Heinrich Zschokke
Die Branntweinpest
Heinrich Zschokke

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15. Der Gemeindsvorsteher hält eine Rede ans Volk.

»In der That war jetzt die Hauptsache abgethan!« fuhr Fridolin in seiner Erzählung fort, zu der er die Schriften benutzte, welche er mitgebracht hatte: »Schon nach 3 Wochen war es gelungen, 29 Hausväter für unsern Enthaltsamkeitsbund zu gewinnen, ungerechnet sieben unverheiratete junge Männer. Ohne Zweifel hatte auch der Tod meines Vaters, und ganz vorzüglich das schreckliche Ende des alten Thaly nicht wenig beigetragen, die Gemüther für unser Unternehmen günstig zu machen. Wie konnte es anders sein, da man das Beispiel von den Wirkungen des Brannteweins, vom Untergang einer sonst geachteten Familie, von dadurch entstandenem Selbstmord zweier Personen, von der Flucht einer unglücklichen Tochter, von der Verarmung eines ehemals guten Hauses so nahe vor Augen hatte! Aber wenn dies Alles auch nicht der Fall gewesen wäre, so hatte doch fast jeder an sich mehr oder weniger schon die Erfahrung gemacht, daß der gute, wie der schlechte Branntewein ein ungesundes Getränk sein müsse. Jeder wußte von den Schlägereien, Verwundungen und Schändlichkeiten, die im trunkenen Muthe fast alle Wochen begangen wurden. Jeder kannte die Haushaltungen, mit denen es den Krebsgang ging, weil der Mann Abends gewöhnlich weinwarm aus einem Wirthshaus kam, und, was er verdiente, vertrank und verspielte.«

Nun wurde von uns also die erste öffentliche Versammlung des Vereins beschlossen, und wirklich an einem Sonntag im großen Saal des Gemeindehauses abgehalten. Außer den von uns Eingeladenen waren weit mehr denn hundert Andere aus hiesigem Orte gekommen; die meisten wohl aus Neugier; manche vielleicht auch, um sich nachher über uns lustig machen zu können. Der erste Gemeindsvorsteher hatte, auf unsere Bitten, in dieser Versammlung einsweilen den Vorsitz übernommen, und hielt eine Anrede, die, in ihrer natürlichen Einfalt und Derbheit manchem Lachlustigen den Lachkitzel vertrieb. Sie lautete folgendermaßen:

»Liebe Mitbürger! – Man weiß im ganzen Marktflecken, warum wir hier zusammengekommen sind. Also brauch' ich es euch nicht erst zu sagen. Aber ich denke mir, die Wenigsten von euch sind wohl gekommen, um einem christlichen Mäßigkeits-Verein anzugehören, sondern um etwas Neues zu vernehmen. Gut! Ihr sollt Neues erfahren, was ihr vorher nicht wußtet.«

»Wenn ich von Haus zu Haus laufen wollte und fragen: Wie viel glückliche und zufriedene Familien haben wir in der Gemeinde? Ich glaube, ich brächte keine volle drei Dutzend zusammen. – Wie geht's mit Wohlstand und Vermögen? Antwort: Selten vorwärts; bei den Meisten schief und rückwärts. Beinahe die Hälfte der Einwohner ist ziemlich verarmt; der übrige Theil bemittelt, aber verschuldet. Der Reichen haben wir wenige. – Wie steht's mit der Religion und Sittenzucht? Sonntags Morgens singt man in der Kirche, Abends in den Wirthshäusern. Zänkereien und Stänkereien, Schlaghändel und Prozesse gibt's bei uns in Hülle und Fülle; das weiß der Friedensrichter dort am besten. An Fallimenten fehlt's nicht; an Selbstmördern leider auch nicht! An unehelichen Kindern leider auch nicht! Ein paar unserer Mitbürger sind ins Zuchthaus gewandert! Sind das die Früchte der Religion? – Wahrhaftig nein! Das sind die Früchte des Teufels, die er seinen Freunden und Unterthanen bringt.«

