Julius Wolff
Der Raubgraf
Julius Wolff

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Sechzehntes Kapitel.

Als der Stiftshauptmann, den der Befehl der Äbtissin nicht in seiner Behausung angetroffen hatte, endlich auf dem Schlosse erschien, fand er die Insassen desselben in großer Erregung. Auf dem Hofe, auf Treppen und Gängen begegnete er bestürzten Gesichtern, und oben in einer der Vorhallen traf er die Pröpstin und die Dekanissin, umringt von einigen jüngeren Konventualinnen, in heftigem, halblaut geführtem Meinungsaustausch; aber sie konnten ihm nicht sagen, was eigentlich vorgefallen war.

Der Besuch des Grafen Albrecht von Regenstein zu ungewöhnlich früher Stunde, sein langes Bleiben und noch mehr sein ungestümes Weggehen war im Schlosse aufgefallen. Man hatte die Kammerfrau der Äbtissin ausgeforscht und war so lange in den Stiftsschreiber Florencius gedrungen, bis er gestand, daß er einen Lehensbrief für den Grafen über die Lauenburg hätte ausstellen und der Domina zur Unterschrift bringen müssen. Die Kammerfrau, die zögernd bekannte, daß sie gehorcht hatte, berichtete von einem heftigen Streit der Äbtissin mit dem Grafen, aber nur einzelne Sätze und abgerissene Worte, meist aus dem Munde der gnädigen Frau, wollte sie verstanden haben; Worte wie »schmachvoll« und »nicht ritterlich«, und die heftige Frage: »Wo ist Oda?« wollte sie deutlich gehört haben. Dann hatte sie, als die Äbtissin ihr geklingelt, ein zerrissenes Pergament auf dem Teppich liegen sehen, woraus man schloß, daß Graf Albrecht den Lehensbrief im Zorne zerrissen habe, ohne einen stichhaltigen Grund dafür finden zu können.

So auf das Rätselhafteste vorbereitet betrat Herr Willekin das Gemach der Unnahbaren, die sich jeden anderen Besuch verbeten hatte.

Er fand die Äbtissin noch in heller Zornglut, und in dieser Stimmung teilte sie ihm mit, daß Graf Albrecht diese Nacht die Lauenburg mit Gewalt genommen und dort seinen Bruder Siegfried als Burgvogt eingesetzt hätte. Herr Willekin sollte ihr nun raten, was zu tun sei. Die Ausstellung des Lehensbriefes verschwieg sie dem Stiftshauptmann, wie sie auch jede Spur der vernichteten Urkunde beseitigt hatte, so daß er geneigt war, an den Aussagen des Schreibers und der Kammerfrau zu zweifeln.

Aber gerade hierüber die Wahrheit zu wissen, kam es ihm vor allem an, zu wissen, ob die Äbtissin wirklich gesonnen sei, dem schon übermächtigen, verhaßten Schirmvogt die schöne Burg zu übergeben, auf deren Lehensbesitz sich Rat und Bürgerschaft von Quedlinburg starke Hoffnung machten.

»Gnädigste Frau,« begann er nach kurzer Überlegung, »erlaubt mir vorerst eine Frage. Wollt Ihr die Burg überhaupt nicht in den Händen der Regensteiner lassen, oder ist es Euch lediglich um einen anderen Burgvogt zu tun?«

Diese Frage setzte die Äbtissin in große Verlegenheit, denn sie traf den innersten Kern ihres Zornes und berührte die brennende Wunde ihres Herzens. Mißtrauisch blickte sie ihren Kanzler an. Die Vollziehung des Lehensbriefes war eine nicht zu leugnende Tatsache und bezeugte die Absicht der Äbtissin, die Lauenburg den Regensteinern zu übergeben. Dazu mußte sie sich also wohl oder übel bekennen, und sie blieb bei der vollen Wahrheit, als sie erwiderte: Ich hatte allerdings die Absicht, den Grafen Albrecht mit der Burg zu belehnen. Da er sie aber ohne meinen Dank mit List und Gewalt genommen, so will ich sie ihm jetzt nicht lassen, sondern mich eines andern besinnen. Ich verlange die Burg in meine Hand zurück.«

Der Stiftshauptmann deutete an, daß sich Bürgermeister und Rat von Quedlinburg trotz der letzthin eingetretenen Störung des einst so guten Verhältnisses zur gnädigen Frau wohl bereit finden lassen würden, die Burg den Regensteinern mit Waffengewalt wieder abzunehmen, wenn sie hoffen könnten, dann auch mit derselben belehnt zu werden. Aber die Stadt allein wäre dem Grafen gegenüber nicht stark genug, dazu bedürfe sie mächtiger Bundesgenossen.

