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17.

Ueber dem weißen Saale des Residenzschlosses zu Büsingen lag eine drückende Schwüle.

Die zu dem Hofkonzert Geladenen waren schon vollzählig versammelt.

Die hohen Kandelaber mit ihrem flimmernden Kerzenschein, die den großen Saal einfaßten, verbreiteten ein Meer von Licht, das auf den purpurnen Samtsesseln, die dem Podium zunächst noch unbesetzt waren, glutrote Lichter hervorlockte. Der Hof war noch nicht erschienen. Auch die Künstlerschar hielt sich in einem besondern Zimmer noch zurück.

Durch die Reihen der Damen in den glänzenden Toiletten, der Offiziere in den blitzenden Uniformen und der Herren vom Zivil mit mehr oder minder hohen Auszeichnungen im Knopfloch, ging ein leises Raunen.

»Die Fürstin muß sie ja fallen lassen,« sagte ein ältliches Fräulein, die ein blitzendes Brillant-Kollier um ihren dünnen, weit entblößten Hals gelegt hatte, »die Notiz war ja zu deutlich.«

»Ja, es ist empörend,« gab die Gräfin Bernsdorff, eine alte schwerhörige Dame, zurück, »was hat denn eigentlich in der Zeitung gestanden?«

Ein Offizier hob warnend den Finger.

»Vorsicht, Vorsicht, meine Damen.«

»Ach bitte, lieber Graf, um was handelt es sich denn?« drängten all die neugierigen Weiblein auf ihn ein. »Sie sind gewiß orientiert.«

»Ja, die Zeitungsnotiz habe ich auch gelesen, wie Sie alle, meine Damen, sonst weiß ich nichts.«

»Ach, wie schade!«

Die paar Worte gaben doch so wenig Anhalt für einen regelrechten, schauerlich schönen Skandal. In der Notiz war doch nur darauf hingewiesen, »daß es bei der starken Kränklichkeit des Erbprinzen und bei dem Mangel jeglicher Nachkommenschaft, doch wünschenswert sei, wenn Prinz Dolf Dietram seinen Neigungen für Kunst und Künstlerinnen etwas mehr Beschränkung auferlegte und sich beizeiten um die Staatsgeschäfte kümmerte, die kennen zu lernen jetzt wirklich eine bestimmt ausgesprochene Forderung sein müßte.«

»Wenn auch Aniane nicht direkt in der Zeitungsnotiz genannt war, so wußte doch jeder, in welch auffallender Weise der Prinz die junge Sängerin bei jeder Gelegenheit auszeichnete und daß sie gemeint war.

Man wußte in den Kreisen der Hofgesellschaft viel zu erzählen von einem heftigen Auftritt des Prinzen mit seinem fürstlichen Vater, von einer wichtigen Unterredung des alten Fürsten mit Rammelsburg, von vielen Tränen der Fürstin und allerlei Familienzerwürfnissen. Eigentlich hatte jeder erwartet, daß heute das Hofkonzert abgesagt werden würde.

Nun ging doch alles merkwürdigerweise seinen gewohnten Gang. Die Abwesenheit des Kammerherrn von Türkheim wurde allseitig bemerkt. Es ging das Gerücht, daß er erst am Abend zurückerwartet werde.

»Ach, und haben Sie denn das Neueste von der Rosenau gehört, dem alten verhexten Schlosse?« tuschelte eine alte Exzellenz ihrer Nachbarin zu. »Eine Geliebte des Prinzen soll dort wohnen. Liebste, ich bitte Sie, dieser Skandal! Sogar von einem Kinde war die Rede. Natürlich ist alles nur Verleumdung, aber man weiß doch nicht –«

Das Erscheinen des Hofes unterbrach die weitere Auseinandersetzung.

Die Fürstin Elinor in einer grauseidenen Damastrobe mit stilvollen altrosa Samtapplikationen wurde von dem Erbprinzen, einem blaß und übellaunig aussehenden jungen Manne, geführt. Die hellen Augen der Fürstin flogen sichtlich kampfbereit über die Geladenen.

