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X.

Einige Tage später, als Käte vom Seminar nach Hause ging, traf sie wieder Herrn Stein.

Sie wollte mit kurzem Gruß weitergehen. Aber er vertrat ihr den Weg.

»Mein gnädiges Fräulein, ich habe mir erlaubt. Ihnen einige Veilchen mitzubringen. Sie gestatten?«

Er drückte sie der Widerstrebenden in die Hand.

»Mitzubringen? Haben Sie mich denn erwartet, Herr Stein?«

Er lächelte bedeutungsvoll, vielsagend.

Käte wurde blutrot, sie versuchte, ihm seine Veilchen zurückzugeben. Vergebens! Wenn sie die armen unschuldigen Dinger nicht auf die Straße werfen wollte, mußte sie sie behalten.

»Ach bitte, Herr Stein, tun Sie das nicht wieder! Ich muß doch allein gehen, und wenn ich Sie öfter träfe, das würde sich nicht schicken. Und auch die Blumen – bitte nicht! Ich mag das nicht! Und Sie haben die Kosten davon.«

Gerade das hätte sie nicht sagen müssen. Er würde ihr doch nie zeigen, daß er die Groschen zu solchen Spielereien ebensowenig übrig hatte wie sie!

»Aber es ist ja eine Ehre für mich! Reden wir doch nicht davon!«

»Doch reden wir davon!« Käte hatte ihre Verlegenheit überwunden und wurde wieder energisch. »Reden wir davon! Ich bitte Sie dringend, mich mit Ihren Blumen und mit Ihrer Begleitung zu verschonen!«

»Oho, Fräulein Käte!«

»Fräulein Folkert, bitte!«

»Nun denn, Fräulein Folkert, warum nun auf einmal so heftig? Ich weiß ja, daß Sie mich gern sehen. Wer hat früher für mich eine bedenkliche Besorgung übernommen und hinterher für mich gelogen?«

»Ach, also deshalb!« Käte wich zurück, als habe sie einen Schlag bekommen. »Meine Kindergutmütigkeit wollen Sie ausnutzen? Heute noch? Nein, mein Herr, geben Sie den Weg frei! Ich will allein gehen und unbelästigt bleiben!«

Und nun flogen die schönen Veilchen doch in den Schmutz der Straße.

Er lächelte befriedigt. Es schadete nichts, wenn sie auch heftig wurde, um so sicherer war sie ihm verfallen. da er durchaus ruhig bleiben würde.

Er ließ sie einige Schritte weitergehen, blieb aber an ihrer Seite.

»Käte,« flüsterte er dicht neben ihr leise und heiß. »Käte!«

Sie ballte die kleine Faust über ihren Büchern, ging um so rascher und blickte sich nicht um.

»Käte! Sehen Sie mich doch einmal an! Ich weiß ja doch, so wütend Sie auch tun, daß Sie mir gut sind.«

.

Sie hörte nicht, da war die Grabower Straße. Gottlob, hier waren Menschen, hier mußte er sie doch gehen lassen!

Ihm aber war es im Gegenteil lieb, wenn man sie nebeneinander sah. Da! – Käte zuckte zusammen, da kam ihr Direktor. Er grüßte, sah aber erstaunt den so dicht neben Käte gehenden jungen Mann mit dem auffallenden, hochstehenden Haar an und Kätes erregtes Gesicht.

Käte sah den Blick und war noch mehr aufgeregt als zuvor.

Als der Direktor außer Hörweite war, drehte sie sich kurz herum und sagte, ganz außer sich vor Zorn und Empörung:

»Jetzt lassen Sie mich allein, oder ich rufe den ersten besten Schutzmann zu Hilfe!«

Er sah ihrem entschlossenen Gesicht an, daß sie Ernst machen würde und wandte sich deshalb lieber für heute zum Gehen. Mit einer höhnischen Verbeugung sagte er: »Leben Sie wohl denn, schöne Käte, wie war das mit der berühmten Widerspenstigen? Die hieß auch Käte! Und ich liebe Sie und zähme Sie auch noch. Nur muß man warten können!«

Die letzten Worte hörte Käte schon nicht mehr. Fast laufend kam sie um die Straßenecke und erreichte atemlos, keuchend vor Aufregung, die elterliche Wohnung.

Von jetzt ab war ihr Schulgang eine stete Qual für sie. Sie wagte gar nicht mehr, durch ihre geliebten Anlagen zu gehen, aus Furcht, ihm wieder zu begegnen. Den Eltern wagte sie auch nichts zu sagen. Die hatten schon so genug Sorgen.

