Heinrich Zschokke
Die Branntweinpest
Heinrich Zschokke

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9. Der Besuch.

Wir hatten tiefbewegt Justinens Erzählung angehört. Wir umringten Alle das gute Kind; schlossen es in unsere Arme, und suchten es durch unsern Trost und die Betheurungen unserer Liebe zu beruhigen. Justine hatte wohl Recht: wenn ihr Vater die Folgen hätte voraussehen können, welche durch Gewohnheit und zuletzt durch Bedürfniß starker Getränke entstehen konnten, er hätte gewiß sich auf der Stelle davon losgesagt. – Und wie Viele leben noch, die mit dem Glase Branntwein in der Hand, das sie für so unschuldig und unschädlich halten, bei dem sie sogar etwas alt werden können, unbesorgt dem still heranschleichenden Verderben ihres Leibes, ihrer Seele, ihres Hauswesens entgegenlachen!

Ich berieth mich mit meiner Frau. Wir waren entschlossen, für Justinens Schicksal in jedem Fall zu sorgen, wie es auch komme. Daß sie mit ihrem Herzen im Stillen noch immer an dem ehemaligen Jugendgespielen hing, wenn auch mit aufgegebener Hoffnung, hatten wir deutlich bemerken können. Aber Frage war nur, wie es mit Fridolin Walter stehe? ob er noch an die arme, entlaufene Justine denke, oder sich schon verheirathet habe? ob er noch in seiner Heimath wohne, oder vielleicht nach England zurückgegangen sei? Ja, wir wußten überhaupt nicht einmal, ob er noch am Leben sei? – Ich bereute, meine Verbindung mit ihm vernachlässigt zu haben; entschloß mich kurz, die Reise zu ihm zu unternehmen, und mir über seine Verhältnisse Gewißheit zu verschaffen. Justine durfte indessen von Allem einsweilen nichts erfahren. Ich setzte mich in den Reisewagen und fuhr ab.

Am zweiten Tag befand ich mich schon im Angesicht von Fridolins und Justinens Heimath. Es war im Sommer; ein schöner Nachmittag. Die Leute arbeiteten im Felde. Ich stieg aus dem Wagen und ließ ihn in den Marktflecken voranfahren, um meine ungeduldige Neugier etwas früher durch Nachfrage zu stillen, ob ich meine Reise vergebens gethan habe? – Ich redete den ersten, besten an, einen zerlumpten Bauer, der, auf seine Mistgabel gelehnt, müßig meinem Wagen nachgaffte. Auf die Frage, ob der Doktor Walter noch im Flecken dort wohne? sah mich der Kerl mit seinem bleichen, gedunsenen Gesicht eine Weile ganz einfältig an; wiederholte die Frage langsam, und setzte dann hinzu: »Verzeiht, Herr, aber bis diesen Morgen hat der Teufel den Leuteschinder noch nicht geholt.« – Ich war durch diese Antwort etwas betroffen und setzte meine Fragen fort; erhielt aber nur immer verworrene und wenig erfreuliche Nachrichten über den Doktor. – Das that mir von Herzen leid. Wie hatte sich Fridolin in so wenigen Jahren verändern können! Und doch hatte ich ähnliche Aenderungen der Menschen schon oft erlebt. Arme Justine! dacht' ich. Ich ging weiter und holte auf dem Weg eine alte Frau ein, welche, mit einem Korb auf dem Kopf, ebenfalls in den Flecken ging. Bei Wiederholung meiner Frage nach Fridolin, sagte sie: »Ihr meinet unsern Gemeindsammann? Ja, freilich; Ihr findet ihn zu Hause.«

– Also ist er jetzt Gemeindsammann? Und ist man mit ihm zufrieden? fragte ich weiter.

»Das sollt' ich meinen!« versetzte die Alte: »Er ist ein rechtschaffener, verständiger Mann., der unserm Ort schon viele tausend Gulden genützt hat.«

Das ermuthigte mich wieder. Ich erfuhr nun von meiner geschwätzigen Begleiterin, daß er bei seiner Mutter wohne; daß er unverheiratet sei; daß er großes Vermögen besitze; daß er viele arme Haushaltungen unterstütze, ein wahrer Vater der Wittwen und Waisen wäre; daher allgemeine Achtung genieße in der ganzen Gegend, und sogar in den großen Rath des Kantons gewählt worden sei, was er aber ausgeschlagen habe, um sich nicht von seinen Kranken entfernen zu müssen Endlich, wie wir im Gespräch dem Flecken näher kamen, zeigte sie mir eines der schönen Häuser rechts der Landstraße, in der Mitte eines Gartens, als Fridolins Haus. Ich trat ohne Umstände hinein.

