Heinrich Zschokke
Die Branntweinpest
Heinrich Zschokke

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20. Der Schluß dieser Geschichte.

Gegen Ende der Mahlzeit wurde beim Klang der Weingläser die Unterhaltung der Gäste lebhafter. Da aber stand der ehrwürdige Pfarrer von seinem Platze auf, bestieg die Bank, auf welcher wir saßen, und erhaben über Alle, fing er an zu der Versammlung zu reden. Es herrschte plötzlich allgemeines Schweigen. Der Pfarrer sprach ungefähr folgendermaßen:

»Wertheste Freunde, Mitgäste und all' Ihr Anwesenden!«

»Vielleicht erwartet Ihr einen der üblichen Trinksprüche von mir, mit dem Lobe unsers tugendhaften Brautpaars, dem wir den heutigen Tag der Freude verdanken. Dieses Lob, dieser öffentliche Dank würde ihre bescheidenen Seelen mehr bedrücken, als erfreuen. Die Lebehochs der Trinksprüche sind meistens mit Weingeist erwärmte Höflichkeiten, vergänglich und vergessen, wie der Schall ihres Worts. – Aber, die Ihr wisset und fühlet, was unser edelsinniger Walter zum Segen der ganzen Gemeinde, zum Segen unserer Familien, zum Trost der Nothleidenden unter uns gethan hat, – lieben Freunde, erhebet Eure Blicke gen Himmel, und jeder dieser Blicke werde zum stillen Gebet vor Gott, daß er, der Gnadenreiche, auch ihn segne, der uns segnete; daß er ihn und seine Lebensgefährtin, zu unserm und unserer Kinder Heil lange erhalten wolle!« –

Der Pfarrer schwieg einen Augenblick. Sein Auge war zum Himmel gerichtet. Auf seinen Wimpern glänzte eine Thräne. Und ich sah bald vor mir längs den Tischen gefaltete Hände, himmelwärts gewandte Gesichter, nasse Augen. Dann verbreitete sich überall unruhige Bewegung. Es entstand undeutliches Gemurmel unter Gästen und Zuschauern, das immer lauter und lauter, endlich zum verworrenen Geschrei ward. Man konnte darin nur den Ruf einzelner Worte unterscheiden: »Ja, lange, lange! ewig Fridolin! lange, himmlischer Vater! lange! Walters Segen!«

Keine kirchliche Andacht, nicht das feierliche Zeremoniel eines Gottesdienstes, hat mich jemals so überraschend und gewaltig ergriffen, als dieser Ausbruch des Gefühls, diese Anerkennung vom Werthe eines wohlthätigen Mannes. Wer konnte unter den Tausenden unbewegt bleiben? Und wenn auch die Sterblichen allesammt einzeln, nicht fehlerfrei, nicht sündenlos sind, lebt dennoch in der Brust der Menschheit unsterblich der Sinn für das Heilige fort. Er flammt, als ein reines Licht, noch durch den düstern Ranch ihrer Leidenschaften auf.

Nachdem sich die Aufwallung allmälig wieder gestillt hatte, erhob der ehrwürdige Pfarrer abermals die Stimme und sprach:

»Lieben Freunde! Viele Jahre schon leb' ich unter Euch. Ich habe das göttliche Wort verkündet; den Weg zur Seligkeit gezeigt, mit inbrünstigem Eifer, ohne Unterlaß. Aber nicht ohne Entsetzen mußt' ich seit Jahren wahrnehmen, daß die Religion, das ächte Herzens-Christenthum, in Verfall kam, je länger ich es predigte. Wohl sah ich in der Kirche noch Regungen der Andacht, fromme Hingebung der Gemüther. Aber die Hingebung des Herzens verging dann wieder. Jeder kehrte auf die nüchternen Pfade seiner gewohnten Geschäfte und Neigungen zurück. Die Stunde im Tempel war verlorne Zeit gewesen; und der Ruf Gottes an die Seelen umsonst geblieben. Das schlug meinen Muth oft gänzlich nieder. Ich wußte nicht, ob das Menschengeschlecht heutiges Tages verderbter sei, als vor Zeiten; oder ob mir, zu meinem erwählten Beruf, Kraft und Tüchtigkeit fehlen? Da trat dieser edle Jüngling hervor, den wir mit Freuden Vater und Retter der Gemeinde nennen, und belehrte mich vom Hauptquell des sittlichen Uebels im Volke.«

»Es ist nämlich, seit einem halben Jahrhundert, eine furchtbare Seuche in den meisten Ländern Europas ausgebrochen, welche größere Verwüstungen angerichtet hat, als die tödtliche Cholera und die schmerzenreiche Grippe. Diese Seuche hat sich schon von Europa über die andern Welttheile ausgebreitet und rafft das Leben unzähliger Menschen, ihren Wohlstand, ihre Ruhe hinweg. Ihr kennet die Seuche. Es ist die Brannteweinpestilenz! Sie verzehrt Lebens- und Vermögenskräfte, Geistesanlagen und Tugenden einzelner Personen, hoher und niederer, ganzer Familien, ganzer Nationen! Sie wird weder durch Schulen und Kirchen, weder durch Apotheken und Regierungsverordnungen, weder durch Gefängnisse, noch durch Zuchthäuser und Kettenstrafen in ihrem Umsichgreifen verhindert und gemindert. Sie geht ansteckend von Haus zu Haus vom Vater zum Sohne über; vom Freunde zum Freunde.«

»Eine alte Sage spricht, daß kein Gift wirksamer beigebracht werden könne, als mit Weibermilch. Das ist ein wahres Wort von der Brannteweinpest! Keine Verderbniß eines Volkes ist so tief eingreifend, so unwiderruflich, als die, welche das häusliche Leben angreift und selbst vom weiblichen Geschlecht geduldet, oft begünstigt wird.«

