Julius Wolff
Der Raubgraf
Julius Wolff

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Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Noch am Abend, gleich nach der Einbringung des Grafen Albrecht, war der Stiftshauptmann Willekin von Herrkestorf zur Äbtissin aufs Schloß gekommen und hatte ihr das große Ereignis gemeldet. Sie hatte, den Kampf tagsüber mit ihren Damen von der Höhe des Schlosses verfolgend, wohl gesehen, daß die Regensteiner geschlagen wurden, das aber als einen der vielen Wechselfälle des Krieges genommen, die heute dem Feinde, morgen dem Freunde den Sieg verleihen. Bei der Nachricht des Stiftshauptmanns nun, die er zweimal wiederholen mußte, ehe die Äbtissin sie faßte und glaubte, geriet sie in eine schrankenlose Wut über die unerhörte Frechheit der Quedlinburger, ihren Schirmvogt gefangen einzusperren. Sie verlangte seine augenblickliche Freilassung und wollte den Stiftshauptmann mit diesem Befehle nach dem Rathause schicken. Herr Willekin unterdrückte kaum ein spöttisch mitleidiges Lächeln und erlaubte sich die Bemerkung, daß der wohledle Rat diesem Befehle der gnädigen Frau wohl nicht so schnell nachkommen dürfte.

»So gewährt ihm wenigstens ein ritterlich Gefängnis,« begehrte sie. »Schickt ihn hier herauf zu mir und nehmt Sicherheit von ihm und mir, daß er vor Zahlung des Lösegeldes dies Schloß nicht verläßt.«

Auch auf Erfüllung dieses Wunsches konnte ihr der Stiftshauptmann keine Hoffnung machen, deutete vielmehr an, daß der Graf durch bloße Erlegung eines noch so hohen Lösegeldes seine Freiheit schwerlich wieder erlangen würde.

»Ja, was wollt ihr denn von ihm?« frug die Äbtissin. »Ihr werdet doch ehrlich Fehderecht gelten lassen?«

»Man spricht von einem Gericht unter dem hohen Baume,« erwiderte Herr Willekin.

»Oho, Herr Stiftshauptmann!« fuhr die Äbtissin auf, »soll's da hinaus? unterfängt sich die Stadt, von dem Gericht unter dem hohen Baume zu reden? Kaiser und Reich ruf' ich gegen sie an, wenn sie es wagt! Aber Ihr seid nicht die Stadt; laßt Bürgermeister und Rat selber kommen; mit denen werden wir uns abzufinden wissen.«

Damit entließ die zürnende Fürstin ihren Stiftshauptmann.

Von dem Gerichte unter dem hohen Baume sprachen nur die Gerechteren und Besonneneren in der Stadt, die Rachsüchtigen, Blutdürstigen, welche die Mehrzahl bildeten, und der gemeine große Haufe forderte ohne weiteres den Tod des Grafen.

Der Rat hielt noch am Abend eine Sitzung, in der man sich hauptsächlich mit dem sicheren Gewahrsam des gefährlichen Mannes beschäftigte und den Beschluß faßte, einen besonderen, sehr starken Käfig für ihn bauen zu lassen, um sein Entkommen zur Unmöglichkeit zu machen, wie die einen sagten, und um die Erstürmung seines jetzigen Kerkers und die Tötung des Gefangenen durch das erregte Volk zu verhindern, wie die anderen hinzusetzten. Dem Gildemeister der Zimmerer ward die Ehre zuteil, einen solchen Käfig schleunigst anfertigen zu müssen.

In der Stadt wollte der Jubel heute kein Ende nehmen; auf Markt und Gassen wogte das Volk und erzählte sich die abenteuerlichsten Geschichten von ›Albert von Regenstein‹, wie es ihn gemeinhin nannte, und die halbe Nacht hindurch währten die Freudenfeste und Trinkgelage, bei denen die tapferen Spießbürger, die den wehrlos im Hackelteiche Versunkenen ergriffen hatten, als Helden gefeiert wurden.

