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4.

Drei Jahre! Eine kurze Spanne Zeit für den Glücklichen, aber lang, endlos lang für den Einsamen und Freudlosen. – In die alte Musikstadt Leipzig hatte Aniane ihr Weg geführt. Nach langen, aufreibenden Kämpfen mit ihrer Familie, den Onkel halb und halb auf ihrer Seite, war es ihr endlich gelungen, sich frei zu machen, um in Leipzig Musik zu studieren.

Professor Senkbley war mit der Gerechtigkeit seines fachmännischen Urteils für Anianens stimmliche Begabung eingetreten und hatte sie warm an seinen alten Freund und Studiengenossen, Professor Bebling, der zurzeit Lehrer am Leipziger Konservatorium war, empfohlen. – Der kleine Professor mit dem ausdrucksvollen Charakterkopfe und den lebhaften hellen, blauen Augen hatte Aniane ungemein kritisch gemustert, als sie zum ersten Male vor ihm stand und dann hatte er mit einem vielsagenden Blick ihre ganze Gestalt überflogen und nur das eine Wort gesagt: »Theater?«

Aniane hatte den Blick wohl verstanden. Er galt ihrer unvorteilhaften Erscheinung, die wohl weder für das Theater, noch für den Konzertsaal taugte.

Ohne Empfindlichkeit hatte sie den Kopf emporgehoben, heiße Röte auf den Wangen, ein großes, heiliges Leuchten in den Augen, hatte sie leise, aber bestimmt geantwortet:

»Ganz wie es die Entwicklung meiner Stimme und meiner Persönlichkeit zuläßt, Herr Professor.«

Da hatte sie der alte Lehrer, der schon so viele sangesfreudige Schülerinnen, die voll jugendlicher Begeisterung zu ihm kamen und so still wieder gingen, aufmerksam angeblickt und dann hatte er polternd gesagt:

»Vernünftig, sehr vernünftig. Na, und nun singen Sie mal.« Und sie hatte gesungen. Das Gebet aus dem Freischütz und ein paar Lieder von Grieg. Professor Bebling hatte ganz still dagesessen, den Kopf ein klein wenig eingezogen.

Aniane hatte das Herz geklopft zum Zerspringen. Der Meister schwieg noch immer. War er zufrieden mit ihr? Reichte ihre Stimme nicht aus? Sollten alle Hoffnungen vernichtet sein? Ganz blaß wurde ihr schmales Gesichtchen und der blonde Kopf sank ihr wie müde auf die Brust.

»Sie können morgen anfangen,« sagte der Professor. »Herrliches Material, aber viel, viel lernen, Kleine. Wie alt sind Sie denn?«

»Siebzehn Jahre, Herr Professor.«

»Du lieber Gott. Na, wir wollen's mal versuchen. Wer eine Stimme hat wie Sie und es ernst nimmt mit der Kunst, der kann es noch zu was bringen. Aber leicht ist der Weg nicht, Kindchen, den Sie gehen wollen, haben Sie sich das wohl überlegt?«

Aniane hob frei und stolz den Kopf. »Ich habe Mut, Herr Professor und ich will arbeiten.«

»Na, dann in Gottes Namen.« Und als Aniane gegangen war, da sagte er zu sich: »Fast könnte einem bange werden um das zarte junge Ding. Freilich, eine Stimme hat sie, eine Stimme –!«

Und wieder versank der alte Meister in tiefes Nachdenken. Um ihn wogte und rauschte ein Meer von Tönen und siegreich schwebte darüber Anianens weicher, klarer, wie von tiefer Glut gesättigter Sopran. – –

Und nun war Aniane schon drei Jahre hindurch Meister Beblings Schülerin. Ihre Ausbildung war fast vollendet. Der Direktor des Leipziger Stadttheaters, Max Stegemann, hatte sie in der letzten Probe des Konservatoriums als Agathe gehört und hatte, begeistert von der herrlichen Stimme und der jugendfrischen Erscheinung, ihr sofort ein dreijähriges Engagement am Stadttheater geboten.

