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Auf der Walz.

Die zahlreichsten Abenteurer haben bei uns die Handwerksburschen gestellt. Tausende von ihnen haben ganz Europa durchstreift; hunderte kennen aus eigener Anschauung Nordafrika, und zwar nicht nur Ägypten, sondern auch die Barbaresken, ja gelegentlich sogar den Sudan. Hron erzählt von einigen unternehmenden Walzbrüdern, die bis Chartum tippelten, und von anderen, die sich am Roten Meere eines Kahnes bemächtigten, um mit ihm nach Ostafrika zu fahren. Diese kühnen Wikinger gelangten freilich nur bis Suakin und sind dann durch die Wüste nach dem Nil gepilgert. Scharen von deutschen Vagabunden suchten einst Anatolien heim, vereinzelte gelangten bis Persien. Ich habe einmal einen Schuhmacher getroffen, der sogar ganz Asien durchwalzt hatte, bis nach Schanghai, da nahm er ein Schiff und fuhr nach Japan. Ich traf ihn in Kobe, wo er schon acht Jahre gelebt hatte. Sogar Afghanistan, das sich sonst auf das sorgfältigste gegen jeden Fremden wehrte, war ihm nicht verschlossen. Die Leute wären ja froh gewesen, als er kam. Sie hätten keinen Dunst von einem richtigen Schuh gehabt und er war überall willkommen als Ausbesserer oder auch Neuschöpfer von Fußbekleidung. Ähnliches hat mir ein Schneider erzählt, der ebenfalls sich in Afghanistan hochbeliebt machte und der ebenfalls seiner Überzeugung Ausguck gab, daß die Asiaten keine Ahnung von seinem Handwerk, nämlich von der Schneiderei, hätten. So ein Schneider kommt sogar in die Harems hinein. Freilich, allzuviel Beobachtungen und nützliche Erfahrungen darf man von solchen Walzbrüdern nicht erwarten. Am wichtigsten ist ihnen zumeist, was sie zu essen und zu trinken bekommen und ob die Leute freundlich oder unfreundlich gewesen. Gar nicht anders sieht ja das Bild aus, das unsere Feldgrauen von Syrien, von Rumänien und der Ukraine mit nach Hause brachten.

Die ersten Spuren von Zünften und Gewerken gehen bis in das 12. Jahrhundert zurück. Sie hatten sehr strenge Gesetze. Ein Geselle, der Meister werden wollte, hatte nicht nur alle möglichen anderen Bedingungen zu erfüllen, hatte namentlich auch ein Probestück auszuarbeiten, sondern er mußte auch dartun, daß er einige Zeit auf Reisen gewesen. Diese Reisevorschrift hat bis 848 bestanden. Allein auch später noch, da es nicht mehr nötig war, haben sich die Tippelbrüder, denen sich Tippelschicksen anschlossen, auf die Walz begeben, um, mit einem Ziegenhainer und dem nötigen Humor ausgerüstet, sich durch deutsche und fremde Lande hindurchzufechten. Die wachsende Ausdehnung der Eisenbahnen hat der Walzerei empfindlichen Abbruch getan. Seit der Wende des Jahrhunderts war sie zwar nicht ganz verschwunden, ist aber merklich in Abnahme gekommen. Heute, nach dem Weltkrieg, da namentlich die Lebensmittel so teuer und so schwer erhältlich geworden sind, da infolgedessen die Gastfreundschaft der Bauern und erst recht der Städter verloren gegangen ist, hat das Fechten seinen ganzen Reiz eingebüßt. Freilich, Bettler gibt es genug, die aus Not ihren Weg erfechten müssen; echte Handwerksburschen sind aber nur wenig darunter. Früher war es Sitte, daß arbeitssuchende Handwerker, wenn sie um Arbeit ansprachen, wenn sie »das Handwerk begrüßten«, von den Zünften und von dem angesprochenen Meister, falls er keine Arbeit für sie hatte, ein kleines Geschenk, einen Zehrgroschen erhielten. Das war auch in fremden Staaten der Fall. Namentlich in Rußland gab es fast nur deutsche Handwerker, aber auch in Frankreich wurden sie den Einheimischen meist vorgezogen, wenn der Franzose durch Geschmack und der Engländer durch Genauigkeit hervorragte, so gewann der deutsche Handwerker in der Fremde Ansehen durch seine Ausdauer und durch die Gediegenheit seiner Werke.