Bei den Kapitularinnen auf dem Schlosse fand das Unglück ihres Schirmvogtes eine ungleiche Teilnahme. Die Pröpstin Gräfin Kunigunde von Woldenberg und die Dekanissin Gertrud von Meinersen, die manchen Spott von ihm selber und manche Kränkung seinetwegen von der Domina hatten erdulden müssen, gönnten ihm die tiefe Demütigung aus dem Grunde ihrer altjüngferlichen Herzen und machten auch, um die Domina zu ärgern, kein Hehl aus ihrer Schadenfreude. Die übrigen nahmen alle tiefen, aufrichtigen Anteil an seinem traurigen Geschick. Keine aber war so von Schreck und Schmerz darüber ergriffen, wie Gräfin Oda von Falkenstein, obwohl sie aus den Äußerungen der in solchen Dingen besser bewanderten Äbtissin, deren Wut auf die Quedlinburger größer war als ihre Sorge um den Eingekerkerten, die Hoffnung schöpfte, daß das Leben des Geliebten nicht bedroht wäre. Aber daß er geschlagen, niedergeworfen und gefangen war, auf Gnade und Ungnade in den Händen seiner Feiner, – er, der Kriegsgewaltige, Sieggewohnte, bisher Unbezwingbare, – das schon machte sie trostlos und wollte sie gar zur Verzweiflung bringen, wenn sie sich in seine Stelle hineindachte. Sie suchte sich jedoch den anderen, namentlich der Äbtissin gegenüber, zu beherrschen, um ihnen nicht ihre Liebe zu Albrecht auf ähnliche Weise zu verraten, wie es an jenem Morgen nach Albrechts Hinabsteigen vom Felsen Siegfried gegenüber geschehen war.

Am Morgen kam Graf Bernhard von Regenstein zur Äbtissin und fand sie in Gesellschaft der Kanonissin Gräfin Adelheid von Hallermund und Odas. Er setzte die Kenntnis alles Geschehenen bei der Fürstin voraus und erbot sich dazu, was sich eigentlich von selbst verstand, die Schutzvogtei des Stiftes für seinen gefangenen Bruder zu übernehmen. Die Äbtissin willigte dankend ein, und er merkte wohl, daß sie seinem Erbieten nur geringe Wichtigkeit beilegte und Albrechts Haft als etwas schnell Vorübergehendes zu betrachten. Da konnte er nicht umhin, sie über diesen Irrtum aufzuklären. Er hätte, erzählte er nun, heute früh bereits den regierenden Bürgermeister um eine Unterredung und um sicheres Geleit dazu ersuchen lassen wie auch um die Erlaubnis gebeten, seinen Bruder sprechen zu dürfen. Beides wäre ihm verweigert mit dem Bedeuten, daß man sich auf keinerlei Verhandlungen einlassen könnte, weil sich der Rat über sein Verfahren gegen den Gefangenen noch nicht schlüssig gemacht hätte. »Aus der in der Bürgerschaft obwaltenden Stimmung zu schließen,« fügte Bernhard hinzu, »schwebt Albrechts Leib und Leben in der höchsten Gefahr, und ich bin gekommen, gnädigste Domina, Euch inständigst um Eure Vermittlung und Hilfe zu bitten.«

»Alles, alles, was ich vermag, Herr Graf!« erwiderte die Äbtissin in großer Bestürzung über die sehr trübe lautende Nachricht, die Oda in eine unbeschreibliche Angst versetzte. Dann warf die Äbtissin das Haupt zurück und frug: »Aber wo sind denn Eure Verbündeten, Herr Graf? Wenn Ihr Eure Streitkräfte wieder sammeltet und sie mit denen der Grafen von Mansfeld, Stolberg, Hohnstein vereinigtet, –«

»Die Fehde mit Quedlinburg ist aus,« unterbrach er sie. »Ich habe den Freunden sagen lassen, sie sollten heimziehen, denn beim ersten Sturmlauf würden wir meines Bruders abgeschlagenes Haupt auf den Mauern erblicken.«

Die Damen erblaßten. Oda fühlte, wie sie wankte.

»Laßt mich nur erst mit Bürgermeister und Rat verhandeln,« sagte die Äbtissin; »mir müssen sie Rede stehen. Dann sollt Ihr von mir hören, Herr Graf. Sind Eure drei Brüder, die hier mit gekämpft haben, unversehrt geblieben?«

»Meine drei Brüder?« wiederholte Bernhard erstaunt. »Wie, gnädige Frau, so wißt Ihr nicht –?«

»Was?«

»Daß nur noch zwei von ihnen leben. Siegfried ist gefallen.« Er sprach es mit einem dumpfen und bitteren Tone, und vielleicht ungewollt und unbewußt streifte er dabei mit einem finsteren Blicke Oda, die sich schaudernd davon getroffen fühlte.

