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19.

Zum zweiten Male war seit Zillas Tode der Lenz ins Land gekommen. Auf Zillas Hügel in der Heimat sproßten blaue Veilchen. – Tannenrode war nach dem Sturme, den die vielerlei Geschehnisse, die nicht verborgen bleiben konnten, heraufbeschworen hatten, wieder in seinen Zauberschlaf versunken, da der Hof noch nicht wieder seine Sommerresidenz nach Tannenrode verlegt hatte.

Der Hofrat von Wolfhardt, der immer ein sehr stilles Leben geführt, hatte sich gänzlich von Welt und Menschen zurückgezogen. Er lebte mit der Frau, die ihn einst verlassen und ihm damit das Glück seiner besten Jahre genommen und die reumütig zurückgekehrt war, ein stilles, friedvolles Leben. Zillas letztes Lächeln sonnte wie Frieden darüber hin und Zillas Kind war das ganze Glück des alternden Ehepaares, Zillas Kind, das mit seiner jubelnden Lebensfreude und seinem lachenden Frohsinn das ganze Haus des Hofrates durchsonnte.

Rahel hatte ihren »Doktor« mit Auszeichnung bestanden. Sie wirkte als Assistentin in einer großen Heilanstalt in der Nähe von Tannenrode und kam zuweilen in das stille Städtchen. Und dann hieß es, »die rote Rahel ist wieder da.«

Jedesmal kroch dann etwas wie Eiseskälte über den Rücken der Majorin Buttler und sie dachte heimlich: »wenn nur Wolf es nicht merkt.«

Wolf von Buttler war jetzt Rittmeister. Er stand noch immer in Tannenrode, und viele behaupteten, er würde sich jetzt versetzen lassen.

Die Majorin hatte ganz weißes Haar bekommen, war aber sonst noch sehr rüstig und ihre Energie war ungeschwächt.

Sie hatte die, wie sie meinte, auch nötig, um ein wenig Gleichgewicht gegen die Schwiegermutter ihres Sohnes Hans, der Geheimrätin von Heimburger, zu halten, die am liebsten nicht nur das Haus des jungen Ehepaares, sondern auch das Buttlersche in Tannenrode kommandiert hätte.

Nachdem aber die Geheimrätin mal in Tannenrode gewesen, jeden Winkel revidiert und jeden Tannenroder durch ihr langstieliges Augenglas indiskret gemustert hatte und allerlei Weisungen für Reformen gegeben, worauf Tante Malchen erklärte, »das könnte die Frau Geheimrat in Leipzig machen wie sie wollte, hier in Tannenrode aber ging es nach ihrem Willen und nach Tannenroder Art«, war Frau Heimburger nicht wiedergekommen.

Aber Hans und Maja waren eines Tages bald nach der Rückkehr von ihrer Hochzeitsreise strahlend nach Tannenrode gekommen und Maja war so lieb und zärtlich mit der Majorin Buttler gewesen, daß diese ihre Scheu vor der reichen Schwiegertochter, die sie anfänglich, wenn sie an Majas Ansprüche dachte, mächtig gepackt hatte, immer mehr und mehr schwinden fühlte.

Und als Maja sich dann augenscheinlich so wohl in der großen altmodischen Wohnstube fühlte und eine Unmenge der Waffeln verzehrte, welche die Majorin im Schweiße ihres Angesichts eigenhändig gebacken, da hatte sie das gute Herz der kleinen Frau im Fluge gewonnen.

Von Maja erfuhr sie dann auch, daß Maguhild es nach vielen Kämpfen durchsetzte, Wigbert von Pflug zu heiraten, der sich in Leipzig jetzt als Privatdozent niederlassen wollte. Die Mama hat ihre Einwilligung nur geben wollen, wenn Wigbert eine einflußreiche Stelle am Hofe von Büsingen, die man ihm angeboten hatte, annehmen wollte. Wigbert aber hatte das rundweg abgeschlagen. Er wäre lange genug Prügeljunge für Dolf Dietram gewesen und die letzten Jahre hätten die Freundschaft, die ihn mit dem Prinzen verband, arg erschüttert, da wollte er lieber als freier Mann ein freies Leben führen.

