der Dichtung verschwistert: in jenen ersten Dramen strömt lyrische Melodik in das Wort übermächtig ein, gleichzeitig hatte der historische Sinn das farbige Kolorit großer Vergangenheit hinter diesen beschwingten Worten als eine mächtige Kulisse aufgestellt. Der Heimgekehrte vermag nun die dritte Bindung seiner Begabung und seines Berufes zu vollziehen, er wird nach Erfolg seiner These »Les origines du théatre lyrique moderne« (Histoire de l'Opéra en Europe avant Lully et Scarlatti) Lehrer der Musikgeschichte zuerst an der École Normale, dann von 1903 an der Sorbonne; die »éternelle floraison«, die ewige Blüte der Musik, als eine unendliche Folge durch die Zeiten zu schildern, deren jede doch wieder ihre seelische Schwingung in den Gestaltungen verewigt, ist seine Aufgabe, und er zeigt – zum erstenmal sein Lieblingsthema entdeckend –, wie die Nationen in dieser scheinbar abstrakten Sphäre zwar ihre Charaktere ausprägen, aber doch immer die höhere, die zeitlose, die internationale Einheit unbewußt aufbauen. Fähigkeit des Verstehens und des Verstehenlassens ist ja der innerste Kern seiner menschlichen Wirksamkeit, und hier, im vertrautesten Element, wird seine Leidenschaft mitteilsam. In lebendigerem Sinne als alle vor ihm lehrt er seine Wissenschaft, erzeigt im unsichtbar Seienden der Musik, daß das Große in der Menschheit niemals einer Zeit, einem Volke allein zugeteilt ist, sondern in ewiger Wanderschaft über die Grenzen und Zeiten als heiliges Feuer glüht, das ein Meister dem andern weiterreicht und das nie verlöschen wird, solange noch der Atem der Begeisterung vom Munde der Menschen ausgeht. Es gibt keinen Gegensatz, keinen Zwiespalt in der Kunst, »die Geschichte muß zum Gegenstand die lebendige Einheit des menschlichen Geistes haben, darum ist sie gezwungen, die Bindung aller seiner Gedanken aufrechtzuerhalten«.

Von jenen Vorträgen, die Romain Rolland in der »École des hautes études sociales« und der Sorbonne hielt, erzählen Zuhörer noch heute mit unverminderter Dankbarkeit. Historisch war an jenen Vorträgen eigentlich nur der Gegenstand, wissenschaftlich bloß das Fundament. Rolland hat heute neben seinem universalen Ruhm noch immer den fachlichen in der Musikforschung, das Manuskript von Luigi Rossis »Orfeo« entdeckt und die erste Würdigung des vergessenen Francesco Provencale gegeben zu haben, aber seine menschlich umfassende, wahrhaft enzyklopädische Betrachtung machte jene Stunden über »die Anfänge der Oper« zu Freskobildern ganzer verschollener Kulturen. Zwischen den Worten ließ er die Musik sprechen, gab am Klavier kleine Proben, die längst verklungene Arien in demselben Paris, wo sie vor dreihundert Jahren zum erstenmal aufgeblüht waren, aus Staub und Pergament wieder silbern aufwachen ließen. Damals begann in dem noch jungen Rolland jene unmittelbare Wirkung auf die Menschen, jene erläuternde, fühlende, erhebende, bildende und begeisternde Kraft, die seitdem, durch sein dichterisches Werk immer fernere Kreise erfassend, sich ins Unermeßliche gesteigert hat, im Kernpunkt aber ihrer Absicht treu geblieben ist: in allen Formen der Geschichte und Gegenwart einer Menschheit das Große ihrer Gestalten und die Einheit aller reinen Bemühung zu zeigen.

Selbstverständlich machte seine Leidenschaft für die Musik nicht im Historischen halt. Nie ist Romain Rolland Fachmensch geworden, jede Vereinzelung widerstrebt seiner synthetischen, seiner bindenden Natur. Für ihn ist alle Vergangenheit nur Vorbereitung für die Gegenwart, das Gewesene nur Möglichkeit gesteigerten Erfassens der Zukunft. Und an die gelehrten Thesen und die Bände der »Musiciens d'autrefois«, »Händel« der »Histoire de l'Opéra en Europe avant Lully et Scarlatti« reihen sich die Aufsätze der »Musiciens d'aujourd'hui«, die er als Vorkämpfer für alles Moderne und Unbekannte in der »Revue de Paris« und »Revue de l'Art dramatique« zuerst veröffentlicht hatte. Das erste Porträt Hugo Wolfs in Frankreich, das hinreißendste des jungen Richard Strauß und Debussys ist in ihnen gezeichnet; unermüdlich blickt er nach allen Seiten, die neuen schöpferischen Kräfte der europäischen Tonkunst zu gewahren; er reist zum Straßburger Musikfest, Gustav Mahler zu hören, und nach Bonn zu den Beethovenfesttagen. Nichts bleibt seiner leidenschaftlichen Wissensgier, seinem Gerechtigkeitssinn fremd: von Katalonien bis Skandinavien lauscht er auf jede neue Welle im unendlichen Meer der Musik, im Geist der Gegenwart nicht minder heimisch als in dem der Vergangenheit.

Lehrend in diesen Jahren, lernt er auch selbst vom Leben viel. Neue Kreise tun sich ihm auf in demselben Paris, das er bisher kaum anders als von dem Fenster der einsamen Studierstube gekannt. Seine Stellung an der Universität, seine Verheiratung bringen den Einsamen, der bisher nur mit einzelnen vertrauten Freunden und den fernen Heroen gelebt, in Berührung mit der geistigen und mondänen Gesellschaft. Im Hause seines Schwiegervaters, des berühmten Archäologen Michel Breal, lernt er die Leuchten der Sorbonne kennen, in den Salons das ganze Getümmel von Finanzmännern, Bürgern, Beamten, alle Schichten der Stadt, durchwoben mit den in Paris unvermeidlichen kosmopolitischen Elementen. Der Romantiker Rolland wird in diesen Jahren unwillkürlich Beobachter, sein Idealismus gewinnt, ohne an Intensität zu verlieren, kritische Kraft. Was er an Erfahrungen (oder besser an Enttäuschungen) aus diesen Begegnungen in sich sammelt, dieser ganze Schutt von Alltäglichkeit, wird später Zement und Unterbau für die Pariser Welt in »Der Jahrmarkt« (»La foire sur la place«) und »Das Haus« (»Dans la maison«). Gelegentliche Reisen nach Deutschland, die Schweiz, Österreich, das geliebte Italien bringen Vergleich und neues Wissen; immer weiter spannt sich über dem Wissen der Geschichte der wachsende Horizont der modernen Kultur. Der Heimgekehrte aus Europa hat sich Frankreich und Paris entdeckt, der Historiker die wichtigste Epoche für den Lebendigen: die Gegenwart.


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