Mit eisiger Gewalt packte sie in diesem Augenblick die Erinnerung an Siegfrieds Abschied. »Wir sehen uns nicht wieder,« hatte er gesagt. Hatte er geahnt, daß es ein Abschied auf ewig wäre? oder hatte er es gar – gewollt?! – o der Gedanke war nicht auszudenken... Aber so heftig war sie davon erschüttert, daß sie alle Fassung verlor und, das Gesicht mit ihrem Tuche verhüllend, in heiße Tränen ausbrach.

Auch die anderen beiden waren tief bewegt und sahen mit dem Ausdruck herzlichen Mitleids auf Oda. »Siegfried tot!« sprach die Äbtissin leise, »in all seiner Kraft und blühenden Jugend! Erzählt uns: wie ist er gefallen?«

Bernhard berichtete: »Albrecht hatte ihn der feindlichen Reiterei entgegen in den Hohlweg der Weinberge geschickt mit dem strengen Befehl, sich dort bis auf den letzten Mann zu halten und keinen Feind hindurchzulassen. Siegfried hat den Befehl wörtlich befolgt; aber es war auch ein Ritt, von dem wiederzukehren niemand hoffen durfte.«

»Und solchen Befehl konnte der Bruder dem Bruder geben?« sagte die Äbtissin.

»Ich war nicht zugegen, als es geschah,« erwiderte Bernhard.

Die Äbtissin sah den Graf scharf forschend an; dann sprach ihr Blick, wie einem schnellen Gedankengange folgend, mit einem eigentümlich strengen Ausdruck zu Oda hinüber. – »Wann wollt Ihr ihn zur Ruhe bringen?« frug sie endlich.

»Übermorgen mittag wollen wir ihn in Kloster Michaelstein bestatten und seinen Schild und Helm vergraben,« antwortete Bernhard.

»Wir werden dabei sein, wir drei,« sprach die Äbtissin, »nicht wahr?«

»Gewiß!« sagte Adelheid.

Oda nickte stumm.

Bernhard dankte den Damen und nahm Urlaub.

Darauf sagte die Äbtissin zu Adelheid und Oda: »Laßt mich allein; ich muß mir mein Verhalten gegen den Rat überlegen.«

Die beiden gingen, und Jutta blieb, von einer tiefen Unruhe erfaßt, allein. Bernhards kurzer Bericht über Siegfrieds Tod hatte ihr einen Eindruck hinterlassen, von dem sie sich in einer völligen Verwirrung der Gedanken nicht freimachen konnte. Ein fürchterlicher Verdacht war wie ein einschlagender Blitz vor ihr niedergefahren, aber sie hatte ihn mit einer wahren Angst von sich abgewehrt, weil er einen, den sie liebte, mit einer grausigen Schuld belud. Dennoch war ihr, als stünde sie vor einer unglückseligen Verknüpfung von Menschenlosen, die sie vergeblich zu einer natürlichen, vorwurfsfreien Klarheit aufzulösen suchte. Wie gläubig sie sich auf dem unerforschlichen Walten der Vorsehung oder des Schicksals beugte, und eine wie große Macht sie auch dem unberechenbaren Zufall einzuräumen bereit war, der gegen Wunsch und Willen der Menschen sein tückisches Spiel mit ihnen treibt, immer blieb doch die Tatsache in Wirklichkeit bestehen: durch Siegfrieds Tod war Odas Hand frei geworden. Sollte – um diese Hand für sich selber frei zu machen, der Bruder den Bruder – –? nein! nein! nein! fort! fort mit diesem gräßlichen Gedanken.

Wenn aber nun etwas Wahres an dem war, was sie in früheren Tagen geargwöhnt und geglaubt hatte, wenn zwischen Albrecht und Oda eine gegenseitige heimliche Neigung bestand, was hinderte dann die beiden noch, diese Schicksalsfügung oder diesen traurigen Zufall zu benutzen und den Bund fürs Leben zu schließen? Und wenn sie Albrecht aus dem Kerker befreite, tat sie es dann für sich oder für Oda? Er war durch kein Versprechen an sie gebunden; sie wußte nicht, ob seine Liebe zu ihr stark genug war, um auch ohne ein solches an ihr festzuhalten, und ebensowenig wußte sie, ob nicht Oda ihn liebte und darauf bedacht war, statt des jüngsten nun den ältesten der Regensteiner an sich zu fesseln. Sie beschloß, das Herz ihrer nunmehrigen Konventualin daraufhin zu prüfen, und ersann Gelegenheit und Plan, die zwar lieblos und grausam, aber ganz dazu angetan waren, ihr darüber Gewißheit zu verschaffen.

