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Dramatisches Beginnen

»Sein Ziel war nicht der Erfolg, sein
Ziel war der Glaube.«

Rolland, Johann Christof,
Viertes Buch: Empörung

 

Das Werk und die Zeit

Man kann das Werk Romain Rollands nicht verstehen ohne die Zeit, aus der es geboren ist. Denn hier wächst eine Leidenschaft aus der Müdigkeit eines ganzen Landes, ein Glaube aus der Enttäuschung eines gedemütigten Volkes. Der Schatten von 1870 liegt über der Jugend dieses Dichters, und es bedeutet Sinn und Größe seines ganzen Werkes, daß es von dem einen Kriege zu dem andern eine Brücke des Geistes spannt. Bewölktem Himmel, blutiger Erde ist es entrungen und greift hinüber in den neuen Kampf und den neuen Geist.

Aus Dunkelheit wächst es auf. Denn ein Land, das einen Krieg verlor, ist wie ein Mensch, der seinen Gott verloren hat. Fanatische Ekstase bricht plötzlich hin in sinnlose Erschöpfung, ein Brand, der in Millionen lohte, stürzt ein in Asche und Schlacke. Es ist eine plötzliche Entwertung aller Werte: die Begeisterung ist sinnlos geworden, der Tod zwecklos, die Taten, die noch gestern als heldisch galten, eine Narrheit, das Vertrauen eine Enttäuschung, der Glaube an sich selbst ein armer Wahn. Alle Kraft zur Gemeinsamkeit sinkt hin, jeder steht für sich allein, wirft Schuld von sich ab und dem Nächsten zu, denkt bloß an Gewinn, an Nutzen und Vorteil, und eine unendliche Müdigkeit löst den hochgespannten Aufschwung ab. Es gibt nichts, was die moralische Kraft der Masse so sehr vernichtet, wie eine Niederlage, nichts was zunächst dermaßen die ganze geistige Haltung eines Volkes entwürdigt und schwächt.

So ist dies Frankreich nach 1870 ein seelisch-müdes, ein führerloses Land. Seine besten Dichter können ihm nicht helfen, sie taumeln einige Zeit hin wie betäubt vom Keulenschlag des Geschehens, dann raffen sie sich auf und schreiten den alten Weg weiter in die Literatur hinein, verkriechen sich noch tiefer in das Abseits vom Schicksal ihrer Nation. Die Vierzigjährigen vermag auch eine nationale Katastrophe nicht zu verwandeln: Zola, Flaubert, Anatole France, Maupassant, sie brauchen ihre ganze Kraft, um sich selbst aufrecht zu erhalten. Aber sie können nicht ihre Nation stützen, sie sind skeptisch geworden im Erlebnis, sie sind nicht mehr gläubig genug, um ihrem Volk einen neuen Glauben zu geben.

Die jungen Dichter aber, die Zwanzigjährigen, sie, die nicht mehr die Katastrophe selbst wissend erlebt haben, die nicht den wirklichen Kampf, sondern nur sein geistiges Leichenfeld gesehen, die verwüstete, zerstörte Seele ihres Volkes, sie können sich nicht abfinden mit dieser Müdigkeit. Eine wirkliche Jugend kann nicht leben ohne einen Glauben, kann nicht atmen in der moralischen Dumpfheit einer hoffnungslosen Welt. Leben und Schaffen bedeutet für sie Vertrauen entzünden, jenes mystisch brennende Vertrauen, das unzerstörbar aus jeder neuen Jugend, jeder aufsteigenden Generation glüht, und käme sie vorbei an den Gräbern ihrer Väter. Dieser Generation wird die Niederlage ein Urerlebnis, das brennendste Existenzproblem ihrer Kunst. Denn sie fühlen, daß sie nichts sind, wenn sie nicht vermögen, dieses Frankreich, das mit aufgerissener Flanke blutend aus dem Kampf wankt, wieder zu stützen, wenn sie nicht die Mission erfüllen, diesem skeptischen resignierten Volke eine neue Gläubigkeit zu geben. Ihr unverbrauchtes Gefühl sieht hier eine Aufgabe, ihre Leidenschaft ein Ziel. Es ist kein Zufall, daß immer in den geschlagenen Völkern bei den Besten ein neuer Idealismus sich aufringt, daß die Jugend solcher Völker nur ein Ziel kennt für ihr ganzes Leben: ihrer Nation eine Tröstung zu geben, ihr die Niederlage wegzunehmen.