»Bei der Schwiegermutter!« hatte Hans dazu gelacht, als er aber Majas vorwurfsvolle Augen auf sich gerichtet sah, hatte er gutmütig eingelenkt.

»Na, ich kann ja über meine Schwiegermutter nicht klagen. Wenn sie bei uns kommandieren will, dann sage ich sofort: »Höre, liebe Mama, deine Portieren sind ganz unmodern, die müssen runter. Licht und Luft ist jetzt die Losung« oder »Dein letztes Mittagessen war miserabel, die Zusammenstellung spottete jeder Beschreibung« oder »Deine neue Jungfer hat einen schlechten Geschmack, du bist nicht modern frisiert usw.« Wenn ich das sage, wird Mama ganz kleinlaut und lacht und der Friede ist hergestellt. Im übrigen hat Mama so viel zu tun mit allen möglichen Wohltätigkeitsveranstaltungen, daß sie gar nicht zu Atem kommt. Da ist zuerst der Verein Kinderschuh, auf den sie ganz rasend ist und dann der Bazar vom Albertverein, und Theateraufführungen mit Ballett, und sonstwas. Sie hat absolut keine Zeit, die gute Mama, und das ist unser Glück.«

Und das junge Paar lächelte sich selig zu und die Majorin dachte:

»Was der infame Bengel doch für ein Glück hat!«

Der Major aber tat schön mit seinem Schwiegertöchterchen das jetzt ein allerliebstes Plappermäulchen zeigte und gar nicht mehr so stumm und steif als Pagode dasaß wie einst in Leipzig. Die Majorin hätte alle Ursache gehabt, recht glücklich zu sein, wenn sie sich nicht fortgesetzt um Aniane gesorgt hätte. Damals, als man die kleine Zilla gerade eingesargt hatte, war die Majorin telegraphisch von der roten Rahel an Anianens Krankenlager gerufen worden. Ein heftiges Nervenfieber hatte sie gepackt und wochenlang hielt der Todesengel an ihrem Bette Wache.

Rahel von Wolfhardt hatte Aniane, die durchaus nicht in der Residenz, aus der man sie so schnöde verwiesen, bleiben wollte, im Verein mit der Majorin nach Tannenrode gebracht.

Dis Majorin mußte ja zugeben, daß Rahel sich dabei ganz tadellos benommen hatte. Nichts von Flirt mit Wolf, der doch so »futsch« von ihr war, sondern ernst und vernünftig. Nein, man konnte ihr nichts nachsagen, aber gefährlich war das schöne Geschöpf für jeden Mann und für ihren Wolf ganz besonders.

Na, und dann der Skandal! Zillas Ende und heimliche Ehe, von der man nicht wußte, ob es eine war, und das unglückliche Kind und die Versöhnung der alten Wolfhardts.

Ganz Tannenrode hatte auf dem Kopfe gestanden und als nun noch gar die Nachricht von Haus zu Haus flog, Aniane hätte auch ein Liebesverhältnis mit dem Prinzen gehabt, nur die Dazwischenkunft Rammelburgs hätte eine gemeinsame Flucht vereitelt, da glaubte Tante Malchen vor Scham in die Erde sinken zu müssen. Oft, wenn dann Aniane in wilden Fieberphantasien dalag und sich anklagte und nach Dolf Dietram schrie, der Zilla erretten sollte, dachte Tante Malchen:

»Ich wollte, sie wäre tot.«

Aber sie schämte sich doch ihrer Gedanken. Helfen wollte sie dem armen Dinge, das da draußen in der bunten Welt so kläglich Schiffbruch gelitten. Was gingen sie schließlich die Tannenroder und ihre Klatschmäuler an? Schlimmer als früher die kleine Aniane, konnte man doch jetzt in Tannenrode die große auch nicht behandeln, und schutzlos, das schwor Tante Malchen, sollte Aniane auch nicht wieder sein.