Der Fürst Ernst Heinrich, eine hohe, vornehme Männergestalt mit grauem Bart und Haar, hatte der Erbprinzessin, einer schlanken Brünette mit lustigen Augen, den Arm gereicht und Prinz Dolf Dietram machte mit Witta von Monbert, der sich die andern Damen und Herren vom Dienst anreihten, den Beschluß.

Wittas Augen blitzten stolz und siegessicher über die Menge. Wie eine Fürstin trug sie das Diadem, ein Geschenk der Fürstin Elinor, in ihrem Haar.

Die blauen Augen des Kammerherrn von Wuthenow hingen gebannt an Wittas Antlitz.

Rammelsburgs hohe Gestalt in der lichtblauen Uniform ragte stolz im Gefolge der Fürstlichen Herrschaften auf.

Entgegen den sonstigen Gewohnheiten hielten die höchsten Herrschaften nicht Cercle, sondern nahmen sofort ihre Plätze ein und auf einen Wink des Oberhofmeisters nahm das Konzert seinen Anfang.

Der blonde Pianist am Flügel, der mit Ausdauer Beethoven spielte, konnte die Gesellschaft in keiner Weise fesseln, alles fieberte dem Erscheinen Anianens entgegen.

Jetzt endlich öffneten sich die Türen zum Künstlerzimmer weit, und Anianens schlanke Gestalt, von dem Intendanten geführt, betrat das Podium.

Wie immer trug sie ein weißes Gewand, das duftig und zart in weichen Falten ihre herrliche Gestalt umwallte.

Die Augen halb geschlossen, um das strahlende Leuchten zu verbergen, das, wie sie meinte, Prinz Dolf Dietmar treffen mußte, sang sie mit süßer Stimme und holdem poetischem Zauber das Lied der Mignon:

»Nur wer die Sehnsucht kennt.«

Einen Augenblick herrschte atemlose Stille. Aller Augen waren jetzt auf das Fürstenpaar gerichtet. Geschah wirklich das Unerhörte, gab niemand das Zeichen zum Beifall?

Doch, jetzt legten sich langsam die Hände der Fürstin Elinor ineinander und die Hände der anderen folgten ebenso langsam nach. Nur der Erbprinz und Prinz Dolf Dietram applaudierten mit Eifer.

Aniane sang noch einige Lieder. Der Glanz in ihren Augen war erloschen. Sie hatte plötzlich das Gefühl, als ob sie hier abgetan sei, abgetan, ehe sie noch schuldig geworden.

Trotzig hob sie den blonden Kopf. Mochten sie Steine auf sie werfen, sie war ja reich, so unermeßlich reich in dieser Liebe.

Plötzlich war es ihr, als sähe sie Wittas Augen liebeheischend zu dem Prinzen hinüber grüßen und als ob Dolf Dietram verständnisinnig den Gruß zurückgab.

Nein, sie hatte sich wohl getäuscht. Nur mühsam sang sie das Lied zu Ende.

Auf einen Wink der Fürstin schritt sie, als der letzte Ton verklungen war, am Arme des Intendanten von Wiprecht die Stufen des Podiums hinab in den Saal.

»Mein liebes Fräulein von Rainer,« klang die Stimme der Fürstin Elinor haarscharf durch den Saal, während sich Aniane tief verbeugte: »Wir alle bedauern unendlich, daß es heute das letzte Mal gewesen, wo wir das Vergnügen hatten, Ihrer schönen Stimme zu lauschen. Der Herr Hoftheater-Intendant von Wiprecht berichtete mir vorhin, daß der Vertrag vom Hoftheater in Darmstadt bereits eingetroffen ist und nur noch Ihrer Unterschrift bedarf. Wir bedauern alle unendlich, Sie so schnell verlieren zu müssen.«

Aniane blickte erstaunt auf.

Aber nur einen Augenblick; sie hatte sogleich verstanden, daß ihr die Fürstin mit diesem Darmstädter Vertrage, von dem Aniane doch gar nichts wußte, einen Vorwand geben wollte, ihr Abtreten zu begründen.

Ach ja, man war wirklich sehr diplomatisch in Büsingen.