Wie aber ein besiegtes Volk trösten, wie ihm die Niederlage von der Seele nehmen? Der Dichter muß eine Dialektik der Niederlage schaffen, irgend einen Ausweg finden für den Geist aus seiner Müdigkeit, einen Wahn oder sogar eine Lüge. Zweifach ist die Tröstung dieser jungen Dichter. Die einen deuten auf die Zukunft hin und sagen, Haß zwischen den Zähnen: »Diesmal sind wir besiegt worden, das nächste Mal werden wir siegen.« Das ist das Argument der Nationalisten, und es ist kein Zufall, daß ihre Führer, Maurice Barrès, Paul Claudel, Peguy, Altersgenossen Romain Rollands gewesen sind. Dreißig Jahre haben sie den beleidigten Stolz der französischen Nation heiß gehämmert mit Worten und Versen, bis er eine Waffe wurde, um den verhaßten Feind in das Herz zu treffen. Dreißig Jahre haben sie an nichts erinnert als an die Niederlage und den zukünftigen Sieg, immer wieder die alte Wunde, wenn sie vernarben wollte, aufgerissen, immer wieder die Jugend, wenn sie sich versöhnen wollte, aufgerüttelt mit der fanatischen Mahnung. Von Hand zu Hand haben sie diese unerbittliche Fackel der Revanche weitergereicht, immer bereit, sie in das Pulverfaß Europas zu schleudern.

Der andere Idealismus aber, der stillere und lange unbekannte, der Rollands, sucht anderen Glauben und anderen Trost für die Niederlage zu geben. Er deutet nicht auf die Zukunft hin, sondern hinaus in die Ewigkeit. Er verheißt keinen neuen Sieg, er entwertet nur die Niederlage. Für diese Dichter, die Schüler Tolstois sind, ist die Macht kein Argument für den Geist, der äußere Erfolg kein Wertmaß für die Seele. Für sie siegt der Einzelne nicht, wenn seine Generäle auch hundert Provinzen erobern, und er wird nicht besiegt, wenn die Armee auch tausend Kanonen verliert: der Einzelne siegt immer nur, wenn er frei ist von jedem Wahn und jeder Ungerechtigkeit seines Volkes. Immer versuchen diese Einsamen Frankreich zu bewegen, seine Niederlage zwar nicht zu vergessen, aber sie zu verwandeln in eine moralische Größe, den geistigen Wert zu erkennen, die geistige Saat, die eben auf den blutigen Schlachtfeldern gewachsen ist. »Gesegnet sei die Niederlage,« ruft Olivier im »Johann Christof«, der Wortführer jener französischen Jugend, seinem deutschen Freunde entgegen, »gesegnet der Zusammenbruch. Wir werden ihn nicht verleugnen, wir sind seine Kinder. In der Niederlage, mein lieber Christof, habt ihr uns wieder zusammengeschmiedet. Das Gute, das ihr uns ohne zu wollen zugefügt habt, ist größer als das Böse. Ihr habt unseren Idealismus entflammt, die Glut unserer Wissenschaft und unseres Glaubens neu belebt. Euch schulden wir das Wiedererwachen unseres Rassegewissens. Stelle dir die kleinen Franzosen vor, wie sie in Trauerhäusern, im Schatten der Niederlage geboren wurden, ernährt mit jenen trüben Gedanken, erzogen für eine blutige, unvermeidliche und vielleicht nutzlose Rache, denn das erste, was ihnen, so klein sie noch waren, immer zum Bewußtsein gebracht wurde, war: es gibt keine Gerechtigkeit auf dieser Welt, die Übermacht zermalmt das Recht. Solche Offenbarungen drücken die Seele eines Kindes für immer zu Boden oder reißen sie zur Größe empor.« Und er sagt dann weiter: »Die Niederlage verwandelt die Elite eines Volkes, alles Reine und Starke stellt sie abseits, macht sie reiner, stärker, noch stärker, aber sie drängt die anderen schneller dem Untergang entgegen. Dadurch trennt sie den großen Haufen des Volkes von der Elite, die ihren Weg weiter fortsetzt.«

In dieser Elite, die Frankreich mit der Welt versöhnt, sieht Rolland die zukünftige Aufgabe seiner Nation, und im letzten sind die dreißig Jahre seines Werkes nichts anderes als ein einziger Versuch, einen neuen Krieg zu verhindern, um nicht nochmals den entsetzlichen Zwiespalt von Sieg und Niederlage zu erneuern. Kein Volk soll in seinem Sinne mehr siegen durch Gewalt, sondern alle durch Einheit, durch die Idee der Brüderlichkeit Europas.

So strömen aus gleichem Ursprung, aus der dunklen Quelle der Niederlage zwei verschiedene Wellen des Idealismus dem französischen Volke zu. Ein unsichtbarer Kampf um die Seele der neuen Generation formt sich in Wort und Buch. Die Wirklichkeit hat für Maurice Barrès entschieden. Das Jahr 1914 hat die Ideen Romain Rollands besiegt. Die Niederlage ist nicht nur das Erlebnis seiner Jugend, sie ist auch der tragische Sinn seiner Mannesjahre geworden. Aber von je war es seine Kraft, aus den Niederlagen die stärksten Werke zu schaffen, aus Resignationen neue Erhebungen, aus Enttäuschungen leidenschaftliche Gläubigkeit.


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