Für Albrechts Befreiung wollte sie alle Hebel in Bewegung setzen, auch jedes Opfer, ihre Ansprüche auf ihn selber ausgenommen, dafür bringen, aber auch dieselbe, wenn sie glückte, womöglich so gestalten oder wenigstens in seinen Augen so erscheinen zu lassen, als wenn er sie einzig und allein ihren Anstrengungen zu danken hätte.

Mit Ungeduld erwartete sie den Besuch des Bürgermeisters, den sie durch den Stiftshauptmann hatte zu sich bescheiden lassen. Erst am zweiten Tag kam er in Begleitung des Ratsherrn Werner Scheerenschmid. Auf die Frage der Äbtissin, unter welchen Bedingungen sie den Graf Albrecht freigeben würden, antwortete der Bürgermeister mit Festigkeit: »Unter keinen Bedingungen, gnädige Fürstin! Der größte Teil der Bürgerschaft und auch viele von den Ratsherren fordern den Tod des Grafen. Die übrigen aber die ihm das Leben lassen wollen, verlangen wenigstens, daß er in ewiger Gefangenschaft bleibe, damit die Stadt in Zukunft Ruhe vor ihm hat.«

Die Äbtissin war empört; aber sie bezwang sich und sagte: »Wenn Ihr ihn nun Urfehde schwören ließet?«

Herr Nikolaus von Bekheim schüttelte das Haupt. »Solche Schwüre sind schon gebrochen worden, gnädige Frau. Wenn wir den Grafen am Leben lassen, so müssen wir ihn auch in Haft behalten, um eine Geisel gegen seine Brüder und Verbündeten in Händen zu haben, denn mit seinem Kopfe muß er uns für den Frieden bürgen.«

»Könnte ich nicht zwischen Euch und ihm einen Frieden aufrichten und die Sache vergleichen?« frug die Äbtissin in ängstlicher Spannung.

Wir haben die Entscheidung über Leben und Tod des Grafen bereits in andere Hände gelegt,« erwiderte der Bürgermeister. »Das Gericht unter dem hohen Baume wird darüber das Urteil finden.«

»Das Gericht unter dem hohen Baume? nimmermehr!« rief die Äbtissin. »Was fällt Euch ein? wie könnt Ihr es wagen, von dem Gericht unter dem hohen Baum zu reden? Darüber habe ich zu bestimmen, nicht Ihr!«

»Wißt Ihr einen andern Weg, achtbare Fürstin?« frug der Bürgermeister. »Der Stadtschultheiß kann über den Grafen nicht Recht sprechen.«

»Was Recht! er ist im Recht und Ihr im Unrecht!« wetterte die Äbtissin. »Das Glück hat ihn nur verlassen, und Euer Verrat hat ihn ins Elend gebracht.«

»Über Recht und Unrecht werden die fürstlichen Schöffen unter dem hohen Baume entscheiden.«

»Da ist der Stab so gut wie gebrochen über ihn. Aber das wollt Ihr ja!«

»Ihm wird Gerechtigkeit werden,« sprach der Bürgermeister. »Wir haben eine Botschaft an den Herzog Otto von Braunschweig gesandt, daß er das Fürstengericht zusammenberufe.«

»Ihr habt gesandt?« fuhr die Äbtissin auf. »Ihr wollt sagen, Herr Bürgermeister, Ihr bittet mich um Erlaubnis, ob Ihr eine Botschaft senden dürftet

»Wir haben sie bereits abgesandt, hochwürdige Domina!« erwiderten jetzt beide Herren zugleich.

»Und das ohne mich darum zu fragen?«

Nikolaus von Bekheim bejahte mit einer kühlen, stolzen Bewegung des Hauptes.

»Wir wußten Eure Antwort auch ohne Frage, gnädige Fürstin,« sagte Werner Scheerenschmid.

»Und der Herzog von Braunschweig, der Bruder des Bischofs, des ärgsten Feindes vom Grafen Albrecht, soll den Spruch fällen? Und das nennt Ihr Recht sprechen?«

»Ihm steht jetzt die Hegung des Fürstengerichtes zu,« erwiderte der Bürgermeister, »und in Volkes Mund heißt er Otto der Milde.«

»Euch wäre wohl lieber, wenn er Otto der Strenge hieße, Herr Bürgermeister?« sprach die Äbtissin höhnisch. »Nun, auch ich habe Sitz und Stimme im Fürstengericht. Also auf Wiedersehen unter dem hohen Baume, wohlweise Herren!«

Und wütend wandte sie den beiden den Rücken.