So schlich sie durch die Querstraßen und machte Umwege, alle Tage andere, um ihn irre zu leiten. Auf diese Weise konnte sie nicht ihr Versprechen erfüllen und wieder in die Kirchhofsanlagen kommen, wie sie dem alten Herrn Hagen versprochen hatte. Das fiel ihr plötzlich schwer auf die Seele. Mit Schwester Hermine hatte sie schon bald nach jenem Erlebnis gesprochen, und diese wollte sich nach dem Befinden des alten Herrn umsehen. Ihr selbst war durch die gleich darauf folgende Begegnung mit Stein und auch durch ihre Examensarbeiten die Sorge um ihren Schützling in den Hintergrund gerückt worden. Das fühlte sie jetzt wie einen Vorwurf, und so entschloß sie sich rasch, nun endlich zu ihm zu gehen. Es waren ja fast vierzehn Tage seit jenem Zusammentreffen in den Anlagen vergangen.

Das Haus hatte sie bald gefunden, und nun eilte sie die Treppen hinan. Natürlich waren es auch drei Treppen, wie fast immer in der Großstadt. Die Preise einer Wohnung im ersten Stockwerk können nur sehr reiche Leute erschwingen.

Etwas schnell atmend, weil sie ohne Aufenthalt hinaufgestiegen war, stand sie vor der Tür still. Sie hörte Stimmen, eine klagende, leise Stimme und eine freundlich beruhigende. Ah, Schwester Hermine war da!

Nach leisem Klopfen trat Käte ein.

Das Fenster war weit geöffnet und ließ die Frühlingssonnenstrahlen breit hereinfluten. Nahe herangerückt stand ein großer Lehnstuhl und in ihm saß, gestützt von Kissen und eingehüllt in Decken, der alte Herr.

Müde lehnte der weiße Kopf an der Lehne des Stuhles und die Augen waren halb geschlossen.

Käte erschrak heftig und blieb zitternd an der Tür stehen.

Die Schwester nahm sie bei der Hand und sagte leise: »Der Anfall war sehr heftig. Jetzt ruht er. Kommen Sie, Fräulein Käte, er hat schon nach Ihnen gefragt.«

Zaghaft trat Käte näher.

Sie hatte noch nie die Majestät des Todes kennen gelernt. Sie wußte nicht, ob er hier schon nahe sei. Aber es durchschauerte sie seltsam, und sie fühlte es, hier würde der ernste Engel des Todes bald eintreten. Sie fühlte seinen Fittich rauschen. Sie sah die Spuren, die sein Finger schon auf dem Antlitz des Greises zeichnete. Qual und Schmerz stand in ihm geschrieben und Müdigkeit, Todesmüdigkeit.

Da schlug der alte Herr die Augen auf, und ein solcher Strahl von Freude flog über sein Gesicht, daß Käte – sie konnte nicht anders – zu ihm eilte und an seinem Stuhl in die Knie sank. Sie küßte ehrfürchtig die welke matte Hand und blieb still liegen ohne ein Wort.

.

Auch er sprach nichts.

Nur leise hob sich die Hand und legte sich wie segnend auf den blonden Scheitel.

»Meine Tochter!« hauchten seine Lippen.

Verwischte sein Gedächtnis die beiden Gestalten?

War er in dem Wahn, Käte sei die heimgekehrte Tochter?

Sie sagte nichts und ließ ihn in dem Wahn. Es beglückte ihn und erleichterte ihm die letzten Augenblicke.

Und Käte fühlte mit heiligem Schauern das Nahen dieses letzten Augenblicks.

Leise trat die Schwester herzu und wischte ihm mit einem Tuche die feuchte Stirn.

Käte fühlte die Hand, die noch auf ihrem Kopfe lag, kälter und kälter werden. Sie zuckte einmal wie in Angst zusammen.

Sie hatte noch nie einen Menschen sterben sehen. Und sie fürchtete sich eigentlich immer entsetzlich davor. Aber der Tod dieses Mannes war so still, so friedlich!

Draußen huben die Glocken an. Es war ja wieder Sonnabend. Sie läuteten den Sonntag ein. Es war, als riefen sie noch einmal das Bewußtsein des schon Hinüberdämmernden zurück. Die Hand sank von Kätes Kopf und seine Augen öffneten sich noch einmal weit und starrten in den Sonnenschein da draußen. Dann ging ein Ruck durch den ganzen Körper. Der Kopf sank zur Seite.

Käte schreckte empor.

Die Schwester machte ihr ein Zeichen, still sitzen zu bleiben, und drückte ihm leise die Augen zu. Dann faltete sie die Hände zum stummen Gebet.