Aniane hatte es dankend abgelehnt. Sie fühlte sich noch nicht sicher genug für die Bühne, und dann hielt sie die Rücksicht auf ihre Familie auch zurück, schon jetzt den letzten, entscheidenden Zug zu tun, der sie ganz von ihren Angehörigen loslöste. Sie wollte erst ihre Großjährigkeit, zu der nur noch Wochen fehlten, abwarten und noch weiter an ihrer Ausbildung arbeiten. Auch ihr alter Lehrer hatte ihr diesen Rat gegeben. Ihr erstes öffentliches Auftreten sollte in einem Konzert des Lisztvereins in der Alberthalle stattfinden.

Siegesfreudig hatte Aniane diesem Tage entgegengesehen. Als er nun aber endlich anbrach, grau in grau, regenschwer und trübselig, da war doch eine tiefe Verzagtheit über sie gekommen.

Sie stand an dem breiten Fenster ihrer niedrigen Mansardenstube, die sie in der Universitätsstraße in der Pension von Frau Dr. Sperling inne hatte, und blickte auf die rußgeschwärzten hohen Häuser und auf die regennasse Straße; ganz wie daheim in Tannenrode, überall nur graue Gassen.

Aniane fröstelte; dann trat sie an den Spiegel. Das war nicht mehr das eckige, langaufgeschossene Mädchen, das damals in der Tanzstunde mit der unförmlichen Schärpe und dem verwaschenen Kleidchen einen so dürftigen, schüchternen und unsicheren Eindruck machte, das war eine ganz zielbewußte Persönlichkeit, die ihr da aus dem Spiegel entgegenblickte. Die Gestalt hob sich in weichen geschmeidigen Linien schlanker empor und das kleidsame Hausgewand, wenn auch von höchster Einfachheit, zeigte vornehmen Geschmack und unauffällige Eleganz. Das Blondhaar war nicht mehr wie einst von der hohen Stirn straff zurückgestrichen, sondern umbauschte in lockeren goldflimmernden natürlichen Wellen den feinen Kopf. Ein dicker Kranz blonder Flechten lag über dem lockigen Scheitel. Scharf wölbten sich die dunkelgezeichneten Brauen über den grauen Augen, die so kühl und unnahbar blickten. Um den Mund lag noch das weiche kindliche Lächeln von einst und auch noch immer der leise feine Schmerzenszug, der dem zartrosigen Antlitze etwas ungemein Rührendes gab.

»Madonnenhaft,« dachte ihr Freund und musikalischer Begleiter, Roald Harnsen, ein junger Schwede, oft, sie mit heimlichem Entzücken betrachtend, wenn sie so still und träumend dastand und die graue Straße hinabblickte, wie eben jetzt.

Roald Harnsen saß am Klavier in der großen, luftigen Stube, hoch oben über den Dächern. Von dem breiten Fenster nickten blühende Blumen ins Zimmer und weiße duftige Mullvorhänge blähten sich leise im Winde, der durch das geöffnete Fenster hineinblies.

Aniane stand auf dem sogenannten Throne. Das war ihr Lieblingsplatz mit seinem hohen alten gepolsterten Sessel, da konnte sie stundenlang sitzen und träumen.

»Wollen wir nicht anfangen, Fräulein von Rainer?« fragte der blonde Schwede, seine hünenhafte Gestalt vorsichtig auf dem Klaviersessel dehnend.