Die Majorin aber hatte gar keine Gelegenheit, für Aniane einzutreten, denn als die junge Sängerin langsam nach Monden genas, da war sie scheu und einsiedlerisch und wollte niemand sehen.

Nur zuweilen in der Dämmerung, da ging sie nach dem stillen kleinen Hause des Hofrates und spielte mit der kleinen Jane.

Ab und zu ging sie auch mit Wolf spazieren, ganz weit über die Berge, und sie kam dann immer mit einem stillfriedlichen Gesicht heim. Das war fast immer, wenn Rahel mal in der Stadt war. Zu Aniane kam Rahel, die immer sehr eilig war, nicht.

So flossen die Tage in ewigem Einerlei dahin. Die Majorin, die früher so gegen den »Singsang« war, hätte jetzt Welten darum gegeben, wenn Aniane auch nur einmal gesungen oder den Wunsch geäußert hätte, wieder hinaus zu treten in das Leben.

Verschiedene Engagementsanträge, die ihr angeboten wurden, hatte sie abgelehnt. Ihre Gesundheit hatte sich langsam wieder gekräftigt, als aber plötzlich die Nachricht Tannenrode durcheilte, Prinz Dolf Dietram sei ein Sohn geboren und Witta von Monbert hätte sich mit dem alten Kammerherrn von Wuthenow vermählt, eine Notwendigkeit für sie, um alle Gerüchte über ein Verhältnis, das jahrelang mit dem Prinzen bestanden haben sollte, abzuschwächen, hatten diese Gerüchte Aniane, die nicht an ihrer Wahrheit zweifelte, wieder aufs Krankenlager geworfen.

Sie schauderte, wenn sie an den Abgrund dachte, in den sie beinahe rettungslos versunken wäre – –.

* * *

Und nun war wieder der Frühling da und Aniane saß in ihrer Giebelstube wie einst und blickte die öde graue Gasse von Tannenrode entlang. Wieder war sie eine Ausgestoßene wie damals, als sie, ein schuldloses Kind, verzweifelt nach Liebe, nach Freundschaft, nach Güte verlangte.

Heute wollte sie nichts mehr vom Leben. Grau in grau lag es vor ihr. Verhaßt war ihr die Kunst, von der sie einst so Großes, Herrliches erhofft. Ueberall sah sie als Mittel zum Zweck mißbraucht, was ihr so groß, so heilig erschienen war.

Das Bewußtsein, verachten zu müssen, was sie einst so heiß geliebt, mit jeder Wurzel aus dem Herzen reißen zu müssen, die Erinnerung an den kurzen Glückstraum, der nur ein Wahn gewesen, das zerbrach ihre Flügel.

Sie wußte jetzt, daß der Onkel damals recht gehabt, als er sie warnte vor den grauen Gassen des Lebens, da draußen in den schimmernden Fernen, die so goldig lockten und dann doch den Weg in die Irre führten, ihren trügerischen Verheißungen nach, damals, als es sie hinausdrängte aus der Enge von Tannenrode.

Und nun war alles so tot in ihrer Brust und sie war noch so jung und das Leben so lang. –

Der einzige Lichtblick in ihrem Dasein waren ab und zu Roalds Briefe. Er schrieb ihr still und ernst, ein echter Freund, von seinen Erfolgen, von weiten Fahrten durch stille Fjorde, von weißen Bergen und tiefen Wassern. Und Aniane lächelte dazu. Sie wußte zwar, daß er jede Hoffnung aufgegeben, sie zu gewinnen. Aber sie wußte auch, daß er nicht aufgehört hatte, ihr ein Freund zu sein, der einzige, der ihr noch geblieben.