Da war kein Tüpfelchen, das man als einen Fleck in der Büsingischen Hofhaltung hätte erkennen können. Das vollzog sich alles so wohlgeordnet, daß wahrhaftig die breite Öffentlichkeit ohne Fehlschlag sich täuschen ließ; nur Eingeweihte kannten höchstens den innern Zusammenhang.

Die Fürstin reichte dem jungen Mädchen die Hand zum Kusse und Aniane beugte sich bleich mit zuckenden Lippen über diese Hand, die kalt und unbarmherzig den Stab über sie brach.

Alles atmete schon erleichtert auf. Das also war die Lösung. Man hatte es wirklich meisterhaft verstanden, die unbequeme Person los zu werden. Man lobte sie fort und stellte sie einfach vor die Notwendigkeit, ohne Widerrede den Geboten zu gehorchen, die man ihr vorschrieb. –

Anianens Lippen zitterten, aber ihre Stimme war klar und ruhig, als sie laut und bestimmt entgegnete:

»Durchlaucht sind sehr gütig und ich danke für allerhöchst dero Fürsorge. Ich bin aber nicht gewillt, wieder ein Engagement anzunehmen, da ich beabsichtige, mich ins Privatleben zurückzuziehen.«

Das frische Gesicht der Fürstin wurde ganz blaß und die Augen ihres hohen Gemahls blitzten drohend auf, während über des Prinzen Antlitz eine heiße Röte flammte.

Dieses Mädchen war wirklich mehr als unbequem. Sie konnte doch lachen, daß sie so gnädig davonkam und daß man sie bei Hofe so glimpflich abtat, als hätte man ihr eine Gunst zugedacht, und nun zertrümmerte sie in kindischem Trotz die ganze Geschichte.

Ein eisiger Blick der Fürstin traf die kühne Sprecherin.

»Nicht?« sagte sie kühl, »dann bin ich falsch unterrichtet.«

Lässig gab sie das Zeichen zur Wiederaufnahme des Konzertes. Anianens tiefe Verbeugung ignorierte sie vollständig.

Mit zitternden Füßen verließ Aniane am Arm des Intendanten den Saal.

»Menschenskind,« schrie der sonst so vornehme Hofmann Aniane aufgeregt an, als sie das Vorzimmer erreicht hatten. »Wie können Sie den einzigen Ausweg so brüsk ablehnen, der sich Ihnen noch bietet?«

Aniane sah dem Manne, der sich auch einst vergebens um ihre Gunst bewarb, kalt ins Gesicht.

»Es hat niemand das Recht, über mich zu bestimmen. Bis jetzt ist mein Engagement am Hoftheater zu Büsingen noch nicht gelöst und ich habe wirklich nicht Lust, mir von irgend jemand, wer er auch sei, sagen zu lassen, wohin ich die Stätte meiner Wirksamkeit verlegen soll.«

Der Intendant hüstelte verlegen.

»Sie graben sich selbst eine Grube nach der andern durch Ihren unverzeihlichen Hochmut, mein Fräulein. Ihre Entlassung werden Sie ja zu Hause vorfinden, ebenso den Darmstädter Vertrag, dessen Unterschrift Sie abgelehnt haben, trotzdem es für Sie der einzige Ausweg war, die Sache hier einigermaßen zu kaschieren. Nun tragen Sie die Folgen selbst.«

Aniane neigte leicht den Kopf, dann stand sie in der Garderobe allein. Mit zitternden Händen hüllte sie sich ein. Als sie soeben die Garderobe verlassen wollte, trat ihr Witta von Monbert, die, unter dem Vorgeben, ein vergessenes Tuch der Fürstin zu holen, den Saal verlassen hatte, entgegen. Ihre Augen blitzten schadenfroh über Aniane hin, als sie triumphierend sagte:

»Allerhöchste Ungnade, du Arme. Wie wirst du sie tragen?«

Aniane wollte mit kühlem Gruße vorüberschreiten, aber Witta vertrat ihr mit sprühenden Augen den Weg.

»Hüte dich,« zischte sie zwischen den kleinen weißen Zähnen hervor, »noch weiter meinen Weg zu kreuzen.«

Ueberrascht sah Aniane zu ihr auf.