»Aber wo hat denn der Teufel gewöhnlich und für die Meisten unter uns seinen Thron aufgeschlagen? Auf dem Zapfen der Wein- und Brannteweinflasche! Seht, das habt ihr doch noch nicht gewußt. Und davon soll eben die Rede sein. Allerdings, der Wein erfreut des Menschen Herz, sagt die heilige Schrift, nota bene; wenn man Maß und Ziel hält. Maß ist in allen Dingen gut, also auch in guten Sachen. Der Wein ist eine Gabe Gottes; aber der Branntewein eine Gabe des Teufels, darum kann man ihn aus allerlei brennen und destilliren, und Jeder kann ihn machen, weil er uns in keinen Rebbergen in die Hand wächst. In mäßiger Menge gegossen hat der Wein durchaus keine schädliche Wirkung. Selbst die völlige Weinbesoffenheit hat noch keine so zerstörenden Wirkungen auf Leib und Seele, als Brannteweinbesoffenheit. Auch der vorsichtige Trinker des Weins wird oft, wenn er sich nicht hütet, zum Säufer; je mehr er trinkt, je mehr ihn dürstet. Zulegt begnügt er sich nicht mehr mit dem Traubensaft; er greift zum Brannteweinglase. Viele thun es früher, weil sie nicht Geld genug für Wein im Sack haben. Die Unglücklichen! sie wissen nicht, was sie thun. Sie trinken Gift! In allen Branntewein ist Gift gethan und zwar von allerlei Sorte. Das habt ihr noch nicht gewußt. Ich hab' es auch erst von den Doktoren erfahren. Darum muß es jetzt Allen bekannt werden. Hört aufmerksam zu!«

»Der Branntewein besteht hauptsächlich aus Wassertheilen und vielem Weingeist oder Spiritus. Dieser Weingeist ist das Giftartige. Er brennt in blauen Höllen-Flammen, wenn man ihn anzündet. Er wirkt auf Blut und Galle, und erzeugt bei seinen Liebhabern die ihnen gewöhnlichen Leberkrankheiten. Er vermischt sich nicht mit den andern Säften des Körpers, sondern bleibt wie er ist. Er geht in die Muttermilch über; und säugende Frauen, wenn sie Branntewein nehmen, haben des Nacht unruhige Kinder. Er geht in das Blut über und ändert seine Natur nicht. Das Blut eines rechten Säufers, dem man zur Ader gelassen, brennt, wenn man es destillirt, in blauen Weingeistflammen. Der Weingeist kann sich sogar im menschlichen Leibe entzünden. Daher hat man in allen Ländern Beispiele von Menschen. die von selbst in Flammen ausgebrochen und zu Asche verbrannt sind. Im Kanton Basellandschaft verbrannte vor einigen Jahren ein Mann bei lebendigem Leibe zu Asche, der sich den Schnapps hatte zu sehr gefallen lassen.«

»Im Branntewein, wenn er auch wasserhell ist, sind sehr häufig Kupfertheile aufgelöst. Man kann diese Auflösung nicht ganz verhüten, wenn beim Brennen des Brannteweins dieser durch die Röhren in die Vorlage abfließt. Ich habe in solchen Röhren schon eine ganze Kruste von Grünspan gesehen, aber ich habe auch schon viele vergiftete Trinker gesehen, die davon schleichendes Fieber, Schwindel, Auszehrung hatten. – Im Kirschwasser ist das bis jetzt bekannte stärkste Gift enthalten, nämlich die fürchterliche Blausäure. Ein kleiner Tropfen Blausäure, auf die Zunge eines jungen Hundes gethan, tödtet ihn auf der Stelle, unter vielen Zuckungen. Freilich ist im Kirschwasser die Blausäure sehr verdünnt; aber wer viel trinkt, schluckt natürlich auch viel davon.«

»Dabei bleibt's nicht! Die Branntweinbrenner und Likörfabrikanten geben noch allerlei schädliche Beimischungen, um ihre Waare den Liebhabern schmackhafter und beliebter zu machen; gleich wie manche Wirthe, ans gleicher Ursach', ihre Weine stärker schwefeln und mit nachtheiligen Zusätzen zu verbessern meinen. Häufig werden dem Branntewein auch Alaun und Bleiauflösung zugemischt; oder Kirschlorbeerblätter, Pfeffer, bittere Mandeln und andere aufreizende oder betäubende Mittel. Daher zum Theil sind die verderblichen Wirkungen der gebrannten Wasser nicht bei allen Trinkern gleich. Der Eine leidet an diesem, der Andere an jenem Uebel. Vergiftung des Menschen findet aber in jedem Fall statt; sogar bei enthaltsamen Brannteweintrinkern; geschweige bei denen, die täglich ihren Schnapps zu sich nehmen. Sie werden in der Regel nicht alt. Bei uns hier in der Gemeinde sind wenige Schnappsfreunde, die sich kräftig und gesund fühlen. Fragt nur in ihren Häusern nach. Fragt nur unsere Herren Doktoren. Es gibt auch Manche, die trinken und nicht berauscht werden. Das bewirkt bei ihnen zum Theil die Gewohnheit. Sie thun sich darauf etwas zu gut. Sie glauben, sie können es ertragen. Man hält sie kaum für eigentliche Trunkenbolde und sind es dennoch. Aber innerlich sind sie zerfressen; Milz, Leber und Magen sind wurmstichig. Sie verdauen schlecht; auch das Wenige nicht. Kein Wunder. Man hat bei manchen Trinkern den Magen so klein gefunden, daß er nur eine Faust groß war; bei andern sah man den Magen durchlöchert. Manche Zechbrüder widerstehen mit eiserner Gesundheit allen Uebeln ihres Lasters; aber schaut auf ihre Nachkommenschaft! Was der Vater nicht verdienterweise leidet, davon werden die schwachen, ungesunden Kinder das Opfer! Wer Branntwein trinkt und seine Portion Gift einmal im Leibe hat, den nimmt jede Krankheit, wenn ihn eine befällt, weit härter mit, als den Nichttrinker, oder nimmt ihn schnell aus der Welt.«