Eine betagte, aber durch Kleidung und würdevolles Benehmen ausgezeichnete, Frau begegnete mir im Hausgang. Ich hielt sie für die Mutter des Doktors und irrte mich nicht. Auf mein Verlangen führte sie mich in das Zimmer ihres Sohnes Er saß am Schreibtisch, kam mir entgegen und erkannte mich bald. Der Empfang war herzlich. Ich gab eine Geschäftsreise vor, die ich zur Erneuerung unserer alten Bekanntschaft benutze; und er, wie seine Mutter, bestanden nun darauf, daß ich einige Tage bei ihnen bleiben müsse. Mein Gepäck ward aus dem Wirthshause abgeholt.

Fridolin war noch derselbe kraftvolle, blühende Mann, aber der schwermüthige Zug seiner Mienen war nicht ganz aus seinem Antlitz vertilgt. »Ich zerstreue mich, wie ich kann,« sagte er. »und habe Gelegenheit dazu genug; Arbeit vollauf.«

»Und Justine?« fragt' ich.

Er zuckte die Achseln, sagte aber ganz ruhig mit fast gleichgültigem Tone, als wäre von einer fremden Person die Rede: »Gott weiß, wohin sie gekommen sein mag? Sie nahm sich den Tod des schändlichen Vaters nur zu sehr zu Herzen. Nachdem er Wittwen und Waisen und seine besten Freunde um das Ihrige betrogen und eine arme Magd verführt hatte, die sich aus Verzweiflung ins Wasser stürzte, hing er sich zuletzt selber auf, um dem Henker die Mühe zu sparen. Mit Allem, was er hinterließ, konnte nicht die Hälfte seiner Schulden getilgt werden. Haus und Hof wurden verkauft; aber selbst das Haus des Fluches ward vor fünf Vierteljahren durch eine Feuersbrunst vernichtet. Jetzt befindet es sich, neu erbaut, schon in dritter Hand. Alle meine Nachforschungen, alle Anzeigen in öffentlichen Blättern, um die beklagenswürdige Justine zu finden, sind fruchtlos geblieben. Ich habe, freilich aber zu spät, nur dunkle, sehr unzuverlässige Nachricht von einem jungen Frauenzimmer erhalten, das um jene Zeit zum Bodensee gereist sein soll. Dort verlor sich auch diese Spur für mich. Ich hätte dem Mädchen in seiner Verlassenheit wenigstens einigen Beistand geleistet. Als ich aus England hier ankam, waren schon ein paar Monate seit ihrer Entfernung verflossen; und der Tod meines Vaters, die Betrübniß meiner guten Mutter, die Notwendigkeit, in den verwirrten Vermögensverhältnissen unsers Hauses Ordnung herzustellen, hinderten mich, die ersten Nachforschungen persönlich zu unternehmen. Vielleicht wär' ich glücklicher gewesen.«

»Unverhofft kommt oft!« sagt' ich: »Vielleicht hilft ein glücklicher Zufall das arme, verlassene Kind entdecken, dessen Aufenthalt, trotz all' Eurer Mühe, bisher unbekannt blieb. Indessen, lieber Doktor, freut mich's wenigstens, daß ich Euch gesund und beruhigter finde, als bei unserm ersten Zusammentreffen. Ihr müsset nun doch selber gestehen, die Zeit ist die beste Frau Doktorin. Auch Eure Mutter scheint jetzt getröstet und sogar heiterer zu sein, als Ihr selber.«

»Gottlob!« rief Fridolin: »Doch bei meiner Ankunft fand ich sie sterbenskrank im Bett. Ich hatte alle Ursache zu fürchten, auch sie zu verlieren. Der plötzliche Tod meines Vaters –, man fand ihn, vom Schlag gerührt, eines Morgens leblos – er war ein Mann erst in den Fünfzigern –, und die Entdeckung, daß er durch eigene Schuld so frühzeitig dahingerafft wurde, hatte meine Mutter an den Rand des Grabes gebracht.«

Ich sah den Doktor etwas verwundert an und sagte: »Ein Schlagfluß, den er sich selbst zugezogen? Darf ich fragen, wie das zu verstehen ist?«

Fridolin antwortete: »Er machte leider die heutige Modesünde mit. Erinnert Ihr Euch noch an unser Gespräch im Reisewagen?«

»Ich hab's noch nicht vergessen,« entgegnete ich: »denn ich bin seither ein sehr mäßiger Wein-, aber ein starker Wassertrinker geworden, und die Schnäppse sind ganz verabschiedet. Dafür bin ich nun gesund, wie ein Fisch, Dank Euch, und werde es hoffentlich bleiben.«

»Wollte Gott, mein guter Vater hätte gethan wie Ihr; er würde noch heut' am Leben sein können!« sagte Fridolin mit traurigem Ernst. Und nun erzählte er mir den Hergang der Dinge.


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