Der einzige! Wie müde sie doch dieser Gedanke machte! –

Früher hatte sie immer geglaubt, daß Rammelsburg ihr treu geblieben, daß er wenigstens, der sie damals in der Stunde ihrer tiefen Erniedrigung und Pein gesehen, ihr mit seiner Freundschaft nahe bleiben würde, aber sie hatte sich getäuscht. Ab und zu kam zu christlichen Festen ein kurzer Glückwunsch und zum letzten Weihnachtsfeste ein Veilchengruß.

Wie damals in Leipzig, hatte Aniane tief ihre Lippen in den duftigen Strauß gedrückt, als müßte sie den süßen berauschenden Duft festhalten. Aber wie bald war er verflogen, die Veilchen welkten und der graue Alltag war wieder da.

Als Genugtuung empfand sie, daß Rammelsburg gleich nach Zillas Tode aus dem Hofdienste geschieden. Er war mit allerlei Gnadenbeweisen von dem alten Fürsten entlassen und zum Major befördert worden, aber er hatte sich, und hierin lag ein bitterer Beigeschmack für Aniane, nicht in sein altes Regiment zurückversetzen lassen, sondern war in ein anderes Regiment in einer entfernten Stadt eingetreten.

Er fürchtet sich, mir hier in Tannenrode zu begegnen, dachte Aniane. Er ist zu zartfühlend, mich ganz fallen zu lassen und er hat nicht den Mut, den andern zu zeigen, die mich übersehen:

»Seht, ich weiß, daß sie meiner Freundschaft wert ist.«

So vergrübelte Aniane ihre Tage. Oft sagte sie sich zwar, daß das Leben hier nicht so weiter gehen könnte, oft kam es wieder über sie wie eine wilde Sehnsucht nach Glück, nach Liebe, nach Ruhm, aber wenn sie in dem alten Hause da drüben in ein paar graue Kinderaugen blickte, die so strahlend zu ihr aufsahen, dann wußte sie, daß sie fein stille sein mußte, daß derjenige, der dem armen Kinde Vater und Mutter nahm, auch auf ewig ihr Glück genommen. – – –

Der alte Hofrat hatte jede Entschädigung, die der Hof ihm zu zahlen anbot, abgelehnt. Sein totes Kind konnte kein Geld der Welt wieder lebendig machen und Jane sollte keinen Pfennig von ihrem Vater annehmen, der so schändlich ihre Mutter betrogen und sie verleugnet hatte. Janes Großmutter, Wolfhardts Frau, hatte durch ihre zweite Ehe über ausreichenden Besitz zu verfügen, und da Rahel auf das Erbe verzichtet hatte, sollte es der kleinen Jane zugute kommen.

Aniane liebte das kleine zutrauliche Wesen und doch hielt sie oft eine seltsame Scheu dem Kinde fern. Jetzt aber, als wieder der Frühling kam, da hatte sie es gelernt, der kleinen Jane ruhig in die klaren Augen zu sehen. Der Zauber war lange gebrochen, den ein Paar gleiche Augen einst auf sie geübt.

* * *

Aniane saß auch heute an einem lenzfrohen Tage wieder in ihrer Giebelstube und sann wie so oft. Die Mauern von Tannenrode erdrückten sie fast, aber noch hatte sie nicht den Mut, wieder hinauszuziehen in die Welt. Die Tante hatte an Unterrichtsstunden für sie gedacht. An Gesangs- und Klavierlehrerinnen war Mangel in der Stadt, aber wer würde wohl seine Kinder ihr anvertrauen, die man doch von Jugend an gesellschaftlich in Acht und Bann getan?