Aniane sah ihn ganz verständnislos an. »Nein, nein,« wehrte sie. »Mir ist die Kehle wie zugeschnürt. Ich glaube, ich bringe keinen Ton heraus.«

»Sie haben wirklich erwartet, daß Ihre Angehörigen heute zu Ihrem ersten Konzert auf der Bildfläche erscheinen würden, und Sie haben geglaubt, sich ihnen wieder ins Herz singen zu können. Wie töricht Sie doch sind, Aniane, trotz Ihres scharfen Verstandes.«

»Es ist so bitter, so ganz allein zu stehen, Roald. Heute gerade hätte ich mir jemand herbeigewünscht, den ich liebe, den ich auch mein nennen darf. Werden Sie glauben, daß ich auf meinen Brief, in dem ich Tante und Onkel von meinem ersten Konzert schrieb, und in dem ich so warm, so innig um ein einziges freundliches Geleitwort bat, ohne jede Antwort blieb? Sie haben mich eben zu den Toten geworfen, die Meinen, die einzigen, die mir das Leben gelassen hat.«

»Die einzigen, Aniane? Ist das nicht sündhaft. Sie wissen doch, daß es nur eines Wortes bedarf, um nicht mehr einsam zu sein, um Sie – –«

»Nicht weiter, lieber Freund. Verkümmern Sie mir nicht diesen schönen Tag, der, so hoffe ich, mir Licht bringt, so grau und regenschwer er auch angefangen hat. Ich weiß, was Sie mir sagen wollen, aber ich mag und darf es nicht hören. Ich habe keine Zeit für die Liebe, Roald Harnsen. Nur im Traum, da darf ich mit Ihnen aufwärts steigen, weit, weit dahin, wo Ihre Heimat liegt. Das ist mir ein lieber Gedanke. Durch stille Fjorde, an himmelhohen Felsen vorüber, durch lachende Täler und tiefe Buchten führt unser Flug. Und die schneebedeckten Berge glitzern wie lichtblaues Glas und golden flammt die Sonne darüber hin. Das ist das Land der Wünsche, Roald. Ich sehe es oft, aber in Wirklichkeit werde ich es nicht an Ihrer Hand erreichen. – Haben Sie Professor Krause gesprochen? Was sagte er?«

Der junge Mann am Klavier seufzte tief auf und seine hellen blauen Augen hafteten mit fast schwermütigem Ernst an der schlanken Mädchenerscheinung, die jetzt vom Fenstertritt herunterstieg und langsam auf ihn zuschritt.

»Er war sehr zufrieden,« gab er zurück. »Der Professor meinte, daß Sie ausgezeichnet gesungen hätten. Er verspricht sich einen großen Erfolg von Ihrem ersten Auftreten und glaubt, daß das heutige Lisztkonzert eines der glänzendsten sein wird.«

Aniane atmete freudig erregt auf. Ihre Augen strahlten und die ganze Gestalt straffte sich empor. Langsam klappte sie das von dem Schweden aufgeschlagene Notenheft zusammen.

»Gehen Sie nach Hause, lieber Freund. Ich glaube, wir können uns die heutige Probe schenken. Mir ist plötzlich so froh, so leicht im Sinne, ich fühle es, wenn Sie mir heute abend zur Seite stehen, werde ich sicher sein in der neuen Welt, vor der ich mich doch bange, ach, so heiß bange.«

Sie reichte dem jungen Manne herzlich die Hand. Noch hatten sich ihre Hände nicht gelöst, da wurden Stimmen auf der Treppe laut und in demselben Augenblicke starrte Aniane erschreckt auf die geöffnete Tür, in welcher Onkel und Tante Buttler, wie aus der Erde gezaubert, auftauchten.

Schlaff sanken die jungen Hände, die sich so warm umschlossen hielten, hernieder. »Onkel, Tante,« schluchzte Aniane glückselig auf, den beiden entgegenstürzend, während Roald Harnsen bescheiden zurücktrat.

Der Major lachte über das ganze Gesicht, als er nun die Nichte in die Arme schloß, dabei aber etwas mißtrauisch auf den jungen Pianisten schielte, dessen Anwesenheit bei seiner Nichte ihm mehr als spanisch vorkam.

»Na, das hast du wohl nicht gedacht, olle Deern,« sagte er gemütlich. »Wir beiden wackligen Alten zu einem Konzert nach Leipzig. Die Tannenroder glauben sicher, daß wir verrückt geworden sind.«

Die Tante war pustend und nach Atem ringend auf einen Stuhl gesunken. Die vier Treppen hier herauf hatten sie fast umgebracht.