Ob die denn nicht zu finden wären, frug die Äbtissin.

»Ich wüßte wohl einen,« erwiderte Herr Willekin, »aber den habt Ihr Euch selber zum Feinde gemacht, gnädige Frau!«

»Der Bischof von Halberstadt,« sagte sie schnell.

Der Stiftshauptmann nickte.

»O, es kostet mich ein Wort, und er ist wieder mein Freund,« versetzte die Äbtissin.

»Meint Ihr?« frug Herr Willekin aufhorchend und erfreut. »Habt Ihr noch eine andere Klage wider den Grafen, wobei der Bischof sich einzumischen ein Recht hätte?«

»Gewiß!« erwiderte Jutta. »Er hält die Gräfin Oda von Falkenstein auf dem Regenstein gefangen, die ihr Bruder, Graf Hoyer, zur Konventualin unseres Stiftes bestimmt und mit einer reichen Jahresrente ausgestattet hierher entsandt hatte. Graf Albrecht verweigert mir ihre Auslieferung, die ich mit Fug und Recht verlangen kann.«

»Ich weiß es,« sprach der Stiftshauptmann, »auch der Bischof hat schon darauf gedrungen.«

»Er hat seine eigenen Gründe,« sagte die Äbtissin, »aber ich könnte ihn als Schiedsrichter in der Sache anrufen, und durch ihn ließe sich vielleicht auf den Grafen Hoyer wirken, daß er gemeinschaftlich mit mir die Befreiung der Schwester forderte, und somit hätten wir ihn zum Bundesgenossen.«

»Auch Graf Albrecht hat Freunde,« mahnte der Stiftshauptmann, »den Mansfelder und die Harzgrafen im Helmgau. Das könnte eine Fehde geben, gnädigste Fürstin, die das Land ringsum in einen einzigen Brand versetzte.«

»Mag es doch! ich verlange mein Recht!« rief Jutta, von Leidenschaft hingerissen. »Glaubt Ihr, daß Graf Albrecht die Burg freiwillig räumt? Nehmt sie ihm ab, ihr Herren Quedlinburger! Bringt sie wieder in meine Gewalt, schafft mir auch meine Konventualin Oda von Falkenstein hier aufs Schloß, und ihr sollt die Lauenburg als Lehen haben!«

»Laßt mich's mit meinen Freunden im Rate bereden, gnädige Frau,« sagte der Stiftshauptmann und nahm rasch Urlaub, ehe die Unbeständige dieses wichtige Versprechen im weiteren Verlauf des Gesprächs etwa wieder rückgängig machen oder abschwächen konnte.

In der Vorhalle, weit genug vom Zimmer der Äbtissin, warteten seiner die Pröpstin und die Dekanissin, aber ohne die jüngeren Damen, und er mußte ihnen in Kürze erklären, was es gegeben hatte. Sie rangen die Hände ob der Untat, und wenn dem Grafen jetzt die Ohren klangen, so war es nicht, weil jemand sein Lob sang.

Die Treppe hinabsteigend sprach Herr Willekin zu sich selber: »Soll mich nur wundern, wie lange der Sturm brausen wird! Käme morgen Graf Albrecht zur Domina und gäbe ihr ein gutes Wort, so schenkte sie ihm die Lauenburg, von unten bis oben mir Rosen bekränzt. Den Siegfried will sie von der Burg weg und die Gräfin Oda zu sich ins Schloß hinein haben, und darum Krieg und Mord und Totschlag! Was steckt dahinter?«

Des Stiftshauptmanns Wohnung war ein großer Freihof auf dem Mummentale, einem etwas versteckt gelegenen Winkel der Stadt mit weitläufigem Gehöft und Garten, an dem ein Arm der Bode vorüberfloß. Hierher lud er seine Vertrautesten im Rate, unter denen sich auch der erste Bürgermeister befand, zu einem Vespertrunk und weihte sie in das Vorgefallene rückhaltlos ein.