»Wir haben nie die gleichen Wege gehabt.«

»Du irrst. Immer war mein Weg der deine, schon damals in der Tanzstunde. Hast du das vergessen?«

Aniane befreite gelassen ihre Hand, die Witta ergriffen hatte und krampfhaft umschlossen hielt.

»Laß mich, Witta, ich habe dir nichts mehr zu sagen.«

»Aber ich. Noch einmal, hüte dich! Der Prinz ist mein, verstehst du, und niemand, auch du nicht, sollst mir ihn rauben.«

Ein leises Lächeln huschte um Anianens Lippen.

»Wer so ängstlich um etwas kämpft, wie du, Witta, hat es schon verloren, oder – nie besessen. Lebe wohl!«

Ehe die schöne Hofdame es hindern konnte, war Aniane an den sich tief verneigenden Lakaien vorüber die breite Marmortreppe hinabgeschritten.

Witta sah ihr feindselig nach und die kleinen Hände ballten sich in ohnmächtiger Wut. Dann kehrte sie langsam, das strahlendste Lächeln auf dem zarten Gesicht, in den weißen Saal zurück.

Aniane aber fuhr durch den lauen Sommerabend ihrer Wohnung zu. Ein Gewitterwind fegte stoßweise durch die Straßen und wirbelte den Staub hoch empor und dunkle, wild zerrissene Wolken jagten durch die Luft. Von fernher grollte der Donner.

Daheim aber in ihrem Wohnzimmer brach Anianens so lange behauptete Fassung zusammen.

Dort auf dem Schreibtische lag das ominöse Schreiben mit dem fürstlichen Siegel.

Ungelesen warf sie es in die Flammen.

Alle Brücken wollte sie abbrechen, losgelöst von allem, wollte sie in das neue Leben treten.

Das neue Leben. – Sie schlug die Hände, laut aufstöhnend, vor ihr Antlitz. Eine tiefe Mutlosigkeit überkam sie.

Langsam überflog ihr Blick den trauten Raum, in dem das Glück zu ihr gekommen war, seine Liebe. Abschied nehmen sollte sie für immer. Wie eine Ausgestoßene, Verfemte, kam sie sich vor. Schuldlos hatte man sie verdammt und gerichtet, schuldlos hatte man sie abgetan, nun mochte über das Haupt der Schuldigen das Schicksal hereinbrechen, sie trotzte ihm.

Wie langsam die Zeit verrann, trotzdem es noch so viel zu ordnen und zu bedenken gab. Hastig packte Aniane das Notwendigste zusammen. Ihre Dienerin, der sie unbedingt vertrauen konnte, sollte ihren kleinen Haushalt auflösen und ihre Sachen einstweilen nach Tannenrode zu Tante Malchen senden. Tante Malchen!

Aniane fiel es schwer aufs Herz, daß sie so lange keinen Brief, kein Wort für die Tante gehabt, die zwar noch immer der übereilten Verlobung wegen mit ihr zürnte, deren sorgende Liebe sie aber doch stets wieder wohltuend empfand.

Und Roald!

Sie mußte ihm schreiben. Sie konnte nicht fortgehen ohne ein Wort der Aufklärung. Alle alten Fesseln sollten fallen, bevor sie hinausging in das neue Leben.

Aniane setzte sich an ihren Schreibtisch und schrieb:

»Mein lieber Roald!

Nun ist es gekommen, wie Du stets gefürchtet. Ich bin Deiner Liebe und Deiner Zuneigung nicht wert. Nichts kann unsere Gedanken und Gefühle hemmen, und wie ich sie auch zu meistern suche, sie gehorchen mir nicht und führen mich weit ab von Dir. Ich weiß, daß ich Dir weh tun muß, bitter weh, aber heute fühle ich es mit ganzer Wucht, nie, nie kann ich die Deine werden! Groß und leuchtend ist die Liebe in mein Leben getreten. Noch weiß ich nicht, ob sie mir Heil oder Unheil bringt, aber ich fühle ihre unwiderstehliche, alles überwältigende Macht.