Wann war die klassische Zeit der Walze? Ich kann darüber nichts Zuverlässiges finden. Ein Geist der Unruhe durchdrang bereits das 15. Jahrhundert, aus dem wohl die allerersten unserer Handwerksburschenlieder stammen. Gewaltige Wanderlust offenbarte nicht minder die Reformationszeit und das Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges und danach. Am idyllischsten war wohl das Walzen in der langen Zeit des Friedens, die vom Siebenjährigen Kriege bis zur französischen Revolution verfloß und dann wieder vom Sturze Napoleons bis 1848. Die Biedermeierzeit hat die liebenswürdigen Typen des Handwerksburschenlebens, wie sie ein Ludwig Richter gern zeichnete, geschaffen, während der Dreißigjährige Krieg einen knorrigen, rauhbeinigen, verwilderten Typus erzeugt hatte. Das 19. Jahrhundert, das sonst den malerischen Überbleibseln des Mittelalters so abgünstig war, hat gerade den Walzbrüdern durch die Erschließung des Orients neue, weite Gebiete eröffnet. Bresche legte auf dem Balkan die Ankunft von viertausend bayerischen Soldaten, die den König Otto nach Patras und Athen begleiteten, 1833. Erst nach dem Krimkriege wurde der Kaukasus erschlossen. Erst seit der englischen Besetzung Ägyptens wurde Nordafrika ein Wanderziel. Wir haben darüber eine wertvolle, aber ganz außerordentlich selten gewordene Schrift des erwähnten Karl Hron, eines Deutsch-Serben, der 1912 in Wien starb. Er machte die österreichische Okkupation Bosniens als Unteroffizier mit, hat den Balkan nach allen Richtungen durchwalzt und ließ sich dann noch zwei Jahre in Ägypten nieder. Dort hielt er offenes Haus für alle Handwerksgesellen, jedoch nicht ohne die weise Einschränkung, daß kein Walzbruder – er kannte wohl seine Leute – länger als drei Tage bei ihm verweilen durfte. Von den bunten Erzählungen, die er von seinen Gästen hörte, hat er in dem genannten Dokument einen farbigen Strauß zusammengestellt. Hron ist später deutschnationaler Politiker geworden und hat eine Anzahl von jetzt vergriffenen Büchern veröffentlicht, die heute noch durchaus lesenswert sind. Da er jedoch mit seinen gesunden, jedoch seiner Zeit weit vorauseilenden Ansichten nicht durchdringen konnte, fand er schließlich seine Zuflucht als Herausgeber einer Gastwirtszeitung und ist in Einsamkeit und Verbitterung, mit Hinterlassung einer Tochter, gestorben. Das kostbarste Buch aber, das überhaupt über die Walzerei und ihre Poesie vorhanden ist, stammt von Hafner.

Nach dem Sturze des Wittelsbachers, König Ottos, 1861, wollten viele von den Soldaten, die mit ihm nach Hellas gezogen waren, nicht mehr in die Heimat zurückkehren. Ein Teil wurde vom Griechentume aufgesogen, ein anderer Teil begann eine unstete Wanderschaft. Es bildeten sich ganze Trupps von Walzbrüdern und Tippelschicksen, die eine richtige Methode des Reisens entwickelten. Im Sommer durchzogen sie, einmal von den Konsulaten hopp genommen, dann auch wieder unterstützt, den Balkan und Anatolien. Den Winter über durcheilten sie Ägypten, Tripolitanien, Algerien und Marokko. Wenn es Frühling wurde, setzten sie nach Spanien über, und fochten sich allmählich bis zum Sommer nach dem Balkan zurück, um ihren Kreislauf wieder zu beginnen. Ihre größten Feinde waren die Schutzleute, die Feldgendarmen und die einheimischen Behörden, von denen die fidelen Wandergesellen nur zu oft ins Kittchen gesperrt wurden. Dem stand ein Vorteil für die duften Kunden entgegen, den wenigstens in den Ländern des Islams ihnen die einheimische Gastfreundschaft bot. Es ist unverbrüchliche Sitte, daß ein Mohammedaner jeden Fremdling, der ihn um Aufnahme anfleht, drei Tage lang umsonst beherbergen muß. Die Wohltätigkeit der Moslime erstreckt sich auch auf die Nazrani, die Christen; nur die Zigeuner sind davon ausgenommen, die nicht als Menschen erachtet werden. Natürlich ist es etwas anderes, wenn ein wohlhabender Fremdling kommt: der muß zahlen. Auch ist die Kraft mancher Sitten in der Gegenwart verblaßt: wie das Trinkverbot, das Mohammed für die Gläubigen erließ, so auch jene Sitte der Gastfreiheit. In jedem Falle haben früher die deutschen Landstörzer diese Sitte wacker ausgebeutet. Nun lernte ich eines schönen Tags den erwähnten Hafner kennen. Jüngerer Sohn eines oberschlesischen Grundbesitzers, war er wegen irgendwelcher Streiche flüchtig geworden und hatte sich nach der Türkei gewandt. Er ward Offizier in Damaskus. Leider beging er die Unvorsichtigkeit, seine Erfahrungen in deutschen Zeitungen zu veröffentlichen, und manchmal lauteten seine Berichte für die Türken nicht günstig. Diese nahmen das übel und verargten besonders die herben Urteile einem, der ihr Brot aß. Vor der Front wurde er degradiert und, nachdem man ihm die Epauletten abgerissen, aus dem Heere ausgestoßen. Nach allerlei Irrfahrten geriet er in die Fremdenlegion, flüchtete nach Marokko und wurde Feldwebel bei der Leibwache des Sultans. Durch Graf Tattenbach, unseren Gesandten, mit Zehrgeld versehen, kehrte er in die Heimat zurück und kam in den Redaktionsstab des hannöverschen Anzeigers. Er arbeitete dort mit Leuß zusammen, dem ehemaligen Reichstagsabgeordneten, der wegen eines falschen »Sexual«eids sechs Jahre ins Zuchthaus gekommen war und dann, ein ehemaliger Antisemit, Mitglied der sozialistischen Partei geworden war. In Hannover schrieb Hafner seine Erinnerungen an Handwerksburschen und Tippelschicksen auf und zwar unter dem Titel »Pulvermachers gestammelte Werke«. Darin ist ein kurzes Bild von dem Leben und Treiben jener südlichen Wandervögel gegeben.