Nein, das war ja ganz aussichtslos. Vor dem Theater graute ihr. Wenn sie daran dachte, daß sie bei einem neuen Engagement sich wieder durch die ganze Skala von Direktor, Kapellmeister, Regisseur und bis zu Kollegen, die ihr mit Liebenswürdigkeiten nahten, durchkämpfen sollte, so erschien ihr die ganze Theaterlaufbahn unmöglich.

Vielleicht aber, daß sie doch hier und dort wieder in einem Konzerte singen könnte? –

Aniane legte ihre schlanken Hände ineinander. Ein leises Hoffen trat in ihre Augen. Sie konnte doch auch nicht fortgesetzt Onkel und Tante, die schon so viele Opfer für sie gebracht, zur Last liegen. Darum schon mußte sie sich aufraffen, darum schon mußte sie es versuchen, die Flügel zu regen. Und es war ihr plötzlich, als könnte sie es. War es der Frühling, der so jauchzend ins Land gekommen, der ihr den Mut gebracht?

»Ane, Ane,« rief Tante Malchen von der Treppe her, »komme doch schnell mal herunter.«

Aniane ging eiligst die Treppen hinab. Unten stand Tante Malchen mit fliegenden Haubenbändern und rotem Gesicht und war ganz atemlos vor Erregung.

»Was hast du denn, Tantchen,« fragte Aniane, »du bist so aufgeregt.«

»Das soll ich wohl nicht! Ich sitze hier nichtsahnend auf meinem Throne, blicke auf die Gasse und weißt du, wen er am Arme führt, am hellen lichten Tage in Tannenrode?«

»Rahel von Wolfhardt, Tantchen, ich weiß es längst,« lächelte Aniane.

»Aber das ist ja empörend,« jammerte die Tante. »Das gräßliche rothaarige Frauenzimmer und dann die Familie«. – Sie verstummte – nein, dagegen konnte sie nichts sagen, denn wie leicht hätte es Aniane ebenso wie Zilla ergehen können und überhaupt –.

Aniane erriet ihre Gedanken – ein schmerzliches Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Barmherzigkeit, sie werden doch nicht etwa hierher kommen?« schrie die Tante und warf einen ganzen Berg gestopfter Strümpfe schleunigst in den Papierkorb.

»Natürlich, Tantchen, sie wollen gewiß deinen Segen.«

»Mein Gott, mein Gott,« stöhnte die Tante.

»Du tust, als ob dir ein großes Leid geschieht, Tante Malchen, und doch hast du noch kein wirkliches erfahren.«

Die Majorin blickte unsicher auf Aniane. Es war etwas in der Stimme ihrer Nichte, das sie erschütterte. Aber ihre Augen fuhren gleich darauf unruhig nach der Tür, die jetzt geöffnet wurde.

»Mama,« rief Wolf, sein männlich hübsches Gesicht glückstrahlend auf die Mutter gerichtet, »da bringe ich dir meine schwer errungene Braut. Sei gütig zu ihr, denn sie hat viel Weh im Leben erfahren und viel Liebe nur kann sie vergessen machen.«

Die Majorin sah ganz fassungslos auf das Brautpaar.

»Ich denke, Sie doktorn in der Welt herum,« sagte sie schroff, »da kann man doch nicht heiraten? Mein Gott, wenn ich denke, daß Sie den Menschen die Arme und Beine abschneiden.«

Rahel lächelte Wolf zärtlich zu, dann sagte sie leise:

»So schlimm ist es nun gerade nicht mit mir. Wolf zu Liebe aber werde ich, wenn er es wünscht, meinen ganzen Medizinkram an den Nagel hängen und lernen Strümpfe stopfen, was ich bisher leider noch nicht konnte.«

Die Majorin sah scheu nach dem Papierkorbe, aus dem die Strümpfe verräterisch hervorguckten. Diese Braut konnte ihr gestohlen bleiben, die wollte sich wohl noch über sie lustig machen.

»Was können Sie denn sonst noch?« examinierte sie, während Wolf heimlich zu Aniane herüberlachte. Er kannte doch sein Mütterchen.