»Wer ist denn das,« fragte sie, auf Roald Harnsen deutend, als sie endlich zu Atem kam, ohne auch nur ihre Nichte zu begrüßen. »Ist das Sitte in Leipzig, daß junge Mädchen Herrenbesuche empfangen?«

Wie ein heimliches Lachen ging es aus Anianens Augen zu dem jungen Pianisten herüber.

»Ja, Tante, und noch viel mehr. Erlaube, daß ich euch bekannt mache. Mein Freund und lieber Kollege Roald Harnsen, ein junger Schwede, der heute abend meinen Gesang begleiten wird – Major Buttler und seine Gattin, die treuen Behüter meiner Kindheit, Roald, von denen ich Ihnen schon so viel erzählt.«

Der junge Mann verbeugte sich schweigend. Die Tante betrachtete ihn fast argwöhnisch durch ihr Lorgnon, während der Onkel dem Pianisten fast zögernd die Hand reichte.

»So, Kollege,« sagte er langgedehnt, »freut mich, freut mich sehr. Na, vielleicht sehe ich Sie noch ein anderes Mal.«

Das war deutlich. Roald stand schon an der Tür. »Wenn Sie mich gebrauchen, Aniane, ich stehe jederzeit zur Verfügung.« Sie reichte ihm freundlich die Hand. »Auf Wiedersehen heute abend, lieber Freund.«

Eine tiefe Verbeugung zur Tante, eine etwas knappere zum Onkel und der junge Schwede hatte das Zimmer verlassen.

»Hier wohnst du also?« fragte Tante Malchen, sich kritisch umsehend. »Gott bewahre, die vier Treppen haben mich ganz alle gemacht. Na, es ist ja ganz hübsch, aber weißt du, es gefällt mir gar nicht, daß du hier so ungeniert und allein Herrenbesuch empfängst. Ich denke, die Frau Sperling, die mir doch so warm empfohlen ist, bemuttert dich. Wie gesagt, ich finde die ganze Sache unpassend, höchst unpassend.«

»Tantchen, liebes Tantchen,« lachte Aniane, die alte Frau zärtlich umfangend und ihr behutsam den Hut vom Kopfe nehmend. »Wir sind ja hier nicht in Tannenrode.«

»Das weiß Gott! Wie ein Sündenbabel kommt mir die Stadt vor. Ich hatte immer Angst, den Onkel zu verlieren. Auf dem Bahnhofe war ein solches Gedränge und keine Droschke zu kriegen.«

Der Onkel lachte. »Na, Alte, daran warst du doch ganz allein schuld. Du trautest dich doch nicht über den Straßendamm und schließlich waren die Droschken weg.«

»Nun aber erzähl' doch,« bat Aniane. »Ich lasse euch gleich einen Imbiß besorgen. Ach Gott, wie froh bin ich, daß Ihr gekommen seid.«

Sie drückte des Oheims Hand an ihre Lippen und schmiegte sich zärtlich an Tante Malchens Brust.

»Na, na,« begütigte diese. »Bist ja noch die Alte, trotzdem du so vornehm aussiehst, ganz anders als früher. Aber weißt du, mit dem Windhund von Pianisten mußt du mir nicht kommen, das paßt sich nicht für junge Mädchen.«

»Liebe Tante,« lachte Aniane, »das läßt sich nun leider nicht ändern, ich habe eine ganze Reihe von Kollegen, die mich oft zu gemeinsamen Uebungen hier aufsuchen.«

»Und das leidet deine Pensionsmutter? Ei, das ist ja ganz empörend. So etwas wäre in Tannenrode ganz unmöglich.«

»Gott sei Dank, daß wir nicht in Tannenrode sind! Einen Augenblick, ich bin gleich wieder da.«

Onkel und Tante Buttler sahen der Nichte ganz verdutzt nach, die so sicher und seelenruhig zur Türe schritt.