Mit Genugtuung vernahmen die fünf oder sechs Herren die Kunde von dem Zerwürfnis des Grafen mit der Äbtissin, die nun hoffentlich aufhören würde, überall vermittelnd und fördernd, seine Macht stärkend für ihn zu wirken, wie sie dies bisher stets, auch dem Rate gegenüber und zum Nachteil der Stadt getan hätte. Groß war ihre Entrüstung über die gewaltsame Besetzung der Lauenburg durch die Regensteiner, ziemlich schwach dagegen die Aussicht, die Bedingungen der Äbtissin erfüllen zu können, unter welchen sie die Burg der Stadt zu Lehen versprochen hatte. Die Burg zu erstürmen und den ihrer gnädigen Frau mißliebigen Burgvogt daraus zu vertreiben, möchte ihnen wohl gelingen; wie aber wollten sie es fertig bringen, von dem uneinnehmbaren Regenstein eine Gefangene zu entführen, die der kriegstüchtige Graf halten wollte und verteidigen würde? Indes der Preis war ein zu lockender, und mit mächtigen Bundesgenossen und dem Einsatze aller Kraft und Opferwilligkeit der eigenen Bürger dünkte es die Herren vom Rate nicht unmöglich, die Fehde mit dem Grafen siegreich zu bestehen. Und wozu hatten sie denn das Schutz- und Trutzbündnis mit dem Bischof von Halberstadt geschlossen? Wie nie zuvor winkte ihnen jetzt die Hoffnung, das ihnen längst widerwärtige Joch der Schutzvogtei abzuschütteln und als unabhängige, ohne Bevormundung sich selbst regierende Bürgerschaft einer reichsunmittelbaren Stadt, Mitglied des großen Hansabundes, stolz und frei das Haupt zu erheben.

Die hier bei dem feurigen Weine des Stiftshauptmannes in einer schattigen Laube Versammelten waren willig und entschieden, den Kampf mit dem Regensteiner unter gewissen Voraussetzungen zu wagen. Morgen schon, bestimmten sie, sollte deswegen eine Sitzung des Rates stattfinden, und jeder einzelne übernahm es, durch hingeworfene Äußerungen und vorbereitende Winke die Bürger anzustacheln und besonders die Handwerksgilden zu gewinnen.

Danach tranken die Herren auf das gute Gelingen ihrer Pläne und schieden dankbar und froh von ihrem großgünstigen Freunde.

An demselben Abend schon wußten sämtliche Ratsherren genau und viele Bürger ungefähr, was sich ereignet hatte, und in den Trinkstuben ging es lebhaft her. Unbestimmte Gerüchte, das Geschehene sowohl wie das nun Bevorstehende uns Abenteuerliche übertreibend, durchschwirrten die Stadt und versetzten die Gemüter in Zweifel und Unruhe.

