Heinrich Zschokke
Die Branntweinpest
Heinrich Zschokke

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11. Der versuchte Rettungs-Bund.

Walter erschien am andern Morgen später als ich wünschte, auf meinem Zimmer, nachdem ich schon gefrühstückt, einen Gang durch den Marktflecken gethan, und mich nachher lange mit der Frau Walter unterhalten hatte.

»Nichts für ungut, lieber Freund!« rief er, als er zu mir mit einer Hand voll Schriften hereintrat: »Jetzt können wir einander ungestört angehören. Ich habe meine Kranken besucht, meine übrigen Amtsgeschäfte beseitigt; und nun setzt Euch! Ich will mein gestriges Versprechen erfüllen. Die Geschichte ist nicht lang und doch vielleicht der Mühe werth, angehört zu werden.«

Ohne weitere Umstände setzten wir uns beide. Was er erzählte, will ich nun, der Hauptsache nach, hier mittheilen. Es ist für viele unserer Städte und Dörfer zu wichtig.

»Das schreckliche Ende, welches der alte Thaly genommen hatte,« sagte Fridolin: »so wie das plötzliche Hinscheiden meines Vaters, waren, wie ich Euch schon erzählt habe, nicht ohne bedeutenden Eindruck auf die Bewohner unsers Marktfleckens geblieben. Man kannte sehr gut die wahre Ursache dieser beiden Unglücksfälle. Aber, wie es nun geht, jeder sprach davon, bis die Trauergeschichte alt, und fast vergessen ward. Hingegen ich wollte sie nicht in Vergessenheit sinken lassen, sondern mein Unglück wenigstens zum Glück Anderer benutzen, und damit auf des Vaters Grab den schönsten Denkstein setzen. Ich wollte versuchen, den täglichen Gebrauch gebrannter Wasser, der seit 20 bis 30 Jahren in unserer Gemeinde so allgemein geworden war, allmälig wieder aus ihr zu verbannen, und zwar durch das Mittel, welches mir in England bekannt geworden war. Ich wollte versuchen, für meinen Zweck die wohlwollendsten, gemeinnützigsten Männern bei uns zu vereinigen. Es war nothwendig, daß sie mit ihrem Beispiel vorangingen und durch Ueberredung und überzeugende Vorstellungen auch andere gewönnen. Ich besprach mich zuerst mit angesehenen, würdigen Personen über den ungeheuern Verbrauch starker Getränke in der Gemeinde. und den daraus entstandenen schweren Schaden einzelner Leute und ganzer Familien. Alle stimmten mir bei; wünschten von Herzen gern zu helfen; fanden aber die Sache sehr schwierig. Ich lud sie zur ernsthaften Berathung des Unternehmens, zu einer freundschaftlichen Zusammenkunft, bei mir ein. Es waren der erste Gemeindsvorsteher, der Ortspfarrer, ein junger Rechtsanwalt, ferner mein siebenzigjähriger Kollege, der Arzt, und ein braver Indiennefabrikant, der eine Viertelstunde von hier entfernt wohnt. – Sie kamen.

Nach langem Hin- und Herreden über die Mittel, das Trinken des Brannteweins auszurotten, um in der dadurch schon viel benachtheiligten Gemeinde Arbeitsamkeit, Wohlstand, Gesundheit, Eintracht, Sittlichkeit wiederherzustellen und eine Menge unglücklicher Ereignisse zu verhüten, welche Folgen berauschter Zustände des Menschen sind: kamen wir keinen Schritt weiter. Jeder erhob unter den Anwesenden neue Bedenklichkeiten.

»So etwas muß, vom Staat aus, durch gute Gesetze bewirkt werden!« sagte der junge Advokat: »So lange die Zahl der Wirthshäuser, Weinschenken und Branntweinbrennereien nicht beschränkt, die Einfuhr gebrannter Wasser nicht verboten oder doch erschwert und überhaupt jedes starke Getränk durch Auflagen vertheuert wird: müssen wir's leider bei frommen Wünschen bewenden lassen. Man spricht viel von Luxusabgaben. Der Branntewein ist der verderblichste Luxus, der sich ersinnen läßt. Für ihn gibt der Aermste den letzten Kreuzer hin, und läßt zu Hause Weib und Kind hungern. Durch ihn ist Mancher, der sein Brod gut hätte verdienen können, ins Armenhaus gebracht. Durch ihn ist schon manches Hauswesen zerrüttet. Der Branntewein ist wohlfeil, aber durch das, was er zur Folge hat, der theuerste Luxusartikel. Warum besteuert man ihn nicht? Alle Schuld daran hat die Regierung zu tragen.«