»Nie kann sie wieder nach Tannenrode«, hob die Tante nach einer Weile dumpfen Schweigens zu ihrem Gatten an.

Der wischte sich, trotz der zum Fenster hereindringenden Kühle, den Schweiß von der Stirn.

»Sie ist anders als sonst,« gab er beklommen zurück. »Ich kenne sie gar nicht wieder. Wie eine große Dame, so sicher und dabei so verdammt frei in ihren Manieren. Himmel, den Jüngling da mit der blonden Mähne, den muß sie sich abgewöhnen, der ist ja unglaublich.«

»Das kommt von dem Verkehr mit der Künstlerbande. Glaubst du denn, daß es anständige Menschen darunter gibt? Ich nicht!«

Der Major wiegte bedenklich den grauen Kopf. »Na, das wollen wir doch nicht so schroff hinstellen, Malchen, aber schrecklich finde ich die ganze Wirtschaft auch, das kann ich sagen. Das arme Kind, hätten wir es nur nicht ziehen lassen!«

»Siehst du wohl! Habe ich es dir nicht gesagt. Aber du wolltest ja nicht hören. Doch still, da kommt sie wieder.«

Aniane trat lächelnd ins Zimmer. Sie trug auf einer Platte Brot, Butter, kaltes Fleisch und einige Früchte. »Der Kakao kommt sofort,« sagte sie heiter, »bedient euch bitte. Ach, wie froh und glücklich bin ich, euch bei mir zu haben. Nun aber erzählt; wie geht es in Tannenrode?«

Die Alten ließen sich gemächlich an dem schnell hergerichteten Frühstückstische nieder und als der dampfende Kakao vor ihnen stand, da wurden sie auch etwas gemütlicher.

»Das tut gut nach der langen Fahrt«, sagte der Major.

»Es ist doch schon verflucht kalt und in der Bahn war schlecht geheizt.«

Aniane hielt zärtlich Tante Malchens Hand. »Erzähle, Tantchen.«

»Ja so,« begann die Tante, umständlich Messer und Gabel ruhen lassend, »also in Tannenrode! Na, weißt du, nach der Geschichte mit der Zilla von Wolfhardt ist eigentlich wenig in Tannenrode passiert.«

»Was ist denn eigentlich mit Zilla, Tante? Ich habe deine brieflichen Andeutungen gar nicht verstanden.«

»Nicht? Na, das schadet auch gar nichts. Fort ist sie, spurlos fort, gerade wie einst die Mutter und die rothaarige Rahel. Man munkelt allerlei. Viele sagten, sie hätte ein Verhältnis mit dem Prinzen gehabt. Na, du weißt wohl gar nicht, was ein Verhältnis ist? – Also, so sagte man, aber an den Prinzen glaube ich nicht. Es wird wohl irgend ein anderer gewesen sein, mit dem das dumme Ding durchgegangen ist. Bei Nacht und Nebel fort. Kannst du dir so etwas denken?«

Bei Erwähnung des Prinzen hatte einen Augenblick Anianens Herzschlag gestockt. Eine heiße Röte hatte ihr feines Gesicht überflammt, dann aber hatte sie still gesagt: »Die arme Zilla, Tante. Ich fasse es kaum. Hat man denn nichts weiter von ihr vernommen?«

»Nein, rein gar nichts. Der Vater hat ja alle Hebel in Bewegung gesetzt, Zilla aufzufinden. Viele sagten, sie sei, als sie ihre Schande nicht mehr verbergen konnte, zu ihrer Mutter geflüchtet, aber wo die Mutter eigentlich lebt, das weiß ja kein Mensch. Der alte Hofrat ist ganz weiß geworden. Er schleicht tief gebückt umher und dabei ist er doch noch gar nicht alt.« –

»Und Rahel?« fragte Aniane ganz tonlos.

