Heinrich Zschokke
Die Branntweinpest
Heinrich Zschokke

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19. Das merkwürdige Hochzeitsmahl.

Der Auftritt, dessen Zeugen wir eben gewesen waren, hatte uns mächtig erschüttert. Jeder von uns vermied es, darüber dem Andern ein Wort zu äußern, sondern suchte absichtlich Geschäfte, um sich für einige Augenblicke zu zerstreuen. Für mich lag mitten in den sanften Rührungen des Mitleids etwas unbeschreiblich Schauderhaftes. Welch ein Schicksal von Kindern, die ihre Väter Selbstmörder heißen, und, als solche, beklagen müssen! – Es empört die Natur, solche Klagen zu hören; nur den Trinker läßt solche Klage gleichgültig. Ob der Mann, den seine Leidenschaft umstrickt hält, sich endlich durch den Strang oder durch die Kugel, oder plötzlich durch Arsenik und Blausäure, oder langsam durch Weingeist ums Leben bringt, – ist's zuletzt nicht dasselbe? Immer Selbstmörderei.

Es vergingen unsere Nachmittagsstunden in düstern Betrachtungen. Unsere beiden Gäste ließen sich nicht sehen. Meine ängstliche Frau äußerte mancherlei Besorgnisse. Doch wagten wir es nicht, die jungen Leute zu stören. Welches immerhin der endliche Ausgang ihrer Unterredung sein mochte, ich vertraute der Besonnenheit des braven Walter und der Liebe beider. Als aber der Abend kam und schon in unserm Speisezimmer der Tisch zum Nachtessen gedeckt stand, konnt' ich mich selber kaum einer gewissen Bangigkeit erwehren. Ich ließ die Eßglocke läuten, und meine Tochter auf das Zimmer gehen, wo wir Fridolin und Justinen zurückgelassen hatten. Fast eine Viertelstunde verfloß und niemand erschien. Meine Angst stieg. Ich fürchtete Unglück und war im Begriff mich zu den Ausbleibenden zu begeben.

Da öffnete sich die Thür. Welche Ueberraschung für uns! Fridolin, mit einem Antlitz, verklärt durch Seligkeit; und Justine, mit verschämt zu Boden gesenkten Blicken, traten Arm in Arm herein.

»Sie hören und sehen nichts mehr!« rief meine Tochter lachend: »Ich mußte endlich Gewalt drohen, Justinen zu entführen; wußte aber wohl, Herr Walter werde sie mir nicht überlassen.« Fridolin führte uns seine Braut zu, und sagte: »Sie ist wieder die Meinige; der Engel meines Himmelreichs!«

»Segne Euch Gott, Ihr lieben Dulder!« rief ich gerührt: »Laßt mich, als Euern Vater, gelten; und nehmt den Vatersegen von mir.«

»Und ich will deine Mutter sein!« sagte meine Frau mit vom Entzücken glänzenden Augen zu Justinen, indem sie das Mädchen an ihre Brust drückte.

Aber ich mag den feierlichen, seligkeitsvollen Abend hier nicht beschreiben. Jeder kann sich die Mannigfaltigkeit der Gefühle denken, welche die Brust der Einzelnen in unserer kleinen Gesellschaft, abwechselnd, bald bitter, bald süß, durchzogen. Ja, ich würde hier überhaupt die Geschichte einer der merkwürdigsten und schönsten Begebenheiten meines wenig bedeutenden Lebenslaufes schließen, wenn ich nicht noch des Hochzeitsfestes unsers glücklichen und glückswürdigsten Pärchens Erwähnung thun müßte. Ich gestehe, ein herrlicheres hab' ich nie erlebt; und schwerlich werd' ich dergleichen wieder erleben können. Was ist die todte Pracht kaiserlichen und königlichen Glanzes bei Vermählungsfeiern, neben der Pracht, in welcher Fridolin Walter erschien! Man kann sich eine Vorstellung davon machen, wenn ich sage, daß ihm sein Festtag einen Kostenaufwand von mehr denn 15,000 Gulden verursachte. Doch ich will einfach erzählen.