Die Ratssitzung fand am andern Morgen wirklich statt. Es fielen böse Worte gegen den Regensteiner und auch ein paar kleine Seitenhiebe auf die Äbtissin wegen ihrer starken Parteinahme für den Grafen wider die Stadt. Aber man wollte das vergessen sein lassen und mit der Domina Frieden und gemeinschaftliche Sache machen, um bei der Gelegenheit Großes für die Stadt zu erreichen. Wenn nun auch einige der ältesten Ratsherren zu dem kühnen Unterfangen, dem mächtigen Schirmvogt der Stadt absagen zu wollen, bedenklich die greisen Häupter schüttelten und ihre warnende Stimme dagegen erhoben, so drangen sie doch gegen die Kampflust und die Siegeszuversicht der Mehrzahl nicht damit durch. Sie hätten lange genug den Nacken gebeugt, hieß es; Quedlinburg wäre kein hintersässisch Burgdorf, sondern eine seit König Heinrichs Tagen hoch angesehene, immer stärker befestigte, immer reicher emporblühende Stadt mit eigener Münze, mit Zoll und Marktrecht, das bezeugte ihr geharnischter Mann, der Roland auf dem Markte, der ihnen auch die bisher vom Grafen immer noch versagte Hegung des Blutbannes verhieß. Hier hätten Kaiser gewohnt und Reichstage gehalten, die Heinriche, die Ottonen, Barbarossa und Philipp von Schwaben, und nun sollten sie sich von einem Raubgrafen schuriegeln und brandschatzen lassen? Nimmermehr! Das müßte ein Ende nehmen. Sie stünden ihrer Nachbarin Halberstadt in nichts nach, und die wäre glücklich und zufrieden unter dem Krummstab ihres klugen Bischofs. Auch die Stadt Aschersleben führten sie als Beispiel an, die erst ganz kürzlich, allerdings durch eine kleine Überrumpelung, bischöflich geworden, aber auch sofort mit wichtigen Privilegien ihres neuen Herren begnadet worden wäre. Sie wollten gern, soweit es sich mit städtischer Freiheit vertrüge, ihrer gnädigen Frau hold und untertänig bleiben, wie sie geschworen, aber vor der Schutzvogtei des Regensteiners wollten sie sich fürderhin wohl bedanken.

So klang es aus den Reden der Kauf- und Geschlechterherren auf der Ratsbank, und dabei schielten sie alle nach der Lauenburg, denn alle wünschten, daß die Stadt eine ritterliche Burg besäße oder auch nur zu Lehen trüge.

Glücklicherweise hatte der Bürgermeister Einsicht und Einfluß genug, um die erregte Versammlung von übereilten Beschlüssen und waghalsigen Schritten zurückzuhalten. Er erinnerte die Hitzköpfe im Kollegium daran, daß die Lauenburg Eigentum des Stiftes wäre, daß man sie also nicht wider Willen und Erlaubnis ihrer Lehensherrin stürmen und besetzen könnte, ohne sich desselben Frevels schuldig zu machen wie der Graf von Regenstein.

Darauf wurde denn der vorsichtige Beschluß gefaßt, die gnädige Frau um die Erlaubnis zur Erstürmung der Burg anzugehen, den Bischof von Halberstadt um einen namhaften Zuzug von reisigem Volk zu Fuß und zu Roß zu ersuchen, sich überhaupt nach städtischen und ritterlichen Bundesgenossen umzutun und erst, wenn dies alles geordnet und geglückt wäre, dem Grafen Albrecht den Handschuh hinzuwerfen.

Damit schloß die Sitzung, die zwar eine geheime gewesen war, deren Gegenstand und Ergebnis man aber mit Absicht unter der Bürgerschaft verbreitete.

Die ganze Stadt geriet darüber in Aufregung; die Friedliebenden erschraken, die Mutigen, Ehrgeizigen, für Freiheit Schwärmenden frohlockten und hätten am liebsten gleich zu Spieß und Kolben gegriffen, um die Lauenburg zu stürmen. Es dem Raubgrafen einzutränken, sich am Raubgrafen für jede zugefügte Unbill, jedes weggetriebene Stück Vieh, jede auferlegte Buße und all seine eiserne Strenge zu rächen, seine Burgen zu brechen, ihm die Tore der Stadt für ewige Zeiten zu verschließen, war ihr aller Wunsch und brennendes Verlangen. Der Name des Raubgrafen klang auf allen Gassen mit einer Schadenfreude, als hätten sie den Feind schon gehangen, ehe sie ihn hatten.

Den nächsten Tag hielten die Gilden Morgensprache und einigten sich darüber, dem Rate Wehr und Waffen, Gut und Blut ihrer Werkbrüder zur Verfügung zu stellen und ihn zur schleunigen Eröffnung der Feindseligkeiten aufzufordern.

Das hatten die hochedeln, wohlweisen Herren auf dem Rathause gerade gewollt. Nun, unter dem Drucke des einmütigen Willens ihrer Bürgerschaft, konnten sie zur Äbtissin gehen, ihr die allgemein geforderte Lossagung der Stadt vom Grafen Albrecht als Schirmvogt anzuzeigen und ihre Zustimmung zur Einnahme der Lauenburg erbitten. Daß sie ihr auch die gefangene Konventualin, Graf Albrecht von Falkenstein, von dem felsenhohen Regenstein herunterholen und aufs Schloß bringen sollten, hatten ihnen die Vertrauten des Stiftshauptmanns freilich noch nicht gesagt.