»Na, das ist auch eine! Kannst du dir denken, daß sie seit ein paar Wochen in Leipzig ist, um hier Medizin zu studieren? Neulich hat sie in Dresden ihr Abiturium gemacht. Ganz Tannenrode stand auf dem Kopf. So was Unweibliches! Man kann es kaum fassen! Ein Mädchen aus gutem Hause und dabei so entartet.«

»Tante!« rief Aniane empört. »Du tust, als wären wir Jahrhunderte zurück. Es ist doch sehr vernünftig, daß Rahel versucht, ihrem Leben einen Inhalt zu geben. In Tannenrode muß sie ja verkommen.«

»Verkommen? Haben wir nicht alle dort ein glückliches und zufriedenes Dasein geführt? Nein, Kind, das verstehst du nicht. Abenteuerlustig ist die Rahel! In Leipzig studieren! Du lieber Gott, dabei wird was Schönes rauskommen! Ich sehe sie schon im Geiste mit den Korpsbrüdern auf der Bank, eine große Zigarre im Munde.«

»Du machst dir ja nette Begriffe von einem Studium in Leipzig, Tante«, lachte Aniane lustig.

»Na, mir macht ihr doch nichts vor,« gab die Tante zurück. »Ich weiß, was die Glocke geschlagen hat, wenn die Frauenzimmer so emanzipiert werden, daß sie durchaus unter die Männer wollen.«

»Malchen, du übertreibst,« warnte der Major.

»Ach du,« zürnte diese. »Du bist auch so einer. Du denkst wohl, ich weiß es nicht, daß du mit dem Wolf unter einer Decke steckst, der die verrückte Idee hat, durchaus ein rothaariges Frauenzimmer zu heiraten! Und dabei will sie ihn gar nicht mal, und überhaupt liegt der Knüppel beim Hund, denn wovon wollen sie leben, wovon, frage ich dich?«

Aniane lachte in sich hinein bei dem Eifer der Tante. »Aber Tantchen, wenn sie sich lieben? Wie geht es überhaupt Vetter Wolf?«

»Lieben, lieben,« eiferte die Tante. »Er liebt ihr schönes Gesicht und ihre weiße Haut und sie lacht über den Bengel. Das ist mir ja ein Trost, ein großer Trost. Jeder hat es doch in Tannenrode gesehen, wie sie hinter dem Rittmeister von Rammelsburg her war. Na, öfter schien es ja so, als wolle er auch, aber schließlich ist ja nichts aus der Geschichte geworden, und seitdem der Rittmeister fort ist, hängt sich das rothaarige Geschöpf an den Wolf, da ihr ja Zillas wegen die meisten Offiziere aus dem Wege gehen. In Gesellschaft geht sie ja überhaupt nicht mehr. Die Tannenroder würden sich das ernstlich verbitten.«

Merkwürdig, bei Erwähnung des Rittmeisters hatte Anianens Herz schwer gezuckt. Was ging der sie an? Sie hatte seiner doch wohl kaum in den letzten drei Jahren gedacht.

»Der Rittmeister ist fort von Tannenrode?« fragte sie atemlos und ihr Herz begann stürmisch zu klopfen.

»Natürlich, damals mit dem Prinzen. Länger als zwei Jahre hat der Prinz bei unsern Husaren nicht ausgehalten, und es war recht gut, daß er fortkam. Er hat es arg getrieben, Dolf Dietram; und der Rittmeister soll schuld daran sein, daß der Prinz fort mußte. Bald nachher verschwand auch die Zilla, und daher kam es wohl, daß man allerlei munkelte. Du lieber Gott, es waren ja die reinen Kinder, die beiden.«

»Und Witta von Monbert?« fragte Aniane weiter und es war ihr, als legte sich eine schwere Last auf ihr Herz.