Da wäre jedes weitere Wort verloren gewesen. Das Fürstengericht war angerufen; seinem Spruche konnte man nicht vorgreifen. Vor allem kam es darauf an, ein Todesurteil über Albrecht zu verhüten. Blieb er am Leben, wenn auch in Haft, so blieb auch seine Befreiung, sei es früher oder später, sei es durch List, Bestechung oder Gewalt, immerhin eine Möglichkeit, in deren Voraussucht Jutta ihre Hoffnung unter anderm auch auf das schnelle Umschlagen der Gunst oder Ungunst des gemeinen Volkes baute. –

Am andern Tage, zu der Stunde, da man Siegfried in der Reihe seiner Ahnen zur Ruhe bestatten wollte, hielt die Äbtissin mit Adelheid und Oda, dem Stiftshauptmann und dem Stiftsschreiber nebst einigen Knechten, sämtlich zu Pferd, auf einer Waldblöße unter dem Regenstein, auf den man die Leiche inzwischen gebracht hatte. Jutta sah nicht aus wie eine Leidtragende; sie schoß zuweilen einen beobachtenden Blick auf Oda, war unstet und zerstreut, und ihre drei Begleiter, die sie schon länger kannten, schlossen aus ihrem Wesen und Gebaren, daß sie etwas Besonderes vorhaben mußte. Bald kam der Zug langsam den Burgweg daher, und die Wartenden stiegen ab, um sich zu Fuß anzuschließen.

Acht Gepanzerte aus der Zahl derer, die jenes todbringende Reitergefecht überstanden hatten, trugen den bekränzten Sarg, hinter welchem zunächst Ritter Bock von Schlanstedt zwischen zwei Reisigen mit Siegfrieds Helm, Schild und Schwert einherschritt; ihnen folgte der Waffenmeister Klinkhard, Siegfrieds Roß am Zügel führend. Dahinter gingen die Brüder Bernhard mit seiner Gemahlin Reginhild, Ulrich, der aus Hildesheim gekommen war, Poppo und Günther; sie nahmen nun die drei Damen in die Mitte, und Willekin von Herrkestorf schloß sich mit Florencius ihnen an. Reisige und Knechte in Wehr und Waffen machten den Schluß.

So trugen und geleiteten sie den toten Heldenjüngling im hellen Sonnenschein durch den herbstlich buntgefärbten Wald, den er unzählige Male zu Fuß und zu Roß durchstreifte, mit Armbrust und Jagdspieß durchbirscht und an Odas Seite fröhlich durchwandelt hatte.

An der Biegung des Weges stand der weißbärtige Abt von Michaelstein mit seinen Mönchen, und aus dem stillen Tale hallte in langsamen Schlägen der Klang der Klosterglocke. Die Mönche schritten nun unter Anstimmung eines feierlichen Sterbegesanges dem Zuge voran nach dem Kloster und bis vor die offene Gruft in der Mauer des breiten Kreuzganges. Dort setzten die Reisigen den Sarg nieder, der Abt sprach tief empfundene und tief ergreifende Worte, und dann vertrauten sie unter lauten Gebeten, unter Litaneien und Responsorien die sterbliche Hülle der geweihten Stätte ewigen Friedens.

Die Trauernden knieten zu einer stillen Andacht am Grabe nieder und erhoben sich dann, um den Mönchen und einigen Werkleuten zur Schließung desselben Raum zu geben.

Dieser Augenblick war die von der Äbtissin ausersehene Gelegenheit, Oda auf die Probe zu stellen. Wie von einer plötzlichen Eingebung erleuchtet, wandte sie sich an die von aufrichtigem Schmerz Gebeugte und sprach mit einem feierlich sanften Tone, doch so, daß die Umstehenden es hören mußten: »Gräfin Oda! was wir alle wissen, brauchen wir jetzt und hier nicht mehr zu verschweigen. Mehr als alle Lebenden habt Ihr in diesem edlen Toten verloren. Wir andern nahmen hier von einem Bruder und Freunde den letzten Abschied, Ihr aber habt mit ihm Eure Liebe begraben. Gewiß habt Ihr schon in Eurem stillen Gebet dem Andenken des Geliebten Eure Seele geweiht, aber laßt dem Toten zu Ehren uns Zeuge sein von Eurem hohen Gelübde, niemals einem anderen Manne anzugehören, nachdem der dahingegangen ist, dessen Herz Euch und dem Euer Herz zu eigen war.«