»Liebe Mitbürger, ihr seht mich verwundert an. Ich spreche aber nach dem Zeugniß berühmter Aerzte. Ihr denkt, ich übertreibe? Nein, ganz und gar nicht. Man hat bisher an die bösen Wirkungen des Branntweins nicht viel gedacht; man mußte davon erst Erfahrung haben. Jetzt hat man sie. Unsere alten Vorfahren kannten dies Getränk nicht, und brauchten es nicht. Auch heut' leben Tausende ohne dasselbe. Sie sind gesund. Und Tausend leben, die aus dem sichtbaren Schaden klug genug geworden sind, und sich seiner gänzlich entschlagen haben. Sie sind gesünder, frömmer und wohlhabender geworden.«

»Der Branntewein ist bei uns erst seit den Theurungsjahren gemeiner geworden, als damals Wein und Bier zu schlecht und zu kostspielig wurden. Seitdem blieb man beim Schnapps. Aber seitdem ist Armuth und Bettelei und Liederlichkeit bei uns größer geworden. Das Gesöff wärmt wohl ein paar Minuten den Magen, reizt wohl eine Stunde lang die Lebenskräfte an, aber hinterläßt nachher träge Gliedmaßen, schweren Kopf; lähmt Verstand und Herz und Arm. Brannteweintrinkende Arbeiter sind in der Regel schlechte Arbeiter. Ich kenne diese faulen Vögel aus Erfahrung. Fort mit ihnen! Während sie im Wirthshaus ihren Lohn vertrinken und verspielen, leben daheim Weib und Kind elender, als die Hunde. Kömmt der Mann heim, gibt's Zank und Streit. Schaut auf der Gasse die blassen, halbnackten, lasterhaften Kinder! Wodurch sind sie blaß, halbnackt und lasterhaft? durch die Verruchtheit ihrer gewissenlosen, viehischen Aeltern. – Versteht ihr mich? – Kleine Buben können bei uns schon Branntewein saufen; sie machen es den Alten nach, die bei allen Gelegenheiten, sogar bei Begräbnissen, zechen. Das Laster der Trunkenheit steht nie allein. Es hat zur Gesellschaft die Spielsucht, Wollust und mancherlei heimliche Sünde. Selbst Kinder begehen schon Unzucht!«

»Werdet ihr mir glauben, wenn ich euch sage, daß in unserer Gemeinde die ärmsten Familien, welche Unterstützung genießen. doch täglich ihren Branntewein trinken, der aber weder satt macht, noch ihren Durst stillt? Werdet ihr mir glauben. daß sie dadurch ärmer und untüchtiger zur Arbeit werden? Daß von zehn Wahnsinnigen in den Irrenhäusern, von zehn Dieben und andern Verbrechern in den Zucht- und Strafanstalten, von zehn Kranken und Verlumpten in den Spitälern, gewiß ihrer neune sind, die gern Branntewein tranken und durch dies Getränk zuletzt dahin gerathen sind? – Christen, die ihr zur Kirche laufet, gehorchet ihr Gott, der das Laster der Trunkenheit verbietet? Ich glaube, der Giftteufel im Branntewein ist gar Vielen von euch lieber. Ihr setzet eher die Seligkeit eurer Seele aufs Spiel, als daß ihr jenen Giftteufel verabschieden möchtet.«