»Nicht viel, gnädige Frau, nicht mal kochen. Wenn Sie mich aber das halbe Jahr, das ich noch hier sein werde – Wolf ist versetzt und wir werden weit von hier wohnen – in die Lehre nehmen wollen, so will ich wenigstens versuchen, meine Kenntnisse zu vervollkommnen.«

Der Majorin Buttler war nur das eine zum Bewußtsein gekommen, daß Wolf fortgehen würde. Ihre ganze Mutterliebe und Zärtlichkeit brach durch. Sie hob sich aus den Fußspitzen und schlang ihre dicken kurzen Arme aufschluchzend um die hohe Gestalt des Sohnes, dabei schluchzte sie:

»So ist es also doch gekommen. Ach, du lieber Gott, nun geht auch mein letztes Kind dahin.«

»Und eine Tochter wird dein, Mama,« flüsterte Wolf leise und strich der Mutter zärtlich über das tränenüberströmte Antlitz. »Du hast dir doch immer eine Tochter gewünscht. Sei doch gut zu ihr, siehst du nicht, wie Rahel leidet?«

Und der Majorin Augen bohrten sich fest in Rahels ganz erblaßtes Antlitz, und Rahels Augen hoben sich scheu wie in Tränen bittend zu ihr aus.

Und da las die Majorin etwas in dem schönen Mädchengesicht, was sie nie darin gesucht, eine große, heilige, ernste Liebe zu Wolf, der Jahre, viele Jahre treu um sie gedient. Und dieses ernste Mädchengesicht erschütterte die alte Frau seltsam und rührte ihr Herz. Sie streckte Rahel beide Hände entgegen und Rahel, die sich früher oft über die gute, altmodische Majorin mokiert hatte, die küßte aus innigem Herzen heraus dankbar die runzelvollen Hände.

»Ach Gott, wenn doch mein Alter erst käme,« rief dann die Majorin ganz glücklich zwischen Lachen und Weinen und gab dem Papierkorb einen kleinen Stoß, so daß alle Strümpfe auf die Erde kollerten, die Wolf und Rahel eifrig auflasen.

»Aber wo ist denn Aniane geblieben? Aniane, Aniane, wir haben ein Brautpaar im Hause!«

* * *

Aber Aniane war still hinausgegangen. Für sie war kein Platz bei den Glücklichen. Sie hatte ja diese Liebe keimen und wachsen sehen, und oft war sie mit Wolf und Rahel gemeinsam über die Berge gewandert, um es den Liebenden zu ermöglichen, sich zu sehen, ehe Wolf es wagen konnte, um Rahel anzuhalten.

Nun war auch diese, Anianens letzte Mission erfüllt. Sie konnte nun wieder hinaus in die Fremde gehen.

Eine kleine Bitterkeit erfüllte ihre Seele, als sie hastig ihren Hut aufsetzte und hinaus auf die Gasse trat.

Die Hauptstraße vermeidend, schritt sie fast flüchtend durch die Anlagen von Tannenrode, dem Waldwege zu, der auf halber Höhe nach Kloster Lehna führte.

Wie oft war sie als Kind diesen Weg hinausgegangen, schon damals im Herzen einsam. Sie erinnerte sich, wie in trüben Wintertagen sie einsam abseits gestanden, wenn fröhliches Schellengeläute der Schlitten an ihr vorübergeklungen war.

Und nun war der Frühling da und wie Brautschleier wehte das lichtgrüne Gezweig der Birken hernieder und die Ferne schwamm in zartem blauen Duft.

Aniane atmete mit wohligem Behagen die würzige Frühlingsluft. Ueberall sproßte es wonnig hervor, das frische Grün, und Veilchen und Aurikeln blühten an den Hängen in Menge. Aniane schritt tüchtig aus. Wie ein frohes Hoffen kam es über ihre Seele. Drüben der Fluß rauschte im Frühlingswinde lustig dahin und am Wehr brachen sich schäumend seine Wellen. Das alte Klostergut grüßte herüber. Aniane mußte an die kleine Behringer denken, die mit ihr die Tanzstunde besucht, die nun lange verheiratet war und drei pausbäckige Jungen hatte.