Herr Willekin von Herrkestorf ließ sich in diesen zwei Tagen auf dem Schlosse nicht sehen, aber die Pröpstin Kunigunde von Woldenberg wußte in Erfahrung zu bringen, was sich unten in der Stadt zutrug, und ermangelte nicht, er Äbtissin diese Vorgänge in den lebhaftesten Farben zu schildern. Die letztere hatte sich anfänglich gesträubt, eine ihrer Dignitarien zu empfangen, allein die Pröpstin hatte sich mit anerkennenswerter Beharrlichkeit von den wiederholten Abweisungen der Domina nicht abschrecken lassen und war endlich zu ihr gedrungen, angeblich, um ihr in der schwierigen Lage mit Trost und Rat zur Seite zu stehen, in Wahrheit aber, um ihre Stimmung zu erforschen und sie gegen den Grafen aufzuhetzen.

Jutta hatte schwache Stunden, in denen ihr Groll auf Albrecht in eine trübsinnige Schwermut, ja in eine dann und wann schon wieder aufsteigende Sehnsucht nach ihm zu versinken drohte. Da mußte, um die Glut des Zornes nicht verlöschen zu lassen, ein wenig nachgelegt und geschürt werden, und auf dieses Geschäft verstand sich die Pröpstin. Ihr Trost bestand darin, daß sie scheinbar den Grafen zu entschuldigen suchte, aber sie tat dies in einer Weise, die die Äbtissin nur noch empfindlicher an die ihr zugefügte Kränkung erinnerte. Daran knüpfte sie erst sanftere, dann schärfere Rügen, die in dem Vorwurf gipfelten: »Warum seid Ihr nicht meinem Rat gefolgt?!«

Darauf hatte Jutta nur ein ungeduldiges Achselzucken zur Antwort.

Weiter hieß es dann: »Ich habe es immer gesagt, Ihr verwöhnt und verzieht den Übermütigen. Er ist Euch über den Kopf gewachsen und nimmt sich Dinge gegen Euch heraus, die ihm nicht zukommen, und die Ihr Euch nicht von ihm gefallen lassen solltet.«

Und die Scheltende wußte noch nicht einmal, was sich die Gescholtene zuletzt von dem Grafen hatte gefallen lassen müssen.

»Wer schützt Euch nun vor dem Gewalttätigen?« fuhr Kunigunde fort. »Mit dem Bischof, dem einzigen, der ihm Widerpart halten könnte, habt Ihr es verdorben, weil Ihr nicht zu seiner Konsekration gegangen seid, so sehr ich es Euch auch riet, Euch darum bat. Das habt Ihr nun von Eurer Nachgiebigkeit gegen den Grafen, dem allein zuliebe – o ich habe es wohl gemerkt, wenn Ihr auch jetzt noch so sehr den Kopf schüttelt! – dem allein zuliebe Ihr die Einladung ablehntet, weil ihn der Bischof ein wenig auf den Fuß getreten hatte. Nur um Eures lieben, großen, edlen Grafen willen bliebt Ihr zu Hause; und was ist der Dank? – Daß er tut, was er will und Euch auslacht!«

Die Äbtissin zuckte jäh zusammen bei diesen Worten, denn sie enthielten eine grausame Wahrheit. Hohnlachend war der Graf von ihr gegangen; er hatte die Lauenburg in seiner Gewalt, und sie das Brandmal seines Kusses auf ihrer Stirn. Sie biß die Lippen aufeinander; stieren Blickes bohrten sich ihre Augen auf den Teppich zu ihren Füßen. Denn sie mußte schweigen zu alledem, was die scharfzüngige Pröpstin ihr schonungslos vorhielt; sie, die Fürstin, mußte sich auszanken lassen wie ein törichtes Kind, und das um seinetwillen, um dessentwillen, mit dem sie es so gut gemeint hatte. O, auch das, auch das sollte er ihr büßen!