Eine Reihe von Gedichten der lockeren Zunft, darunter einige ganz begabte, sind eingestreut; den Rest des Buches bestreiten Witze und Weisheitssprüche Pulvermachers. Diesen König der Tagediebe habe ich selbst einmal gegen Mitternacht in Konstantinopel kennen gelernt. Er war von der ganzen Zunft als ihr geistiges Haupt anerkannt. Sein Ruhm erscholl von Kairo bis Madrid. Er hatte einen engeren Kreis von Jüngern um sich gesammelt, denen er seine lebensverachtende Weisheit in lustiger Weise zu übermitteln trachtete. Gleich wie Sokrates hat er nie selbst seine Lehren aufgeschrieben, sondern hat das anderen überlassen. Pulvermacher wird so ungefähr 1903 gestorben sein. Hafner, dessen Leib über und über mit den seltsamsten Tätowierungen übersät war, kam ganz kurze Zeit in München in einem Zirkus unter. Er war ein Athlet von Gestalt. Dann geriet er in Schwierigkeiten mit der Polizei, weil er eine übrigens wunderschöne Minderjährige aus ihrem wohlhabenden Elternhause in Hannover entführt hatte. Überhaupt machten ihm die Weiber zu schaffen. So hatte er bereits in Damaskus eine türkische sitzen lassen und in Fez eine marokkanische. Er wollte dann nach Marokko zurück und zwar über Venedig und Alexandrien. Warum nicht den nächsten Weg über Genua? Ja, in Venedig habe er einen Freund, der ihm eine Freikarte für das Zwischendeck nach Ägypten verschaffe, und in Alexandrien wieder einen Freund, der ihm zu freier Fahrt nach Tanger verhelfe, wohingegen er in Genua niemand wisse. Seitdem ist Hafner meinem Gesichtskreise entschwunden. Sehr möglich, daß er noch lebt.

Eine Gruppe für sich bilden die deutschen Walzbrüder in Amerika. Soviel ich jedoch bemerkt habe, schließen sich dort die Deutschen nicht etwa zusammen, sondern gehen ohne Unterschied auch mit englisch und anders redenden Weggenossen. Die Art der Walze ist von den europäischen Methoden sehr verschieden. In der Regel setzt man sich in einen leeren Güterwagen oder auch, was das häufigste ist, auf die Puffer und fährt auf ihnen tausende von Kilometern. Gar nicht selten werden die Schwarzfahrer erwischt. Früher wurden sie einfach davongejagt, späterhin steckte man sie ins Gefängnis oder gar, was ihnen am unangenehmsten, ins Arbeitshaus. Es kommt auch vor, daß Einzelne einen schlechten Klepper und einen alten Leiterwagen kaufen (oder auch stehlen) und so von Hof zu Hof durch die Staaten irren.


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