»Ich merk' es wohl, mancher von euch denkt: es ist auch nicht halb so arg. Ein Glas Branntewein, selbst ein kleiner Rausch kann nicht schaden. Es zerstreut den Kummer und macht das Herz fröhlich. O ja, ich will euch noch mehr sagen: ein kleiner Rausch macht eine Stunde lustig; aber einen Tag, oft ein Jahr lang bringt er Aerger und Reue. Ein kleiner Rausch macht eine Stunde lang reich; man verschwendet dann sein Geld, als hätte man dessen zu viel. Was man im Rausch kauft, sieht man schöner und sieht man doppelt. Aber nüchtern sieht man sich geprellt und den Beutel leer. Darum gibt man bei öffentlichen Steigerungen den Mehrbietenden Wein und Branntewein, damit sie doppelt sehen und sich reich dünken. Aber wie viele Menschen sind dadurch in Noth und Schulden gekommen!«

»Doch ich will zum Ziel schreiten. Es muß dem ekelhaften Unwesen und Elend bei uns abgeholfen werden. Regierungen und Gesetze bekümmern sich leider fast in keinem Lande darum. Ich weiß nicht, ob es ihnen an Willen, oder Kenntniß, oder an Macht fehlt. Man muß es ihnen endlich, wie euch, sagen: Weingeist und Gift sind einerlei; das bezeugen die gelehrtesten und erfahrensten Aerzte; das bezeugt fast in allen Städten und Dörfern wöchentlich und täglich eine traurige Erfahrung. Branntewein ist nicht nur Leibesgift, sondern auch Seelengift. Er verdirbt nicht nur die Gesundheit des Volks, sondern macht es ärmer, verwilderter, sittenloser, zahlreicher an Verbrechern. Aus Apotheken darf, ohne Aufsicht der Aerzte, kein Gift verkauft werden; aber für Geld gibt die Regierung Patente, Brannteweingift zu brennen und an Jedermann zu verkaufen. Ein Gesetz, das offenbar Unsittlichkeit und Rohheit begünstigt, ist ein unchristliches, unsittliches Gesetz. Und ein solches ist jedes Gesetz, welches leichtsinnig den Gifthandel gestattet. Spielhäuser und Bordelle richten nicht den tausendsten Theil des Schadens im Volk an, als der Branntewein. Jene aber verbietet man, und zu diesem lacht man! Das ist die Weisheit, oder vielmehr die Barbarei unserer Regierungen und Gesetzgeber. Vielleicht aber ist ihnen das Unglück unbekannt, welches die Brannteweinliebhaberei veranlaßt oder geradezu stiftet? – Warum ziehen sie darüber nicht Erkundigungen in Städten, Flecken und Dörfern ein? Warum fordern sie nicht Berichte über den frühern Lebenswandel derer ein, die in Spitälern, Armenhäusern, Irren- und Strafanstalten sitzen? – Da würden sie erfahren, daß der Branntewein die Elenden dahingebracht hat; erfahren würden sie, daß kein Dieb, kein Mörder, kein Straßenräuber, kein Brandstifter leicht an sein Verbrechen gegangen sei, ohne daß er sich nicht vorher durch Wein und Branntewein Muth trank. – Und die Regierungen blieben gleichgültig dabei! Gott verzeih ihnen!«

»Darum wollen und müssen wir uns selber helfen. Eine ansehnliche Zahl ehrenwerther Männer unserer Gemeinde hat sich einem christlichen Verein verbunden, wie er schon mit Glück in andern Ländern besteht. Diese Männer sind entschlossen, das Brannteweintrinken bei sich und ihren Freunden und Bekannten, wo möglich, ganz abzuschaffen, und zu leben, wie unsere in Gott ruhenden Altvordern. In diesen Verein können aber nur Freunde eines nüchternen Wandels treten, mögen sie arm oder reich sein. Es ist dieser Verein kein politischer, kein gelehrter. Er beruht auf einem Vertrag wohlgesinnter Familien, um Religion, Wohlstand und Eintracht in unsere Gemeinde zurückzuführen und zwar einzig durch das Mittel, keine gebrannten Wasser mehr, als in höchst seltenen Fällen, zu genießen. Wir hoffen, ihr und eure Familien werdet nach und nach euch uns anschließen. Und nun ihr die Sünde, welche so großes Unheil bringt, als schwere Sünde erkennet gegen euch selbst, gegen eure Weiber und Kinder, gegen eure Mitmenschen und gegen Gott: werdet ihr davon ablassen. Höret nun das einfache Gesetz des Vereins.«

Mit lauter Stimme las der Gemeindsvorsteher die von uns angenommenen Statuten ab, die sogleich von den sechsunddreißig Männern unterzeichnet wurden, welche sich zuvor schon dazu anheischig gemacht hatten. Man verteilte nachher die Statuten gedruckt in alle Häuser, damit sie Jedermann kennen lerne.


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