»Na, die hat sich von dem Prinzen mächtig die Cour schneiden lasten. Eine Weile munkelte man, sie werde sich mit dem jungen Pflug verloben – du weißt doch, der Freund des Prinzen –, aber nichts geschah, und jetzt, aber bitte, Aniane, fall nicht um, jetzt erzählt man sich, Witta wäre Hofdame bei der Fürstin von Büsingen geworden. Hofdame! Weißt du, was das heißt? Die Stelle, auf welche ich so sicher für dich gerechnet hatte, die dir von Rechts wegen gebührte. Ich habe das Versprechen der Fürstin, Aniane, und nun kommt Witta und nimmt dir einfach die Stelle weg. Das kommt von der verdammten Singerei.«

»Nun komm' doch endlich mal zur Ruhe, Alte,« brummte der Major, »und rege das Mädel nicht unnötig auf mit den alten Geschichten. Im übrigen ist es hohe Zeit, daß wir ins Hotel kommen, wenn wir noch Besuche machen wollen.«

»Besuche? Natürlich, zur Geheimrätin Heimburger müssen wir doch. Du bist doch wohl auch für den Abend gebeten, Aniane? Hast du denn was anderes anzuziehen? – Ach so, das Konzertkleid. Es soll ja eine große Gesellschaft sein. Bist du oft bei Heimburgers?«

»Nicht sehr oft, Tante. Meine Studien nehmen mich zu sehr in Anspruch und dann – –

»Dann? Na, ich will nicht hoffen, daß dir meine alte Freundin, der ich dich so warm empfohlen habe, nicht gefällt.«

Der Major gab Aniane ein Zeichen, lieber zu schweigen.

»Das erzähle ich dir alles ein andermal, Tantchen. Jetzt muß ich mich noch ein wenig sammeln, um zum Konzert frisch zu sein.«

»Na, du wirst doch mit uns essen? Ich habe schon im Hotel Sedan alles bestellt,« sagte der Onkel. »Hans kommt natürlich auch. Er fühlt sich hier am Amtsgericht als Referendar sehr wohl. Er klagte mir, daß er dich selten sieht.«

Aniane errötete. »Danke, Onkel, danke wirklich von Herzen. Doch vor dem Konzert bin ich nicht mehr zu haben, aber heute abend bei Heimburgers und morgen stehe ich ganz zur Verfügung.« Sie küßte die beiden Alten lachend und schob sie sanft zur Tür hinaus.

Die standen einen Moment und sahen sich sprachlos an. Dann lachte der Major belustigt auf und schritt die steile schmale Treppe hinab. Tante Malchen aber raffte ihren schwarzseidenen Rock energisch zusammen und rief erbost:

»Na, nun stehen wir draußen und alles, was ich Aniane sagen wollte, habe ich noch nicht gesagt.«

»Na, ich dächte, es genügte gerade,« gab der Major zurück, dann schritten sie vorsichtig abwärts, hinein in das Gewirr der alten dunklen Häuser und Gassen, die für Tante Malchen etwas so Beängstigendes hatten.

* * *

Aniane aber stand am Fenster, ganz blaß, mit stockendem Herzschlag. Da kamen sie alle wieder herbei, die Gespenster der Vergangenheit und wollten ihren düstern Schattentanz um Aniane aufführen.

Sie sah die Tante, obwohl so sicher am Arme des Onkels, ängstlich das Straßengewirr durchhasten. Und wie so vom Fenster aus ihre Blicke den beiden lieben Gestalten folgten, kam ihr all die Erinnerung an Tannenrode wieder.

Sie sah sich wieder im steifgestärkten Waschkleide in der Aengstlichkeit ihres befangenen Herzens mitten im Saale unter einem Kronleuchter stehen, als Witta von Monbert bei der Damenwahl den Prinzen aus ihren Armen entführte. –

Sie gedachte des Barons von Rammelsburg, wie er so sorglich sich ihrer angenommen hatte. –

Und sie erlebte noch einmal in Gedanken die Kämpfe ihrer jungen Mädchenseele, als die Tante ihr den Brief ihrer Eltern übergeben und sie eine halbe Nacht hindurch auf den Knien in die Kissen geschluchzt hatte. – – –

Draußen aber brach golden die Herbstsonne durch die grauen Wolken, während noch blinkende Regentropfen von den Dächern rannen.


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