»Man trinkt und trinkt wohl wieder, um eine vergangene Fröhlichkeit zurückzugewinnen, oder aber, um ein gegenwärtiges Unwohlsein zu verbannen. Man trinkt Tag für Tag, bis der entnervte Leib zusammensinkt, und Verstand und Herz abgestumpft erliegen. Wahrlich, wer seinen Nächsten zum übermäßigen Genuß des Weins, oder zur Angewöhnung des Branntweins verführt, ist in meinen Augen einer der strafwürdigsten Verbrecher. Er ist's der gleichsam den Dolch zuckt, durch welchen bisher unbescholtene Männer fallen und selbst unschuldige Kinder umkommen sollen. Er ist's, der unglückliche Gattinnen ins Grab stürzt und arme Waisen auf die Straße hinauswirft!«

»Aber wie ist jener Pestilenz zu wehren, die so viele Länder überzogen hat? Wie abhelfen, daß fast Niemand an die absolute Schädlichkeit der weingeistigen Getränke glauben mag, ja nicht einmal davon weiß? Wie abhelfen, da die ärmern Leute in ihrer Unerfahrenheit den Branntewein, weil er wohlfeil ist, zur Ermunterung und Stärkung unentbehrlich glauben; und die Bemitteltern ihn als Leckerhaftigkeit nicht vermissen wollen? Wie abhelfen, da selbst Regenten und Gesetzgeber den Beförderern der Pestverbreitung, den Branntweinbrennern, Likörfabrikanten, Casino-, Wein-, Kaffee- und Schenkwirthen Ermunterungen und Privilegien erteilen, um den Absatz gebrannter Wasser zum Vorteil der Staatskassen zu vermehren?«

»Auch derjenige, welcher nur selten ein Glas Branntwein nimmt, fühlt jedesmal sogleich an den Wirkungen, daß dieses Getränk unnatürlich, gesundheitswidrig, den Kopf betäubend, die Nerven angreifend sei. Doch weil es einige Augenblicke mutiger und lustiger macht, ist die Anlockung schnell vorhanden. Mancher nimmt sich ernstlich vor, mäßig zu sein; doch vergebens. Nur Entsagung rettet. Entsagung ist in jeder Beziehung leichter, als Mäßigung. Wer dem Teufel erlaubt, ihn bloß bei einem einzigen Haupthaar zu nehmen, den zieht er unvermerkt mit Kopf und Leib nach sich. Den Branntewein mäßig trinken wollen, heißt, nur mäßig sündigen wollen! Das Laster der Trunkenheit schleicht behend der Lust am Trinkglase nach.«

»Ich sah lange keine Hilfe, – keine, um wenigstens in unserer Gemeinde den Verfall ihres Wohlstandes und Friedens, und das stille Fortwuchern und Fortwürgen der Brannteweinpest zu verhüten. Da kam unser Menschenfreund, unser guter Fridolin Walter, aus England zurück und ward der Engel, welcher den Weg der Rettung zeigte. In allgemeinen Landesgefahren, sagte er: kann kein Regent, kein Gesetzgeber, kein Richter, selbst kein stehendes Kriegsheer helfen. Da muß das Volk selbst aufstehen, und sich selber retten, wenn noch Tugend und Muth der Vaterlandsliebe in ihm vorhanden ist! – Und Fridolin stiftete den Enthaltsamkeits-Verein unter uns. Und die Religion, und in ihrem Gefolge die Unschuld, der Friede der Haushaltungen, die Freundschaft der Bürger, der Wohlstand des Orts, christliche Zucht und Sittsamkeit kehrten allgemach wieder zurück.«

»Lieben Freunde! Sind wir nicht allesammt Schuldner dieses Biedermanns geworden? Wie wollen, wie können wir ihm vergelten? – Ja doch, wir können es! Hier unter Gottes freiem Himmel ein heiliges Gelübde: Verstoßen sei fortan, wie ein Aussätziger, Jeder, der es wagt, die Brannteweinpest in unsere friedlichen Wohnungen zurückzuführen! Mehr noch: Fridolin Walter, nimm unsre schönste Gabe an! Fridolin Walter, wir schenken dir unsere Herzen! unsere Herzen!«

Bei diesen Worten sprang der hochbetagte Geistliche, mit der Raschheit eines Jünglings, von seinem Stand herab; eilte zu Fridolin und umarmte ihn in wahrer Begeisterung. Wir, die wir zunächst standen, folgten, tiefbewegten Gemüthes, seinem Beispiele. Alles Volk erhob sich unter dem Geschrei der Dankbarkeit und Freude von den Sitzen. Es war keine Ruhe mehr herzustellen. Gäste und Zuschauer vermischten sich. Einer drückte dem Andern gerührt die Hand; Einer den Andern an die Brust. Ich sah Justinen von dankenden Mädchen und Frauen umgeben, deren mehrere weinend sich hindrängten, ihre Hände zu küssen. Ach, wie ärntete die Fromme für ihre Perlen so viel tausend Freudenthränen! – Und der gute Fridolin, fast hatte ich Mitleiden mit ihm. Er war fort und fort von einem Schwarm seiner Mitbürger umringt, in ihrem Gewühl verloren. Jeder wollte ihn sehen, jeder ihm ein Wort der Liebe sagen. Erst mit einbrechender Nacht trat er wieder zu uns ins Haus, wo ihn sein junges Weib und seine vortreffliche Mutter mit neuer Lust und stolzem Entzücken empfingen.


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