»Da habt Ihr ganz Recht, Herr Fürsprecher!« erwiederte lächelnd der Gemeindsvorsteher, welcher Mitglied des gesetzgebenden Rathes war: »Luxus ist's; aber meinet Ihr, daß der Aufwand oder Luxus in denjenigen Ländern aufhört, wo er am stärksten besteuert wird? Nein, lieber Herr; er siegt zuletzt immer ob, und der menschliche Verstand findet beständig Mittel und Wege, die Gesetze zu umgehen, oder ein Gelüste auf andere Weise zu befriedigen. Wie hat man nicht zu alten Zeiten gegen das aufkommende Tabakrauchen von Kanzeln und Thronen geeifert, in Büchern geschrieben, vor Gerichten gestraft! Umsonst aber belegt man den Tabak mit schweren Auflagen. Jetzt raucht Alt und Jung. Wie hat man nicht ehemals gegen das Kaffeetrinken geeifert, als einen schändlichen Aufwand, als einen der Gesundheit nachtheiligen Trank! Was half's, er ist jetzt zum allgemeinen Bedürfniß geworden. Die ärmste Haushaltung will ihn nicht entbehren. Als Kaiser Napoleon seiner Zeit die Einfuhr von Zucker und Kaffee in Europa verbot, um England zu schaden: meint Ihr, das Kaffeetrinken hörte auf? Mit nichten! Es ward nur ärger damit. Man braute sich das Getränk aus Cichorien, Erbsen und Erdmandeln; man machte Rübenzucker und die Sache blieb beim Alten. Was hilft's bei uns, wenn man bekannten Trunkenbolden richterlich den Besuch der Wirthshäuser verbietet? Die Kerls trinken dann nur zu Hause! Sitten und Bedürfnisse des Landes machen das Gesetz, das Gesetz macht nicht die Sitten und Bedürfnisse. Wie schön Ihr auch reden könnet, Ihr würdet in unserm großen Rathe, wo selbst viele Liebhaber des Schnappses, viele Wirthe, Weinhändler und Likörfabrikanten Sitz und Stimme haben, zu tauben Ohren sprechen. Eigennutz ist ein harthöriger Gesell. Sollen die Menschen besser werden, so muß es durch die Macht der Religion geschehen. Die Herren Geistlichen sollten es sich angelegen sein lassen, kräftiger einzuwirken. Sie allein können durch rührende Ermahnungen und Belehrungen das Volk frömmer und besser machen. Wenn sie nicht, wenn die Religion nicht, wer dann?«

Hier schüttelte der Herr Pfarrer traurig sein graues Haupt und sprach: »Ich predige seit 36 Jahren unverdrossen Gottes Wort; besuche rastlos die Leidenden, Kranken und Sterbenden. Wie wenig aber hat meine Arbeit im Weinberg des Herrn gefruchtet! Man kömmt wohl aus Gewohnheit, oder Anstandes willen, oder aus Neugier, oder Frömmigkeit, oft nur aus mißverstandener Frömmigkeit, in die Kirche. Aber geht man hinaus: so hört die Kirche auf, und das gewohnte Leben und Treiben geht wieder seinen Gang. Man vergißt die gehörten Ermahnungen und hat an Andres zu denken. Die Wirtshäuser sind wieder voll. Wenn alle guten Lehren christlicher Aeltern ihren Zweck bei den Kindern erreichten, würde es keine ungerathene Kinder mehr geben; und hätten die seit tausend Jahren gehaltenen Predigten all' das beabsichtigte Gute gestiftet, so müßte die Welt schon setzt voller Engel sein. Aber Krankheiten, Gebrechen und Fehler der Seele lassen sich so wenig durch bloße Worte heilen, als Krankheiten und Gebrechen des Leibes. Da müßen ganz andere Mittel zu Hülfe genommen wenden, um das Laster sowohl des mäßigen als des unmäßigen Brannteweingebrauches auszurotten, wodurch unserer Gemeinde schon so viel Unfug und Elend erwachsen ist. Da sollten alle frommen, verständigen Hausväter, insbesondere aber diejenigen, welche vielen Leuten Verdienst und Arbeit geben, wie z. B. die reichen Gewerbsherren und Fabrikanten, das Beste thun. Sie sollten keine Brannteweinliebhaber bei sich in Lohn und Brod nehmen.«