Burg Tannenrode hatte Aniane kaum gestreift. Das Schloß lag still mit herabgelassenen Vorhängen auf seiner felsigen Höhe und selten verirrte sich wohl eines Menschen Fuß an seine Pforte.

Nun hatte Aniane die Klosterschenke erreicht.

Einen Augenblick zögerte ihr Fuß. – Sie fühlte sich noch heute fremd und wagte ohne eigenes Zutrauen nicht einzutreten, wie andere Menschen wohl nicht gezögert haben würden.

Aniane ging um das Haus herum und betrat endlich den alten Klostergarten.

Wie still es hier war. Aniane liebte die tiefe Einsamkeit. Großblätteriger Efeu und wilder Wein rankten sich hoch hinauf an dem alten Giebel der Ruine und tief im Moose auf dem steinigen Boden war wie ein blauer Teppich alles mit Veilchen übersät. Bald würde auch der Flieder blühen und duften; schon waren alle Knospen geschwellt und die wilden Kirschen zeigten schon ihre weißen Sterne.

O, du holdseliger Lenz, du süßer, verwirrender Frühlingstag. Woher kam nur aus einmal all dieses märchenhafte Glücksempfinden über sie?

* * *

Den einsamen Weg von der Ruine kam ein Mann langsam daher. Trotzdem er keine Uniform trug, hätte ihn Aniane doch unter Tausenden erkannt. Einen Augenblick jauchzte ihr Herz auf, dann aber erfüllte es zitterndes, todestrauriges Bangen.

Sollte sie nicht ihm auszuweichen versuchen? Würde er nicht an ihr wie an einer Unbekannten vorüberschreiten?

Doch da hatte er sie plötzlich erkannt.

»Aniane!« rief der Ankommende froh erstaunt. »Aniane, hier, wo ich in der Klosterschenke zum ersten Male Sie so recht kennen lernte, muß ich Sie wiederfinden?«

Eine dunkle Last legte sich auf Anianens Seele. Was wollte Rammelsburg hier? Er war in Tannenrode und er hatte sie nicht einmal ausgesucht?

Eine dumpfe Trauer kam über sie. All der holde Zauber des herrlichen Frühlingstages erlosch.

»Sie sehen mich so erschreckt an, Fräulein von Rainer,« nahm Rammelsburg nun das Wort, »daß mir ganz bange wird. Ist es Ihnen so unangenehm, mir zu begegnen?«

Aniane hatte den blonden Kopf tief gesenkt. Der Frühlingswind spielte mit den kleinen, krausen Löckchen, die ihr keck auf die heißen Wangen fielen. Rammelsburg sah es mit Entzücken.

»Aniane,« bat er weich, »schenken Sie mir Gewißheit. Sie glauben ja gar nicht, was ich gelitten, als ich Sie leiden sah. Und dabei immer die tödliche Angst um Sie und immer die tausend Fesseln, die meine Stellung mir auferlegte! – Niemals frei und immer das schreckliche Mißtrauen gegen denjenigen, der Sie mir entreißen wollte, und den nicht zu verraten mir die Pflicht gebot! – Und zuletzt, Aniane, als ich kommen mußte, Sie wissen, das letzte Mal, da haben Sie mir gewiß geflucht, daß ich es war, der Ihren Glückstraum so grausam zerstörte.«

»Nein, Herr Major,« sagte Aniane, stehen bleibend und strahlend zu ihm aufsehend, »ich habe Sie gesegnet, denn Sie hatten mich noch in letzter Stunde vor dem Schicksal der armen Zilla bewahrt, wenn ich nicht selbst schon den Unwert dessen erkannt hätte, der meine glücksdurstige Seele in Fesseln hielt. Nun aber nichts mehr davon. Ich danke Ihnen, daß ich Ihnen dies Geständnis machen darf.«