Fridolin verweilte einige Tage bei uns; dann reisete er zu seiner Mutter, um ihr sein Glück zu melden, und, wie er sagte, einige Vorkehrungen zur Aufnahme Justinens und zur Feier der Vermählung zu treffen. Erst nach einer Abwesenheit von fünf Wochen kehrte er zurück, um die Braut in Begleitung meiner Tochter abzuholen. Meine Frau wollte diese Frist benutzen, Justinen mit dem zierlichsten Brautschmuck auszustatten. Allein die Freude ward ihr vereitelt, als Justine berichtete, Walter lasse sich das Recht nicht nehmen, ihr selber für den großen Feiertag den Schmuck zu wählen. Daß wir, meine Frau und ich, zur Hochzeit nicht fehlen durften, versteht sich von selbst. Wir machten die Reise zu Fridolins Heimath vierzehn Tage später, und wurden von unsern Lieben dort, und von des Doktors trefflicher Mutter mit einer Zärtlichkeit und Traulichkeit, wie die theuersten Verwandten, empfangen. Am Hochzeitsmorgen kamen wie Alle fröhlich zum Frühstück zusammen, versteht sich, im höchsten Putz; besonders die Frauenzimmer. Justine blieb am längsten aus, was sich leicht erklären ließ. Aber sie hatte eigensinnig sowohl den Beistand meiner Tochter, als der Mutter Fridolins abgelehnt, sich bräutlich zu schmücken. Wie erstaunten wir, als sie endlich in den Saal trat. Mit Ausnahme einer Blumenkrone auf ihrem Goldhaar, und eines über ihren Locken herabschwebenden Schleiers, trug sie dasselbe einfache häusliche Gewand, worin Fridolin sie zuerst wieder in meinem Hause gefunden hatte. Ihre Schönheit war ihr Schmuck. »Das ist mir ein heiliges Gewand, in welchem sie die Meinige ward!« sagte Fridolin: »Ein köstlicheres konnte ich nicht wählen, sie zum Altar zu führen. Auch sind wir nicht reich genug, uns im Prunk zu zeigen.« Nach vielen Umarmungen und fröhlichem Geschwätz, ging es zum Frühstück.

Allein das lumpige Geplauder verstummte hier plötzlich. Vor dem Sitz der Braut ward auf dem Tisch eine verdeckte Schüssel, und ein Blumenkranz darüber aufgetragen. Die Frauenzimmer richteten die Augen voll ungeduldiger Neugier darauf, besonders, als Fridolin sagte: »Ein Hochzeitsgeschenk für meine Justine!« – Sie nahm lächelnd den Kranz und den Deckel ab, und wir sahen uns Alle in unserer Erwartung sonderbar getäuscht. Keiner zweifelte einen glänzenden Juwelenschmuck zu erblicken. Statt dessen kamen einige zusammengefaltete Papiere zum Vorschein. Selbst Justine machte, etwas befremdet, oder vielleicht in einer Hoffnung getäuscht, wunderliche Miene dazu. Sie entfaltete und las einige der Papiere, ward ernst und blaß. Die hellen Thränen stürzten aus ihren Augen. Außer sich selbst sprang sie vom Tisch auf, und warf sich stumm und weinend um Fridolins Hals, der vergebens einen Sturm beruhigen wollte, den er erregt hatte. Erst später, nachdem Justine besänftigt worden war, vernahmen wir den Werth des Geschenks. Es war kein Geringes und bestand in Titeln, Briefen und Quittungen der noch übrig gebliebenen Schulden, welche Justinens Vater unbezahlt hinterlassen hatte. Sämmtliche Gläubiger waren befriedigt, und keiner von ihnen hatte an diesem Tage das Andenken des unglücklichen Thaly zu verwünschen. Fast eben so bewegt, als Thaly's Tochter, zog ich den großmüthigen Fridolin an mein Herz und rief: »Segne dich Gott, Herzensjunge, herrlicher kannst du nicht in den Himmel deines Lebens eingehen, als du heut' eintrittst!«

Indessen schien es, bei dieser hochzeitlichen Handlung sollte es noch nicht sein Bewenden haben. Denn ich hatte schon am Abend vorher bemerkt, als es dunkel geworden war, und sich Fridolin fast eine Stunde lang von uns entfernt hatte, daß eine Menge Leute von der ärmern Volksklasse zum Hause gekommen waren, und große Bündel mit sich davon getragen hatten. Ohne Zweifel wollte er seinen Freudentag auch zu dem vieler seiner dürftigen Mitbürger machen. Ich hatte mich nicht geirrt. Justine vertraute mir, er habe mehr denn zweitausend Gulden edelsinnig hingegeben, um 15 bis 20 der ärmsten Familien des Marktfleckens vom Kopf zu Fuß neu zu kleiden und sogar mit Hemden und Betttüchern zu versehen.