Ich trete heute in ein neues Leben. Wenn Du mich je geliebt hast und mir verzeihst, dann segne mich zu diesem Wege, den ich zögernd und doch voll jubelnden Verlangens, in stürmischer Hoffnung betrete. Ich weiß, Du wirst sehr einsam sein. Du hast aber doch wenigstens Deine Kunst. Wenn mich mein Hoffen und Lieben täuscht, dann bin ich einsamer als Du, dann habe ich auch den Glauben an das Vertrauen zu meiner Kunst verloren. Sie hat mich nicht zur Strahlenhöhe geführt, wie wir beide einst gehofft, sondern weiter und weiter durch graue Gassen. Wohin ich auch blicke in meinem Berufe, nirgends ein Licht, überall nur Dunkel, alles nur Mittel zum Zweck. Mich friert, wenn ich denke, mit welchen Hochgefühlen ich einst auszog, mit wie viel tausend Wünschen; und nun habe ich nichts von all den hochtrabenden Plänen und Hoffnungen gerettet als den einzigen Wunsch, auszuruhen im Arme der Liebe. Lebe wohl, Roald, ich küsse Deine lieben Hände. Denke, ich wäre tot, und weine über mich, wenn Du kannst. Ich werde Deine warmen Tränen fühlen und sie werden mir sagen, daß Du verzeihst

Deiner Aniane.«

Die junge Sängerin atmete auf, als hätte sie eine quälende Last abgeschüttelt, als sie den Brief ihrer Dienerin zur Besorgung übergeben. So, nun war sie hier fertig. Nichts ließ sie zurück, von dem ihr das Scheiden weh tat.

Doch ja, einen einzigen Freund, Rittmeister von Rammelsburg!

Eine heiße Röte stieg ihr in das Gesicht. Er würde sie gewiß verachten. Weshalb mußte sie plötzlich den Blick so grübelnd senken, während er bis jetzt so siegessicher die Zukunft suchte?

Hastig wechselte Aniane ihre Toilette mit einem einfachen Reisekleide.

So, nun war sie bereit. Um zwölf Uhr hatte Dolf Dietram gesagt, würde er zur Stelle sein.

Draußen rollte der Donner und fahle Blitze zuckten durch die Nacht.

Anianens Herz klopfte in wilden Schlägen. Nur eine kleine Weile noch und sie würde an seinem Herzen geborgen sein, würde seine Küsse trinken und er würde sie hinausführen in eine neue Welt, in eine gemeinsame glückliche Zukunft.

Was waren alle Herrlichkeiten der Welt gegen diesen einen berauschenden Gedanken.

Atemlos horchte sie hinaus in die Nacht. Aber kein Rädergerassel drang zu ihr herauf. Dumpf nur murrte der Donner und endloser Regen strömte in wilden Bächen hernieder. Immer wieder hatte sie leise und vorsichtig das Fenster geöffnet und in das Dunkel hinausgespäht.

Der Regen schlug ihr ins Gesicht und ein heller Blitzstrahl zuckte hernieder.

Von ferne hörte sie das Rollen eines Wagens. Mit fiebernden Händen schloß sie das Fenster.

Der Wagen hielt. Nur wenige Augenblicke noch – und Aniane ruhte an des Prinzen Brust.

»Mein armes Lieb,« flüsterte er zärtlich, »wie arg hat man dir mitgespielt. Aber fürchte nichts, bald, bald sind wir in Sicherheit und niemand soll dir wieder weh tun. Du, mein geliebtes, mein angebetetes Weib.«

Er riß sie stürmisch an sich und preßte seine Lippen auf die ihren.

