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Der unbekannte Dramenkreis

(1890-1895)

Der Zwanzigjährige, zum erstenmal den Mauern des Pariser Seminars entronnen, vom Genius der Musik und der hinreißenden Dramatik Shakespeares befeuert, fühlt in Italien zum erstenmal die Welt als Freiheit, als lebendige Materie, die den Gestalter ruft. Aus Dokumenten und Schemen hat er Geschichte gelernt: nun blickt sie ihn an mit lebendigen Augen aus den Statuen und Gestalten, wie eine Bühne rücken die italienischen Städte, die Jahrhunderte zusammen vor dem leidenschaftlichen Blick. Nur das Wort fehlt ihnen noch, diesen erhabenen Erinnerungen, und schon wäre Geschichte Dichtung, Vergangenheit eine gestaltete Tragödie. Wie heilige Trunkenheit überflügeln ihn diese ersten Stunden; als Dichter, nicht als Historiker erlebt er das heilige Rom, das ewige Florenz.

Hier ist – so fühlt seine junge Begeisterung – die Größe, nach der er sich dumpf gesehnt hat, oder hier ist sie gewesen, in den Tagen der Renaissance, da diese Dome zwischen den blutigsten Schlachten wuchsen, da Michelangelo, Raphael die Wände eines Vatikans schmückten, dessen Päpste nicht minder gewaltig waren als ihre Meister, da aus jahrhundertalter Verschüttung mit den antiken Statuen auch der heroische Geist des Griechentums in einem neuen Europa aufstand. Beschwörend ruft der Wille die trotzigen übermenschlichen Gestalten vor den Blick: und plötzlich ist wieder der alte Freund seiner Jugend in ihm wach, Shakespeare. Eine Reihe von Vorstellungen Emesto Rossis zeigt ihm auf der Bühne gleichsam zum erstenmal seine dramatische Gewalt; nicht wie in der engen Dachstube zu Clamecy lockt ihn nun schwärmerische Neigung zu den märchenhaft milden Frauengestalten, sondern die dämonische Wildheit der starken Naturen, die durchbohrende Wahrheit der Menschenerkenntnis, der gewitterhafte Tumult der Seele. Er erlebt Shakespeare so neu, so innerlich (man kennt ja in Frankreich Shakespeare kaum vom Theater und nur kärglich durch die Prosaübersetzungen), wie ihn hundert Jahre vorher der fast gleichaltrige Goethe erlebt, als er trunken seinen Hymnus zum Shakespearetag schreibt. Und diese Begeisterung verwandelt sich stürmisch zu gestaltendem Drang: in einem Zuge schreibt der Befreite eine Reihe von Dramen aus der klassischen Vergangenheit, schreibt sie, wie einst die Deutschen des Sturm und Drangs ihre kraftgenialischen Entwürfe.

Es ist eine ganze Reihe von Dramen, die der Begeisterte damals vulkanisch aus sich schleudert, und die zuerst durch den Widerstand der Zeit, später dann durch die eigene kritische Erkenntnis unveröffentlicht geblieben sind. »Orsino« (1890 zu Rom geschrieben) heißt das erste; bald folgt ihm in der halkyonischen Landschaft Siziliens ein »Empedocles«, unbeeinflußt von dem grandiosen Entwurf Hölderlins, von dem Rolland erst durch Malvida von Meysenbug erfährt, dann »Gli Baglioni« (beide 1891). Die Rückkehr nach Paris bedeutet keine Unterbrechung, die angefachte dramatische Flamme lodert weiter in einem »Caligula« und einer »Niobe« (1892), von der Hochzeitsreise nach dem geliebten Italien bringt er 1893 ein neues Renaissance-Drama »Le Siège de Mantoue« zurück, das einzige, das er noch heute anerkennt, von dem ihm aber verhängnisvollerweise das Manuskript durch einen abenteuerlichen Zufall abhanden gekommen ist. Dann erst wendet sich die Neigung heimatlichen Stoffen zu, er schafft die »Tragédies de la Foi«, den »Saint Louis« (1893), eine »Jeanne de Pierne« (1894), die gleichfalls nie erschienen ist, den »Aërt« (1895), mit dem er zum erstenmal die Bühne erreicht, und dann, in rascher Folge die vier aufgeführten Dramen des »Théatre de la Révolution« (1896-1902), die »Montespan« (1900) und »Les trois Amoureuses« (1900).

Vor seinem eigentlichen Werke steht also schon eine fast anonyme Leistung von zwölf Dramen, so umfangreich wie die ganze dramatische Produktion eines Schiller, Kleist oder Hebbel, Dramen, von denen wiederum keines der ersten acht zunächst nur die ephemere Form einer Aufführung oder Drucklegung erreicht. Bloß Malvida von Meysenbug, die Vertraute und Wissende, bezeugt öffentlich im »Lebensabend einer Idealistin« ihren künstlerischen Wert, sonst klingt nicht ein Wort in die lebendige Welt.

Ein einziges von ihnen allen ist einmal an klassischer Stelle vom ersten Schauspieler Frankreichs gelesen worden, aber die Erinnerung ist eine schmerzliche. Gabriel Monod, längst aus dem Lehrer ein Freund Rollands geworden, hatte, durch den Enthusiasmus Malvida von Meysenbugs aufmerksam gemacht, drei Stücke Rollands dem großen Mounet-Sully übergeben, der für sie eine wunderbare Leidenschaft entfaltet. Er reicht sie der Comédie Française ein, kämpft im Lesekomitee verzweifelt für den Unbekannten, dessen Bedeutung er, der Komödiant, stärker fühlt als die Literaten. Aber der »Orsino«, die »Baglioni« werden mitleidslos verworfen, einzig die »Niobe« gelangt zur Vorlesung im »Comité des Lectures«. Die Stunde wird ein dramatischer Augenblick im Leben Rollands: zum ersten Male ist er dem Ruhm ganz nahe. Mounet-Sully liest selbst mit seiner sonoren Meisterschaft das Werk des Unbekannten vor, Rolland darf anwesend sein. Zwei Stunden und dann zwei Minuten halten sein Schicksal. Aber noch will das Schicksal nicht seinen Namen der Welt geben: das Werk wird verworfen und sinkt ins Namenlose zurück. Nicht einmal die kleine Gnade des Druckes wird ihm zuteil, und von dem Dutzend dramatischer Werke, das der nicht zu Entmutigende im nächsten Jahrzehnt schafft, überschreitet nicht ein einziges die dem Jüngling schon halb zugänglich gemachte Schwelle der Nationalbühne.

Nicht mehr als die Namen wissen wir von diesen ersten Werken, nichts von ihrem Wert. Aber wir fühlen in den späteren, daß hier offenbar ein erster Brand sich versprühte, die allzuhitzige Flamme verloderte, und wenn die dann scheinbar ersten Dramen, die im Druck erschienen, so reif und gebunden anmuten, so lebt ihre Ruhe von der Leidenschaft der ungeboren hingeopferten, ihre Ordnung von der heroischen Fanatik der unbekannten. Jede wahre Schöpfung kommt aus dem dunklen Humus verworfener Schöpfungen. Und wie keines blüht Romain Rollands Werk aus solchem großen Verzicht.


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