»Aber das ist fürstliche Verschwendung, lieber Fridolin!« rief ich, als wir nach dem kirchlichen Gottesdienst und der feierlichen Trauung zum Mittagsmahl gingen. Dies ward unter freiem Himmel in einer großen Wiese gehalten, wo vier ziemlich lange Tische, unter ausgespannten Zelttüchern, ein großes Viereck bildeten, in dessen Mitte abermals eine gedeckte Tafel für etwa zwanzig Personen stand: »Hast du denn den ganzen Marktflecken zum Hochzeitsschmaus eingeladen? Bist du denn der reiche Mann im Evangelium? Zuviel ist zu viel, lieber Freund.«

Er lachte und sagte: »Sei ohne Kummer! Ich bin nicht reich; und werde durch den Aufwand, welchen du heute wahrnimmst, nur um eine Handvoll kleiner, unnützer Steine ärmer, die bei mir todt im Schranke lagen. Ich habe nämlich Geschenke, die ich in England von verschiedenen Seiten empfing, einige goldene Dosen und Ringe mit ihren Edelsteinen, sag' es Niemandem, verkauft; und sogar den kostbaren Schmuck, den ich vor zwei Wochen von der Familie meines Gönners, des Lords, für meine Braut empfing. Sie hat das Perlenhalsband und die Diamantennadeln nicht einmal gesehen; sie fand ihr Eigentum nur in den eingelösten Schuldbriefen ihres Vaters wieder. Ich entdeckte ihr erst beim Heimgang aus der Kirche Alles, damit sie mich nur nicht für großmüthiger halte, als ich bin; und damit sie auch das Bewußtsein habe, des Vaters Schulden seien großen Theils durch das Gut seiner Tochter ausgelöscht. – Was hier die langen Gasttische betrifft, ich habe keineswegs den ganzen Marktflecken zur Hochzeit eingeladen; auch nicht einmal die angesehenen Familien unsers Orts, du wirst dich in keiner glänzenden Gesellschaft befinden. Es sind die allerärmsten Haushaltungen hiesigen Orts, welche brav geworden, dem Brannteweintrinken fremd, und unserm Mäßigkeits-Verein beigetreten sind. Ich wollte den guten Leuten einen frohen Tag schaffen. Und der kleine Tisch dort in der Mitte ist für uns, und die ersten Gründer des Mäßigkeits-Vereins. Man soll sich heut' mit mir und Justinen freuen!«

Ich drückte dem edeln Menschen die Hand und konnte ihm nur die wenigen Worte sagen: »Du hast deine Steine zum Kleid der Nothleidenden gemacht und deine Perlen in Freudenthränen verwandelt, du Reicher, aber das beneidenswertheste Kleinod behalten. Du trägst es in deiner Brust!«

Bräutigam und Braut empfingen natürlich den Ehrenplatz am mittlern Tisch. Als wir uns gesetzt hatten, begann in einem benachbarten Wäldchen Musik und die Bänke der langen Tafeln des großen Vierecks füllten sich mit den eingeladenen Gästen, Männern und Frauen, den Dürftigsten des Ortes. Aber heut' sah man ihnen keine Dürftigkeit an. Alle zeigten sich in neuen Kleidern, die sie der Freigebigkeit ihres Wohlthäters dankten; alle betrugen sich mit auffallender Anständigkeit und Stille. Nur das Geräusch unzähliger Zuschauer, welche aus dem Marktflecken und benachbarten Dörfern herbeigekommen waren, Zeugen dieser unerhörten Hochzeitfeier zu werden, erfüllte, anfangs vermischt mit den Tönen der Musik, die Luft. Es waltete aber unter den hundert Gästen und tausend Zuschauern bald eine sonderbare Ruhe und Würde, wie sie weder bei solchen Gelegenheiten noch in solchen Volksmassen gewöhnlich ist. War es das Ungewohnte dieses Schauspiels, welches den stillen Ernst, ich möchte fast sagen, die schwermüthigheitere Stimmung verbreitete; oder war es Bewunderung und Hochachtung für das schöne Brautpaar und Erinnerung an dessen frühere Unglückstage? – Ich kann es mir nicht erklären. Selbst die fröhliche, fern aus den Gebüschen hertönende Musik schien die Gemüther nur zu einer wehmüthigen Freude zu stimmen, die nirgends sichtbarer, als in Fridolins und Justines Gesichtszügen zu lesen war.


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