Hier rieb sich unser Fabrikant die Stirn und rief. »Sehr schön gesprochen, Herr Pfarrer! Aber wir Fabrikanten bezahlen mit unserem Geld bloß Arbeit, und keine Frömmigkeit und Tugend des Arbeiters; so wie der Herr Pfarrer, wenn er sich Schuhe machen läßt, nur Leder und Arbeit bezahlt, und auf die Geschicklichkeit des Schuhmachers sieht, nicht aber auf dessen häusliches Leben. Wir Fabrikanten sind keine Oberherren, und von unsern Arbeitern gerade eben so sehr abhängig, als sie es von uns sind. Außer der Fabrike haben wir nichts zu befehlen. Der Herr Pfarrer könnte eben so gut zur Regierung sagen, sie solle keine Beamten anstellen, die Likör trinken. Hat ein Verwalter, ein Richter, ein Statthalter, ein Professor, oder anderer Beamter zu tief ins Glas gesehen, richtet er gewiß mehr Schaden an, als ein unbedeutender, benebelter Fabrikarbeiter. Ich läugne gar nicht, daß der Genuß des Brannteweins, auch der mäßigste sogar, mit der Zeit, Gesundheit und Hauswesen Dieser Personen zerrüttet hat und noch immer zerrüttet. Man muß seine Schädlichkeit für die menschliche Gesundheit gar nicht mit dem unschuldigen Genuß des Kaffee- und Tabakrauchens vergleichen. Aber die ärmere Volksklasse, für die der Wein zu kostbar und theuer ist, und die doch dann und wann, so gut, wie der Reiche, einmal Kummer und Sorgen künstlich verjagen will, hält sich an den wohlfeilern und schneller wirkenden Weingeist. Die Leute bedenken oder wissen freilich nicht, daß dadurch auch die Gesundheit nur wohlfeiler und schneller zu Grunde gerichtet wird. Wir Fabrikanten aber haben keinen Auftrag und Beruf, für Gesundheitspflege unserer Arbeiter, oder auch anderer Leute in unserm Dienst, zu sorgen. Ich dächte, das wäre mehr Angelegenheit der Herren Mediziner.«

Bei diesen Worten lachte der siebenzigjährige Doktor laut auf und sprach: »Wir Schweizer haben nie mehr »Aber« und »Wenn« und tausend Bedenklichkeiten bei der Hand, als wenn's darauf ankömmt, zu handeln. Nun, ihr Herren, bedenket aber auch noch, daß der Arzt nur in das Haus geht, in welches er, als Arzt, berufen wird, und daß er nicht sobald wieder einkehrt, wenn einmal sein Patient geheilt worden oder gestorben ist. Er kann also keineswegs darüber wachen, ob man seine Vorschriften und Warnungen befolgt. Arme Haushaltungen aber lassen den Doktor gar nicht, oder oft nur dann erst rufen, wenn es gewöhnlich schon zu spät ist. Dergleichen Menschen gehen lieber zu einem Quacksalber, Harnbeschauer und Gütterlidoktor, oder zu einem alten Weibe oder Kapuziner, um sich ohne Nutzen, aber wohlfeil, betrügen zu lassen. Und komme ich zu bemittelten und reichen Leuten, wie würden die mich anschauen, wenn ich ihnen Bußpredigten über das Likörtrinken halten wollte? Würdet ihr aufgehört haben, ihr Herren, bei einem Gastmahl, starke Getränke vorzusetzen, wenn ich euch den Nachtheil jeder Art Branntewein für die Gesundheit geschildert hätte? Ich zweifle. Leute, die gern einen Schnapps nehmen, bleiben ihm treu; und halten ihn für zuträglich und gesund, so lange sie nämlich gesund sind. Werden sie aber zuletzt dabei kränklich, was selten fehlt: so schreiben sie es hundert andern Umständen, doch gewiß nicht dem Branntewein zu, den alle Welt trinkt und bei dem Mancher ziemlich alt wird. Sind ihnen endlich Blut und Nerven verbrannt und verschrumpft, ja dann lassen sie wohl den Doktor holen, er soll sie geschwind vor dem Tode schützen. Viele, aus Leichtsinn, oder Schamgefühl, oder schon wirklich entstandener Verstandesschwäche, sterben jedoch hin und denken nicht einmal an Rettungsversuche.«