»Komm, komm,« mahnte er. »Türkheim, der sehr spät zurückkam und der noch eine sehr erregte Unterredung mit meinem Vater gehabt hat, hat einen herrlichen Plan. Er fürchtet mit Recht, daß man meine Abreise mit dir hindern wird. Er ist nun in meiner Uniform – zum Glück sieht sein glatt rasiertes Gesicht dem meinen ähnlich – mit meinem Kammerdiener zur Bahn gefahren, um an meiner Stelle die Reise anzutreten, und ich habe, angetan mit Türkheims Reisemantel, das Vergnügen, einige Stunden mit meiner geliebten Aniane eine Wagenfahrt zu machen, bis wir die Eisenbahnstation erreichen, auf der uns Türkheim erwartet. Bist du bereit, Aniane, Geliebte, Süße, Einzige?«

Er trank ihre Antwort von ihren Lippen. Es war, als wollte er durch seine Leidenschaftlichkeit ihr jeden Einwand und jede Ueberlegung rauben.

Aniane zitterte am ganzen Körper. Seine Küsse brannten wie Feuer auf ihren Lippen, aber in aller Seligkeit des Augenblicks kroch immer wieder ein bohrendes Mißtrauen an sie heran, dem sie vergeblich zu wehren suchte. – –

Mit fliegenden Händen setzte sie ihren Reisehut mit den weißen, wehenden Schleierenden auf das Blondhaar.

»Komm, komm,« mahnte der Prinz, indem er die Tür öffnete.

Mit einem leisen Schrei taumelte er zurück.

Auf der Schwelle stand eine dunkle Frauengestalt mit leichenblassem Gesicht und großen, unheimlichen Augen. Triefend vom Regen schlotterten die schwarzen Kleider um ihre vor Frost bebenden Glieder und aus dem braunen Haar floß eine rieselnde Wasserflut auf die Diele.

Auch Aniane hatte einen leisen Schrei ausgestoßen beim Anblick der dunklen Gestalt, die da plötzlich so geisterhaft, einer Toten gleich, wie aus der Erde gezaubert, im Zimmer stand.

Aber sie faßte sich zuerst und sagte, sich mühend, bei dem unsichern Schein der Lampe die Züge der Fremden zu erkennen:

»Wer sind Sie, was wollen Sie hier zu dieser Stunde?«

»Diesen Mann da sprechen,« antwortete die Fremde mit irrem Blick auf Dolf Dietram.

Jetzt hatte auch der Prinz seine Selbstbeherrschung wiedergefunden.

»Da müssen Sie schon eine gelegenere Zeit und einen passenderen Ort suchen, gute Frau,« sagte er gönnerhaft, aber doch voll ungeduldiger Hast, während er mahnend zu Aniane hinüberflüsterte:

»Es ist die höchste Zeit, eile dich.«

Jetzt lachte die Fremde gellend auf.

»Eine gelegenere Zeit? Ich wüßte nicht, welche Zeit gelegener sein könnte, als der Augenblick, da ein Mann, der Weib und Kind grausam betrogen, im Begriff steht, sich eine neue Beute für seine Begierden zu suchen. Keinen Schritt weiter,« herrschte sie Aniane an, die unwillkürlich an die Seite des Prinzen geflüchtet war, »ehe du nicht weißt, daß dieser Mann es war, der mich einst heimlich von Heimat und Vaterhaus lockte und der nun schamlos genug ist, mich und sein Kind aus dem Hause weisen zu lassen, indem er mich vor aller Welt verborgen hielt.«

»Zilla!« schrie Aniane auf. »Zilla, du, du bist es!«

Sie stürzte der Fremden in irrer Hast entgegen und zog sie näher in den Kreis der Lampe, und dann nahm sie wortlos ein Tuch und begann das nasse Haar zu trocknen. Einer barmherzigen Samariterin gleich, kniete sie vor dem frostbebenden triefenden Weibe, das leise zusammenschauerte.

»Ja, Aniane,« gab die bleiche Frau tonlos zurück. »Zilla, die diesen Mann geliebt, die sein Weib wurde, das er kalt lächelnd verließ, als er ihrer überdrüssig geworden. Zilla steht vor dir und fordert Prinz Dolf Dietram von dir für ihr Kind, nicht für sich selbst.«

»Bist du wahnsinnig,« zischte ihr der Prinz zwischen den zusammengebissenen Zähnen zu und herrisch wandte er sich an Aniane. »Mach der Komödie ein Ende, was soll das? Meine Zeit ist um.«

Aniane sah mit unheimlichem Ernst zu ihm auf.