Wenn sie aber wieder lange Stunden allein war und die Dämmerung herabsank, so wollte sie kein Licht haben und saß in Gedanken verloren. Und dann stieg aus dem Dunkel die leuchtende Gestalt, das glänzende Bild Albrechts vor ihrem inneren Blicke auf, daß sie verlangend fast die Arme nach ihm ausstreckte, ihm alles verzieh, ihm alles gönnte und gewährte. Selbst die Erinnerung an seine unerhörte Kühnheit jüngst beim Abschied war ihr dann nicht unlieb. Ein süßer Schauer durchrieselte sie, wenn sie daran dachte, wie sie drei Atemzüge lang an der Brust des geliebten Mannes gelegen und seinen Mund auf ihrer Stirn gefühlt hatte. Aber dahinein klangen wieder schrill sein Hohnlachen beim Fortgehen und rief ihr ins Gedächtnis zurück, daß Siegfried auf der Lauenburg hauste, und daß Oda mit Albrecht allein auf dem Regenstein war, und da die beiden vielleicht Arm in Arm die Einsame hier auf dem Schloß zu Quedlinburg verlachten. Dann kamen Grimm und Groll zurück und umpanzerten ihr die Brust gegen die Schwachheit weicher Gefühle.

Aber Kunigunde sorgte schon dafür, daß die Äbtissin nicht zuviel allein war, und mehr als einmal wiederholte sich in den paar Tagen derselbe Auftritt. Die Pröpstin sang ihr Lied in demselben Takte und nach derselben Melodie immer wieder von vorne, und ihr verschrumpftes Gesicht drückte dabei mit großer Beweglichkeit der Mienen ihre Unzufriedenheit mit der tadelnswerten Domina und den höchsten Grad der Entrüstung über den Grafen Albrecht aus. Sie schloß ihren Sermon stets mit der Mahnung, daß die Äbtissin sich selber, dem Kapitel und dem Stifte die strenge Aufrechterhaltung ihrer Hoheitsrechte schuldig sei und diese ihrer einstigen Nachfolgerin ebenso unversehrt überliefern müsse, wie sie ihr von ihren Vorgängerinnen überkommen seien.

Gerade zur Stunde einer solchen Heimsuchung aber war es, als Herr Willekin von Herrkestorf sich bei der Äbtissin melden ließ und von ihr für den ersten Bürgermeister und zwei Ratsherren der Stadt, die schon in der Vorhalle ihres Empfanges harrten, eine Audienz erbat.

Die Äbtissin winkte dem Stiftshauptmann Gewährung und fand schnell mit der ihr eigenen Willenskraft Sammlung und Selbstbeherrschung genug, den Abgesandten des Rates mit fürstlichem Anstand freundlich entgegenzutreten und sie mit Klarheit des Verständnisses und der Überlegung anzuhören.

Der Bürgermeister Nikolaus von Bekheim und die Ratsherren Werner Scheerenschmid und Henning Wollrabe begrüßten sie mit tiefen Verbeugungen, und der Bürgermeister trug der Äbtissin nach einer kurzen Schilderung der städtischen Verhältnisse die Absicht des Rates vor, mit ihrer Genehmigung die Lauenburg zu erobern und sich von der Schutzvogtei des Grafen von Regenstein lossagen zu wollen.

Damit war Jutta zum erstenmal in ihrem Leben vor eine schwere Entscheidung gestellt.

Als sie das, was sie zum Teil selber heimlich gesonnen und gesponnen, nun aus fremdem Munde, aus dem Munde eines beherzten und bedächtigen Mannes hörte, überkam sie das Gefühl, als würde ihr eine ungeheure Verantwortlichkeit auf die Seele gewälzt. Ihre Wutgedanken, ihre Rachepläne, ihre und Kunigundes Zornergüsse dünkten sie jetzt, angesichts der wie ein Schreckgespenst vor ihr auftauchenden Wirklichkeit, die Taten mit unabsehbaren Folgen gebären sollte, ein eitles, vermessenes Spiel mit drohenden Gefahren. Wie aus einem Taumel oder aus einem traumerfüllten Schlaf am schwindelnden Rande eines Abgrundes aufwachend, erschrak sie; Vergangenes, Gegenwärtiges und Künftiges drängte sich durcheinanderwirbelnd in einen Augenblick zusammen; mit plötzlich zurückgekehrter, nüchterner Besinnung sah sie jetzt alles in einem anderen Lichte und wußte doch nicht aus noch ein. Suchend und wägend schaute sie bald den einen, bald den andern dieser ernsten Männer an, deren Blick erwartungsvoll an ihren Lippen hingen, und aus deren Mienen eine harte Entschlossenheit sprach.

