Heinrich Zschokke
Die Branntweinpest
Heinrich Zschokke

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12. Man kömmt zum Ziel.

So sprach der vielerfahrene Greis. Nun nahm auch ich das Wort, weil die Andern nachdenklich geworden zu sein schienen und still schwiegen. »Die Rede unsers alten, würdigen Freundes hat uns ernst gemacht,« sagt' ich: »Leider ist's bei uns in der Bürgerschaft also, wie er gesagt hat. In andern Gemeinden geht's nicht viel besser, oft noch ärger. Warum helfen wir aber nicht zu rechter Zeit noch, ehe es viel schlimmer werden kann? Man hat von einem Mäßigkeitsverein gesprochen; ich glaube selbst, er sei das wahre Mittel, der Fluth des großen Unheils Schranken zu bauen. Man hat behauptet, die Stiftung solchen Vereins sei in hiesiger Gemeinde gar nicht ausführbar. Aber wo ist der Beweis davon? Wir haben ja noch nicht einmal den Versuch gemacht! Ich will glauben, es sei manche Schwierigkeit damit verbunden; allein haben wir denn schon unsere Kräfte gegen die allfälligen Schwierigkeiten auf die Probe gesetzt? Warum sollte denn bei uns und überall im Schweizerland ganz unmöglich sein, was doch schon in Amerika, England, Irland, Schweden, Sachsen, ja sogar schon in einigen Gegenden von Rußland, mit Glück und großem Segen ins Werk gesetzt worden ist? Sind wir denn weniger vaterländisch, weniger gemeinnützig, weniger tugendhaft, als Russen, Engländer oder Amerikaner? Haben wir unter uns weniger Freunde des Volks, weniger Freunde der Gesundheit, des Wohlstandes und der Sittsamkeit, als in andern Ländern?«

»In Amerika ward schon im Jahr 1813 zu Boston der erste Mäßigkeitsverein durch rechtschaffene Hausväter errichtet. Die Gesellschaft daselbst hatte nur den Zweck, dahin zu wirken, daß der Mißbrauch des Brannteweins und anderer starken, berauschenden Getränke aufhöre. Also der Mißbrauch! – Wer Arsenik oder Scheidewasser in den Magen bringt, treibt der nicht in jedem Fall damit Mißbrauch? Vergiftet er sich nicht dabei in jedem Fall, mäßig oder unmäßig, allmälig oder plötzlich? Ist nicht Branntewein aller Art schon an sich selbst, durch den darin enthaltenen Weingeist, Gift? Und weiß denn derjenige immer, welcher nur wenig, nur mäßig trinken will, wann er genug, vielleicht schon zuviel hat? Die berauschende Wirkung des Weingeistes stellt sich in jedem Menschen einmal früher, einmal später ein; ist sie aber eingetreten, ist die Aufregung der Nerven und des Blutes einmal da: dann ist auch der Leichtsinn, der Uebermuth, die Vergessung aller frühern guten Vorsätze, und die Verachtung aller gefährlichen spätern Folgen da.«

»Genug, ihr Herren, die Gesellschaft zu Boston hatte einen argen, groben Fehler begangen. Statt den Gebrauch starker geistiger Getränke abzuthun, dachte sie nur an Abstellung des Mißbrauchs. Aber, mit dem Gebrauch des Brannteweins, blieb, nach wie vor, auch der Mißbrauch. Der Gebrauch selbst war schon Mißbrauch. Auch bewies es die Erfahrung. Der Verein verbesserte nichts, wirkte nichts, und gab sich 12 bis 13 Jahre vergebliche Mühe.«

»Endlich sah man den begangenen Irrthum ein. Man vereinigte sich gegen den Genuß alles Brannteweins, seltene Fälle ausgenommen, und suchte, so weit man wirken konnte, die Menschen zu bewegen, sich desselben vollkommen zu enthalten. Das half! Der Vortheil und Segen von der Abschaffung des Brannteweins war in Amerika so offenbar, daß dem Beispiel überall nachgeahmt wurde und von Jahr zu Jahr und in den verschiedensten Gegenden neue Enthaltsamkeits-Vereine entstanden. Im Jahr 1835 hatten sich in Amerika schon über 8000 dieser menschenfreundlichen Vereine gebildet. Es gehören jetzt zu denselben über zwei Millionen Menschen. Mehr denn 12,000 Personen. die ehemals dem Trunk ergeben waren, genießen dort durchaus keinen Branntewein mehr. Auf weit über 1200 amerikanischen Seeschiffen wird nun keiner mehr für die Matrosen mitgenommen. Den Milizen ist der mindeste Genuß des Branntweins, so lange sie im Dienst stehen, von der Regierung unter strenger Bestrafung verboten. So schreitet die heilsame Ordnung noch alljährlich weiter fort. Freilich kömmt dabei die bisherige Giftmischerbande in Amerika übel weg. Man zählt wirklich nun schon 4000 bis 5000 Branntewein-Brennereien und Likörfabriken, die ganz eingegangen sind; und gegen 9000 Kaufleute und Wirthe, die keine gebrannte Wasser mehr in ihrem Verkehr haben, weil sie keinen Absatz finden, oder nicht öffentlich Giftmischer heißen wollen. – Seht, das ist die Macht der Wahrheit und der Vaterlandsliebe! Sind wir hier zu Lande ein verächtlicheres Volk, als die Amerikaner?«

»In England zählte man im Oktober 1835 schon 130,432 Mäßigkeitsvereine der Dörfer und Flecken des Landes. In großen Städten sind oft 10 bis 20 Vereine zugleich. Es haben dort 928 Aerzte und Wundärzte, darunter die berühmtesten Aerzte von London, in öffentlicher von ihnen unterzeichneter Druckschrift dem englischen Volke die heillosen Wirkungen des Brannteweins auf die menschliche Gesundheit erklärt. Warum sollte bei uns in der Schweiz nichts Aehnliches geschehen? In Dänemark, Sachsen, Schweden, Finnland, Rußland ist man zum Entschluß gekommen, so viel als möglich, den Genuß der hitzigen Getränke abzuthun. Man hat Enthaltsamkeits-Vereine gegründet. Die Reform der Volkssitten muß vom Volk selbst ausgehen. Keine Regierung ist für sich allein dafür mächtig genug! – Was geschieht aber in der Schweiz? – O freilich, wir haben politische, vaterländische, gemeinnützige Gesellschaften. Aber was haben sie denn schon Großes geleistet? Die Streitsucht vermehrt. Man schreibt ein halbes Hundert Zeitungen; verbessert das Schulwesen; man theilt Volksbücher aus; man errichtet Volks-Bildungsvereine. Alles umsonst! Eure Schulen, eure Volks-Bildungsvereine sind ohne Wohlthätigkeit, so lange ihr es nicht dahin bringt, daß das betäubende Brannteweingift aus tausend Familien entfernt wird. Denn dieses hat bisher in ihnen Zwietracht und Unglück aller Art, Leichtfertigkeit, Irreligion, Müßiggang, Armuth, Wollust, Kränklichkeit, elende Nachkommenschaft und zahllose Menge von Vergehen und Verbrechen erzeugt, oder befördert. Wer Verstand und Herz des Volks bilden will, muß nicht beide vorher durch Völlerei und Ausschweifung abstumpfen und lähmen lassen.«


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