»Ich hoffe, Durchlaucht, daß Sie so viel Zeit haben, die Unglückliche hier wenigstens anzuhören. Ich bestehe darauf.«

Dolf Dietram warf einen bösen Blick auf Aniane. Dann kniff er die Augen hochmütig zusammen und sagte mit einer vornehmen lässigen Handbewegung:

»Mir sind immer die Frauen besonders unsympathisch gewesen, die sich an einen Mann hängen, von dem sie wissen, daß er längst aufgehört, sie zu lieben.«

Wie unter einem Peitschenhieb zuckte Zilla zusammen. Aniane aber sprach in merkwürdig eisigem und beherrschtem Tone:

»Durchlaucht haben mir vor wenigen Stunden Ihr fürstliches Wort gegeben, daß Sie nie irgendwelche Beziehungen zu Zilla gehabt. Ich sehe, daß Durchlaucht sich auch darin geirrt haben, wie wohl in allen Ihren Gefühlen. Ich verzichte darauf, die Nachfolgerin der armen Zilla zu werden, und ich befehle Ihnen, ich befehle,« wiederholte sie mit blitzenden Augen, »mein Haus sofort zu verlassen und es nie wieder zu betreten.«

Der Prinz sah unschlüssig zu Aniane hinüber, die stützend ihren Arm um die wankende Zilla gelegt hatte.

Er hatte das Spiel verloren. Er mußte wohl oder übel an den Rückzug denken.

»Ich hoffe, mein gnädiges Fräulein,« entgegnete der Prinz kühl, »daß eine andere Stunde Sie von der Grundlosigkeit Ihres Verdachtes überzeugen wird. Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen.«

»Aber ich,« rief Zilla mit fiebernden Augen, sich von Anianens Hand losreißend und zur Tür stürzend, dem Prinzen so den Ausweg wehrend.

»Was wünschen Sie noch?« fragte der Prinz hochmütig, mit halb geschlossenen Augen.

»Rechenschaft will ich,« schrie Zilla verzweifelt, »Rechenschaft. Ist es wahr, daß Sie diese Schamlosigkeit gehabt, einen Mann zu mir zu schicken, der mir Geld bot, wenn ich mit meinem armen Kinde hinaus in die Welt ginge, einen Mann, der mir sagte, daß die Ehe, die ich töricht genug war mit Ihnen zu schließen, Ihnen, dem ich vertraute und der dieses Vertrauen nicht wert war, einfach nicht zu Recht bestände, daß mein Kind also –, daß ich eine – – o Gott, ist es wahr? – –

Ist es wahr, daß Sie Ihre Willkür so weit trieben, mir sogar die Zufluchtsstätte zu nehmen, in der Sie mich bis dahin vor aller Welt verborgen hielten? Ist es wahr, daß Sie mich fortwiesen? – Ich bin,« fuhr sie fort, halb zu Aniane gewandt, »als ich das Unglaubliche hörte, in die Nacht hinausgestürmt, im Regen und Sturm. Ich wollte versuchen, meinem kleinen, süßen, hilflosen Kinde den Vater zu retten. Auf den Knien wollte ich ihn anflehen. »Verstoße mich nicht. Nimm mir nicht den letzten Halt.« Als ich endlich nach tausend Mühsalen das Schloß erreichte, erfuhr ich, daß der Mann, der sich so feige seinen Pflichten entzog, abgereist sei. Ich verlangte den Fürsten zu sprechen, aber man lachte über mich und schließlich drohte man mit der Polizei. Da lief ich, nachdem ich deine Wohnung, Aniane, erkundet, hierher. Du, von der man sagte, daß auch du ihn liebst, mußtest ja wissen, wo ich ihn finden konnte. Und nun steht er hier vor mir und ich sehe, daß du bereit bist, ihm gleich mir ins Verderben zu folgen und daß alles, alles für mich vergebens ist, denn er hat kein Herz. – Könnte ich dich töten,« schrie sie plötzlich auf, die zarten Hände krampfhaft geballt zu dem Prinzen erhebend, »könnte ich dir doch das kalte, selbstsüchtige Herz aus der Brust reißen, damit du niemand mehr weh tun kannst, du, den ich verachte vom tiefsten Grunde meines Herzens.«

Sie taumelte, ein Blutstrom brach jäh aus ihrem Munde, und lautlos sank Zilla zu des Prinzen Füßen zusammen.