Wie unter den Bissen einer Schlange, die sich aus den Kränzen an Siegfrieds Grab hervorwand, hatte Odas Herz bei den verfänglichen Worten der Äbtissin gezuckt, und im Innersten empört über diese Tücke, deren Ausfluß und Ziel sie wohl erkannte, wollte Oda schon der Arglistigen den letzten Wunsch Siegfrieds, den er ihr beim Abschied auf dem Schloßberge zu Quedlinburg wie ein Vermächtnis auf die Seele gebunden hatte, ins Angesicht schleudern. Aber eine unbestimmte, ahnungsvolle Scheu und Reginhilds stumme ängstlich abratende Erwiderung ihres hilfesuchenden Blickes hielt sie davon zurück, und die Hand auf den stürmenden Busen gepreßt, antwortete sie mit bebender Stimme: »Was ich mir und dem Toten gelobt habe, das weiß nur Gott, soll nur Gott wissen.«

Aber damit gab sich die Äbtissin nicht zufrieden; das konnte alles und nichts sein von dem, was sie verlangte. Ihre Absicht verfolgend sprach sie eindringlich: »Was Gott wohlgefällig ist, soll es auch den Menschen sein, und warum sollen wir nicht wissen, was Ihr Euch gelobt habt, wir, die wir Euch dabei zu Hilfe und Trost gereichen können?«

Oda kämpfte, ob sie reden oder schweigen sollte.

Da trat der greise Abt vor und sprach mit mildem Ernste zur Äbtissin: »Was ein demütig trauernd Herz mit seinem Gotte abzumachen hat, ist ein heilig Geheimnis, da hinein soll sich keines Menschen Fürwitz und irdisch Begehren drängen. Das Fräulein tut recht, wenn es uns sein brünstig Gebet verschweigt. Euch aber bitt' ich, gnädige Domina, störet nicht die Ruhe der Toten!«

Die Äbtissin, im Unmut, nicht zu ihrem Ziele gelangen zu sollen, und durch die Zurechtweisung des Abtes gereizt, entgegnete herrisch: »Hochwürdiger Abt, eben für die Ruhe des Toten erwarten wir von unserer Konventualin dieses Gelübde als ein Opfer, das sie ihm schuldig ist, weil er um ihretwillen aus dem Leben schied.«

Jutta wußte nicht, was sie mit diesen bitteren Worten sagte. Sie meinte, daß die Quedlinburger Fehde, in der Siegfried seinen Tod gefunden, nur eine Folge von Odas Gefangenhaltung auf dem Regenstein gewesen wäre, aber Oda verstand es anders. Für sie lag in den Worten der Äbtissin die Behauptung, daß er in der Verzweiflung verschmähter Liebe den Tod gesucht hätte. Sie hatte sich immer noch mit aller Macht dagegen gesträubt, seine Abschiedsworte so zu deuten, aber nun – an seinem Grabe, vor seinen Brüdern und vielen anderen Zeugen ihr laut und schonungslos vorgehalten – ward es ihr zur schrecklichen Gewißheit und mahnte sie wie eine Blutschuld, die als Sühne den Verzicht auf alles Glück der Zukunft von ihr fordern durfte.

Schon wollte sie wankend zur offenen Gruft schreiten, um das Gelübde abzulegen, als Reginhild, die Odas wahre Liebe kannte, herzusprang, sie mit Armen umfing und ausrief: »Kein Gelübde, Oda! ich beschwöre dich! ich kenne dein Herz, und Gott kennt es; ihm vertraue dein Schicksal!«

In ihren Armen führte sie die nicht Widerstrebende den Kreuzgang entlang mit sich fort; aber in dem Blicke, den Jutta ihr nachsandte, war alles Gift ohnmächtiger Wut und unversöhnlicher Feindschaft gemischt.

Einer atmete auf, der mit Schrecken den Schwur der Entsagung von Odas Lippen zu hören gebangt hatte – Bock von Schlanstedt. Mehr als Reginhild wußte er, aber das Wort eines Sterbenden hielt seine Zunge gebunden.


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