Käte konnte nicht beten. Sie war zu erschüttert, und plötzlich barg sie den Kopf wieder auf den Schoß des Toten und weinte bitterlich und schmerzlich.

Sie hatte ihn kaum gekannt, den alten Mann, zu dessen Sterbestunde sie gekommen war. Aber es war die Erschütterung, die jeden jungen, lebensfrischen Menschen ergreift, der zum erstenmal ein solches Sterben gesehen hat. Auch hierfür stumpft das Leben und die Gewohnheit ab. Aber beim erstenmal ist's, als risse uns selbst eine Macht, eine gewaltige, hehre heraus aus allem bisherigen Fühlen und Denken, als ständen wir vor einer großen, hohen Pforte, die sich aufgetan hat, aufgetan, um auch uns aufzunehmen, als faßte uns jene unsichtbare Land an, die den Lebensfaden so glatt durchschneidet. –

Die stille Schwester, die an so manchem Sterbelager gestanden hatte, verstand trotzdem Kätes Gefühle. Sie ließ sie ruhig weinen und ging ordnend im Zimmer auf und ab.

Plötzlich tönte ein leichter Schritt auf der Treppe.

Käte sprang auf.

Wer konnte das sein? Seine Tochter? Seine wirkliche Tochter?

Sie stand und drückte die Hände angstvoll auf das klopfende Herz.

Die Schwester trat hinaus.

Sie wußte, wer die Ankommende war. Sie hatte sie ja erwartet, denn sie hatte ihr geschrieben und nach ihrer Berechnung mußte sie heute nachmittag eintreffen.

Jetzt sprach sie einige Worte mit ihr.

Käte hörte die schmerzliche Antwort: »Also zu spät?« Dann flüchtete sie in das Nebenzimmer und stand hier am Fenster, angstvoll lauschend.

Es kam ihr vor, als trüge sie eine Schuld gegen die da drin auf dem Herzen, als habe sie ihr etwas geraubt, etwas, das sie ihr nie wieder geben konnte, den Segen des sterbenden Vaters!

Und das Mädchen, gegen das sie bis dahin ein ihr selbst unerklärliches Mißbehagen empfunden hatte, stand plötzlich ganz anders vor ihrem inneren Auge. Sie war ja die Fordernde ihr gegenüber, und ein tiefes, heiliges Mitleid erfüllte sie für die jetzt Elternlose, die Verwaiste! –

Nach einer – ihr dünkte es – endlos langen Zeit öffnete die Schwester die Tür.

Margarete Hagen trat ein. Sie war äußerlich sehr ruhig.

»Also Sie sind das Mädchen, das meinem Vater die letzten Augenblicke verschönt hat? Ich danke Ihnen.«

Sie streckte ihr die Hand entgegen. Käte legte die ihre hinein.

Das rote Haar flammte auf in den hellen Sonnenstrahlen und fast geblendet wandte Käte die schmerzenden Augen ab.

Das war Margarete Hagen?

So hatte sie sich dieselbe kaum gedacht. So sicher auftretend, so hübsch, aber auch so frei und gewandt!

Käte fühlte sich beklommen ihr gegenüber. Sie wollte ihr ein Wort der Teilnahme sagen, aber sie brachte nichts über die Lippen. Aber es stand genug auf ihrem tief erschütterten Antlitz geschrieben.

Und Margarete Hagen las diese Schrift, und plötzlich fühlte sie es mit zwingender Gewalt, was sie verloren hatte, was doch der Tote für sie gewesen war, wenn sie sich auch so wenig darum bemüht hatte, dieses treue Vaterherz zu verstehen.

Sie sank auf einen Stuhl und brach in fassungsloses Schluchzen aus.

Da war es Käte, die liebevoll ihren Arm um die Schultern der Weinenden schlang, und sie durch diese Bewegung zu trösten suchte. Jetzt konnte sie verstehen, was die andere fühlte, jetzt konnte sie mitfühlen und begreifen.

Aber sie wußte auch, daß sie jetzt hier überflüssig war. Leise trat sie noch einmal zu dem Toten, legte einige Frühlingsblumen, die sie ihm mitgebracht hatte, in seine starren Hände, blickte noch einmal in das jetzt so friedliche, schöne Greisenantlitz und ging dann leise hinaus.

Die Schwester folgte ihr.

Käte wollte bald wiederkommen. Jetzt gehörte der Tote der zurückgekehrten Tochter, und allein, ganz allein mußte diese mit ihm bleiben, mit ihm stumme Zwiesprache zu halten.


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