Aniane stürzte zu der Bewußtlosen.

»Gehen Sie,« herrschte sie den Prinzen an, »und rühren Sie die Arme nicht an. Sie haben jedes Recht, ihr zu helfen, verwirkt.«

»Ich bitte zu bedenken,« sagte der Prinz kühl, »daß die Anklagen der Unglücklichen dort nicht mich, sondern meinen Vater treffen, der alle Bestimmungen verfügt hat, nachdem ihn die alberne Nachforschung der Schwester Zillas auf ihre Spur gewiesen.«

»Ein Los, das Sie auch mir gütigst zugedacht hatten,« gab Aniane, die sich um Zilla mühte, indem sie ihr ein Kissen unter den Kopf schob, verächtlich zurück. »Gehen Sie, Prinz, und kehren Sie nie wieder. Das einzige, um was ich Sie bitten möchte, ist, daß Sie mir einen Arzt für die Unglückliche senden.«

Noch ehe der Prinz etwas entgegnen konnte, erschien Anianens Dienerin bleich und unsicher auf der Schwelle und das Mädchen zur Seite schiebend, trat in dienstlicher Haltung der Rittmeister von Rammelsburg in das Gemach.

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung, gnädiges Fräulein, für mein Eindringen hier zu dieser Stunde,« sagte er knapp. »Befehl Seiner Durchlaucht des Fürsten. Ich werde die Ehre haben, Durchlaucht als Reisebegleiter zu dienen, da man soeben den Kammerherrn von Türkheim, der sich erdreistet hatte, in der Uniform Seiner Durchlaucht die Reise anzutreten, auf dem Bahnhofe verhaftet hat –«

Aniane schrie auf. Wie ein greller Blitz durchzuckte sie der Gedanke, daß dieser Mann da sie vor dem Prinzen retten wollte um jeden Preis und daß sie verloren gewesen, wenn sie die vereitelte Reise gewagt.

Erst jetzt gewahrte der Rittmeister die am Boden liegende Gestalt. Entsetzt sah er von einem zum andern.

Aniane verständigte ihn durch ein paar Worte. Schnell hob Rammelsburg die Bewußtlose auf und trug sie auf ein Bett.

»Einen Arzt,« flehte Aniane. »Oder, bitte, telegraphieren Sie an das Sanatorium von Dr. Vogel, der Arzt und auch Rahel sollen kommen, ich bitte Sie.«

»Baron von Rammelsburg,« mahnte der Prinz hochmütig, aber mit erdfahlem Antlitz. »Wir dürften den Zug versäumen.«

»Unsere Reiseroute ist geändert, Prinz. Ich handle ganz nach fürstlichem Befehl und bitte Sie, mir nicht durch unnützen Widerstand meinen Auftrag zu erschweren.«

»Also, ich bin sozusagen Ihr Gefangener,« lachte Prinz Dolf Dietram heiser auf.

»Wie Sie es aufzufassen belieben, Durchlaucht.«

Die beiden Männer maßen sich mit kalten Blicken, dann schritt der Prinz, ohne noch einen Blick auf Aniane und Zilla zu werfen, hinaus.

Der Rittmeister folgte. Er hatte das Haupt gesenkt, trotzdem heißer Jubel seine Brust erfüllte, daß Aniane gerettet war.

Aniane aber lag vor dem Lager Zillas auf den Knien, und ihre heißen Tränen strömten über die totenbleichen kleinen Hände, die ihr heute alles genommen, ihr ganzes Glück, ihren ganzen Himmel und die sie doch dankbar küßte.

Voller Entsetzen erkannte sie den Abgrund, an dem sie gestanden; voller Entsetzen sah sie ein zertretenes Menschenleben da so hilflos, einer Toten gleich, vor sich liegen, dem sie helfen mußte, wenn auch das eigene Herz darüber in Stücke brach.


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