»Ich habe wohl oft daran gedacht,« fuhr der Greis fort: »man sollte auch bei uns Mäßigkeits-Vereine einführen, wie in England, oder Amerika. Aber wenn ich an unsre Brannteweinbrenner, Wirthe, Pintenschenken, Wein- und Likörhandlungen denke, wie die mit aller Macht dagegen schreien würden: Ihr ruinirt uns! Wenn ich an unsere durstigen Brüder denke, die sich einbilden, man könnte in der Welt ohne Schnapps nicht leben, nicht des Lebens froh werden, nicht Kraft zum Arbeiten haben: so fällt mir aller Muth. Ich sehe, es geht nicht. Und doch thäte wahrhaftig Hülfe bei uns noth, so sehr wie in Amerika oder England. In unserm Marktflecken, mit seinen 800 bis 900 Seelen wird, mit wenigen Ausnahmen, fast in allen Häusern Branntewein getrunken, besserer oder schlechterer, mehr oder weniger. In ärmern Haushaltungen trinken ihn nicht nur allein die erwachsenen Männer; sondern auch Weiber und Mädchen haben sich daran gewöhnt, denen er noch schneller zum Gift wird. Zehnjährige Knaben dünken sich gewaltige Helden, wenn sie einen Schnapps hinunterstürzen können, ohne das Gesicht dabei zu verziehen; auch sieht man sie auf den Gassen mit ihren blassen Gesichtern Tabak rauchen. Ja, viehische Mütter flößen sogar ihren kleinen Kindern Wein, oder Branntewein, in den Mund, und belustigen sich an dem Rausch der armen Unschuldigen. Fehlt's an Geld, muß es doch für Branntewein nicht fehlen; man geht lieber in Lumpen. Kann man nicht mehr borgen, so bettelt man zuletzt. Unser Ort war ehemals sehr wohlhabend; seit das Brannteweintrinken gewöhnlich geworden ist, hat sich leider die Zahl der Armen auffallend vermehrt. Unser Herr Gemeindsrath hier weiß so gut, als ich, daß 30 bis 40 Haushaltungen bei uns nichts haben, nur von der Hand in den Mund leben, und mehr oder weniger von der Gemeinde unterstützt werden müssen. Wir haben bei 30 andere dürftige Haushaltungen, die zwar keine Unterstützung genießen, denen man jedoch keine Steuern abfordern darf, ohne sie an den Bettelstab zu bringen. Sie ernähren sich kümmerlich. Doch immer noch halten sie sich aufrecht. Aber ihre Anzahl nimmt leider jährlich zu. Denn von den sogenannten bemittelten Familien stehen schon viele auf zu schwachen Füßen; ihr Eigentum ist ganz oder größtentheils schon unterpfändlich verschrieben. Sie können kaum die Zinsen erschwingen, die sie schuldig sind. Andere von ihnen stehen sich freilich besser, aber behaupten sich mit Noth und Mühe. Wir zählen kaum 15 eigentlich wohlhabende Familien; und von reichen Häusern, was man bei uns reich nennt, kaum mehr, als ein halbes Dutzend. Wir ernähren im Spittel 18 Personen, von denen erwiesen ist, daß sie fast alle, wenigstens ihrer vierzehn, Brannteweintrinker waren. Wir kennen im Flecken acht eigentliche Trunkenbolde, die selten nüchtern sind und zuweilen im Straßenkoth gefunden werden. Seit zehn Jahren sind der Gemeinde 15 uneheliche Kinder zur Last gefallen. Zwei unserer Mitbürger sitzen bekanntlich im Zuchthause. An Sonnabenden, Sonntagen und Markttagen sind mit den Saufereien regelmäßig blutige, oft sogar lebensgefährliche Raufereien verbunden. Das, ihr Herren, ist die Wirkung des bei uns herrschenden Genusses der starken Getränke. Die vielen mißfarbenen, bleichen Gesichter unserer meisten Arbeiter, Taglöhner und armen Leute, sind nicht Folge von schlechter Nahrung. Denn bei Wasser, Milch, Brod und Kartoffeln gibt es die frischesten, fröhlichsten, kräftigsten Leute in der Welt. Gesunde, von der Natur angewiesene Speise und Trank, macht nicht ungesund und schwach. Aber die Natur baut keinen Branntewein. Die Ungesundheit von tausend Menschen ist Folge vom Gebrauch der destillirten Getränke und der daraus entstehenden Selbstvernachlässigung. Die vielen früh siech werdenden, oft elenden Kinder, ohne Saft und Kraft, ohne Farbe und Wachsthum, diese Kinder in armen, wie in wohlhablichen Häusern, sind meistens schon im Keim zu Grunde gerichtete Geschöpfe, lebendige Ankläger und Zeugen von der Unmäßigkeit, oft Berauschung ihrer Aeltern.«


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