Nikolaus von Bekheim war ein stattlicher Herr mit großen, lebhaften Augen in einem schönen, bedeutenden Kopfe; seine straffe Haltung, Bewegung und Stimme verrieten bei aller Würde und Gemessenheit geistige Kraft und körperliche Rüstigkeit, mit denen sein volles weißes Haar in einem auffallenden Widerspruche stand. Werner Scheerenschmid mit seiner schlanken Gestalt und seinem scharfen, von dunklem, kurz gehaltenem Haar umrahmten Gesicht machte den Eindruck eines Mannes von vornehmer Zurückhaltung und berechnender Verschlagenheit. Henning Wollrabe trug einen echten Sachsenkopf auf seinen breiten Schultern, blond und blühend und von hohem, kräftigem Wuchs, hatte er etwas heiter Unerschrockenes und Kriegerisches, gepaart mit einer ruhigen Sicherheit in seinem Wesen. Auch er war aus altem Stadtgeschlecht, aber mehr als anderen Vorzügen verdankte er seinem Reichtum den Sitz im Rate.

Diesen Männern gegenüber, die eine starkbewehrte Stadt, eine nach Unabhängigkeit strebende und obenein jetzt trotzig erregte Bürgerschaft vertraten, war die Äbtissin allerdings in einer sehr bedenklichen Lage. Bewilligte sie das Verlangen des Rates, so gab sie damit den Ausschlag und das Zeichen zum Anfang eines blutigen Kampfes, dessen Gang und Ende sie nicht in ihrer Macht hatte, und wies sie das Ansinnen zurück, so lief sie Gefahr, daß Rat und Bürgerschaft die Fehde mit dem Grafen auch ohne ihre Genehmigung begannen, was einer Nichtachtung ihrer Wünsche und Befehle und einer Auflehnung gegen ihre Lehenshoheit gleichkam.

Das alles fuhr ihr durch den sorgenschweren Sinn; aber mit bewundernswerter Fassung und herzgewinnender Huld, der es doch keineswegs an der nötigen Festigkeit fehlte, sprach sie: »Hochedle, wohlweise Herren! Laßt uns mit gutem Willen freundlich übereinkommen, wie wir die Sache nach bestem Meinen und Können ehestens schlichten. Wir möchten unsere gute Stadt Quedlinburg um unserer Feste Lauenburg willen nicht gern in Unfrieden und Streit verwickeln und können unmöglich unsere Zustimmung geben, daß Ihr gegen den Schirmvogt des Stiftes und der Stadt in den Kampf geht. Wir wissen wohl, auch Ihr führet diese und jene Klage über den Grafen, wünschet Erleichterung oder Befreiung von dieser und jener Last der Schutzvogtei, worin wir Euch, unbeschadet unserer fürst-abteilichen Hoheitsrechte, nicht zuwider sein wollen. Ich stehe hier zwischen der Stadt und unserem edlen Schirmvogte, möchte gern jedem Teile Billigkeit und Gerechtigkeit angedeihen lassen nach Weichbildsrecht und nach Vogtsrecht, wie es von alters her in unseren hohen deutschen Landen und insonderheit in unserem reichsunmittelbaren und freiweltlichen Hochstifte gehalten und gehandhabt ist. Weil ich mir aber allein hierin keinen Rat weiß und es zu des Kaisers Majestät zu weit und mühsam ist, so will ich den hochwürdigsten Bischof von Halberstadt um seine Meinung befragen und sodann befinden und entscheiden.«

Das lautete nun freilich anders, als sie neulich in der Leidenschaft des ersten Zornes ihrem vertrauten Kanzler gesagt hatte. Aber sie dachte jetzt auch anders, und mit dieser Auskunft behielt sie das Heft in der Hand und blieb vorläufig noch Herrin der Lage. Sie hoffte mit diesem Schritte sowohl einen größeren Einfluß auf den Rat der Stadt zu gewinnen wie einen Druck auf den Grafen Albrecht zur Erfüllung ihrer geheimsten Wünsche ausüben zu können.