»O, Sie müssen mir noch viel mehr sagen, Aniane,« bemerkte Rammelsburg, seine dunklen Augen tief in die ihren senkend. »Sie müssen mir sagen, ob es wahr ist, daß ich geträumt, eine schöne, blonde, stolze Frau, die ich geliebt, als sie noch ein kleines unschönes Mädchen war, die neigte sich huldvoll zu mir und sei bereit, wie heute, im Frühlingsglanz mit mir durch das arme Erdenleben zu wandern, immer und ewig, bis in den tiefsten Winter hinein. Ist es währ, Aniane, oder soll alles nur ein Traum gewesen sein?«

Und er beugte sein braunes Gesicht tief hernieder auf ihr zartes Antlitz und zog ihre bebenden Hände gegen seine Brust. Wie weich und einschmeichelnd seine Stimme klang. Aniane hätte Welten darum gegeben, wenn er hart und kalt zu ihr gewesen, damit sie sich hätte wehren können.

»Ich bin so froh,« sagte Rammelsburg, ohne Umstände ihren Arm durch den seinen ziehend, »daß der Zufall Sie mir in den Weg führt. Ich bin erst heute mittag angekommen in Tannenrode. Zuerst hatte ich daran gedacht, gleich zu Ihnen zu eilen, aber es drängte mich doch zuerst hier hinaus. Ich wollte hier mich sammeln oder, besser gesagt, mir Mut holen für die Frage, die ich an Sie richten muß, Aniane, dir mir lange auf der Seele brennt.«

Einen Augenblick lang stockte ihr Herzschlag, als sie seine Augen so freundlich prüfend auf sich ruhen fühlte, als sie in seiner ruhigen ernsten Stimme so viel zum Herzen dringende herzliche Liebe verspürte. –

»Aniane, willst du mit mir hinaus gehen in die fremde, kleine Stadt, die uns nichts bietet als eine Welt voll Liebe? Willst du, Geliebte?«

Und sie schloß erschauernd die Augen und duldete seine Küsse, aber nicht in fiebernder Leidenschaft, sondern in stillem, köstlichen Genießen, in dem tiefen Bewußtsein, geborgen zu sein an seiner treuen Brust.

Von seinem Arm umschlungen schritt Aniane durch den blühenden, alten Klostergarten. Ueberall standen Bäume und Büsche wie im Feierkleide.

Jauchzend trug der Frühlingswind die ersten Frühlingsblüten durch die Luft, und als Aniane und Rammelsburg Arm in Arm heimkehrten, zurück in das Städtchen, da sah Aniane zum ersten Male die alte, graue Gasse von Tannenrode im vollen Sonnenlichte liegen.

Und zum ersten Male leuchtete ihr durch die lange, graue Gasse ihres Lebens in Rammelsburgs Liebe ein goldenes Licht, das nicht wie ein Irrlicht blendete, sondern mit warmem Schein alles Dunkle aufhellte, damit ihr Fuß sicher und leichtbeschürzt ausschreiten konnte, dem neuen Leben entgegen.

Sie wollte sie hüten, diese heilige Flamme, und nichts sein als ein demütiges, dankbares Weib, dann führte ihr Leben, wie es sich auch gestaltete, doch immer durch Frühlingsgärten wie heute: durch goldene Gassen.

»Was sinnst du, mein Lieb?« fragte Rammelsburg zärtlich.

»Ich denke an den Frühling,« sagte sie, sich innig an ihn schmiegend, »und daß niemand das Glück so dankbar und aus tiefstem Herzen zu würdigen vermag, der es nicht durch graue Gassen endlich erreicht hat.«

 

Ende des ersten Teiles.


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