Die Abgesandten des Rates waren mit dem erhaltenen Bescheid nicht zufrieden und nicht unzufrieden. Sie hatten nach den Mitteilungen des Stiftshauptmannes anderes erwartet; aber daß sich die Äbtissin selber dazu erbot, den Bischof, den heimlichen Verbündeten der Stadt und heftigsten Gegner des Grafen, als Schiedsrichter anzurufen, ging über ihr Hoffen hinaus, denn von seinem Eingreifen versahen sie sich des günstigsten Erfolges.

Ebenso dachte der Stiftshauptmann. Er gab der unruhig zappelnden Pröpstin, aus deren in allen Falten und Winkeln zuckendem Gesicht er die gefährliche Absicht las, sich mit herausplatzendem Eifer einzumischen, schnell einen verstohlenen Wink, um Gottes willen zu schweigen, was sie denn auch glücklicherweise tat.

»Dürfen wir, hochachtbare Fürstin, Euren gnädigen Bescheid gemeiner Bürgerschaft kundgeben?« frug Herr Nikolaus von Bekheim.

»Gewiß, Herr Bürgermeister!« erwiderte die Äbtissin, »sagt es Euren klugen und ehrhaftigen Leuten, den Ratmannen, Innungsmeistern und gemeinen Bürgern, unseren lieben Freunden.«

»Und wollt Ihr uns nachher auch wissen lassen, welchen Rat Euch der hochwürdigste Bischof erteilt hat, gnädige Frau?« frug Herr Werner Scheerenschmid mit einem scharf prüfenden Blick in die leuchtenden Augen der Äbtissin.

»Wir werden Euch über unsere Entschließungen nicht im ungewissen lassen, Herr Ratsherr!« entgegnete sie geschmeidig ausweichend. »Mein fürstlich Wort, Ihr Herren! morgen nach dem Hochmahl reite ich hinüber nach Halberstadt. Ihr wollt mich begleiten, Herr Stiftshauptmann! und Euch, Herr Bürgermeister, ersuch' ich um ein Fähnlein berittener Stadtknechte zu Schirm und Sicherheit.«

»Sie stehen zu jeder Stunde zu Euren Diensten, gnädige Frau!« sprach das würdige Oberhaupt der Stadt.

»Gnädige Domina,« sagte nun Henning Wollrabe treuherzig, »wir stehen mit Gut und Blut zu Euch und wollen Euch allerwege schützen und schirmen, daß Ihr sanft und sorglos in Eurem jungfräulichen Bette schlafen könnt!«

»Ich danke Euch, Herr Henning!« erwiderte Jutta lächelnd, »nehmt meinen Gruß mit hinab und meine besten Wünsche für das Wohl unserer guten Stadt Quedlinburg!«

Sie sagte es mit einer leichten Neigung des Hauptes und einer anmutigen Bewegung des Körpers, denn sie war darauf bedacht, sich den Herren vom Rat nicht bloß als regierende Domina zu zeigen, sondern ihnen auch als schöne Frau zu gefallen und dadurch bestechend auf sie zu wirken. Und wenn sie das wollte, so verfehlte sie niemals eines tiefen Eindrucks auf die Herzen der Männer.

So schieden auch heute die Abgesandten der Stadt über die Huld und Schönheit der Äbtissin erfreut und darüber vergessend, daß sie von ihrer gnädigen Frau eigentlich nichts erreicht hatten, denn sie hatte ihnen nur versprochen, den Rat des Bischofs zu hören, aber nicht, ihn auch zu befolgen.

Mit dem Stiftshauptmann schlüpfte auch die Pröpstin aus dem Gemach, und die Äbtissin blieb allein, nach peinvollen Tagen endlich einmal wieder mit dem Gefühl einer stolzen Befriedigung.


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