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II.

Brünnau, das Gut des Herrn von Münstermann lag eine gute halbe Stunde von Freiwalde entfernt.

Eine Kirschallee führte von hier aus fast ganz hin. Die Kirschen fingen schon an, sich zu röten, und Käte ließ ihr kleines Fuchspony langsam gehen, um in die reich tragenden Zweige hineinzugreifen und sich einige reife Früchte abzupflücken.

Sie wußte genau, welch schweren Weg sie vor sich hatte. Aber sie war doch noch Kind genug, um sich vorher an den Kirschen zu erfreuen und sie sich gut schmecken zu lassen.

Da tauchte Brünnau auf.

Rechts zeigte sich das kleine Türmchen mit der kleinen Wetterfahne oben, vorn der große Vorbau mit den vielen Fenstern und dem Balkon darauf. Sehr freundlich sah es aus.

Der Besitzer, der durch das Vermögen seiner Frau in sehr behaglichem Wohlstand lebte, hatte das alte Haus vor einigen Jahren neu ausgebaut und sich ein recht hübsches behagliches Heim geschaffen.

Sorgen kannte er nicht. Er war stets mit Freude Landwirt, konnte auch bauen, verbessern, ankaufen, wo er wollte, und so seinen schönen Besitz stets vermehren und verschönern.

Aber auch hier kam jetzt Frau Sorge, wenn auch in anderer Gestalt als bei seinem Freund und Nachbarn Folkert. Hier kam sie durch den Sohn, durch den vergötterten, geliebten, einzigen Sohn!

Daß doch überall ein Schatten ist, überall ein Dämpfer kommt auf jede Freude. Aber ist es nicht gerade gerecht verteilt im Menschenleben? Unser Päckchen sollen und müssen wir alle tragen. Es kommt nur auf das Wie an.

Etwas von diesen Gedanken flog durch Kätes Sinn, als sie langsam auf Brünnau zuritt. Langsam, denn sie fürchtete sich schrecklich, daß Tante Münstermann weinen, jammern könnte. Sie wußte auch eigentlich nicht, was sie ihr sagen sollte. Aber es hatte sie doch mit Macht hergetrieben. Ihr gutes Herz sehnte sich danach, der Mutter des Freundes ein liebes Wort zu sagen.

Am Portal stand der alte Diener, der so oft der Kinder Spiele begünstigt hatte, der ihnen Gerten zu Steckenpferden abgeschnitten, der ihnen geholfen, Steine zum Bau einer Burg zusammenzuschleppen, der Friedel zuerst gelehrt, auf einen Obstbaum zu klettern.

»Guten Morgen, Heinrich!«

»Morgen, Fräulein Käte!«

»Ist Tante Münstermann –«

»Die gnädige Frau ist im kleinen Wohnzimmer. Soll ich melden?«

»Mich melden? Ach Gott, nein, ich gehe schon allein, Heinrich –« sehr zaghaft kam es heraus, – »Heinrich, ist Tante Münstermann wohl?«

»Die gnädige Frau ist ein wenig angegriffen, sonst ist sie gesund.«

Heinrich tat ihr nicht den Gefallen, etwas über das Vorgefallene, die Erkrankung des Sohnes, zu sagen. Und sie traute sich nicht, darnach zu fragen. Na, denn Mut, voran also! –

Das kleine Wohnzimmer hatte einen besonderen Eingang. Es lag zwischen dem Salon und dem großen, schönen Eßsaal. Hier stand das Klavier und das Harmonium, und hier hatten die Nachbarskinder zusammen beim Kantor des Dorfes Singstunden gehabt, früher, ehe Friedel und Kurt in Pension kamen.

Leise ging Käte durch das Wohnzimmer und zaghaft trat sie näher.

Frau von Münstermann saß vor dem Harmonium, spielte aber nicht. Ihre Hände lagen still auf den Tasten, und sie sah mit leerem Blick ins Weite.

Da war auf einmal alle Angst bei Käte fortgewischt. Sie eilte mit dem Rufe: »Tante Münstermann, liebe Tante Münstermann!« auf sie zu und schlang beide Arme um ihren Hals.

»Mein gutes Kind,« sagte diese leise, »meine liebe Käte!«

Sie streichelte die lockigen Haare, aber sie weinte nicht. Es war Käte, die jetzt herzbrechend schluchzte und den Kopf ganz fassungslos in den Schoß der Sitzenden legte.

Frau von Münstermann hob endlich das blonde Köpfchen und sah Käte in die Augen.

»Weinst du um mich, Kätchen oder um ihn?«

»Um dich, Tante Münstermann, um dich allein!«

»Nein, Käte, nicht um mich, weine um ihn und bete für ihn, daß er sich selbst wiederfindet. Gewiß tut mir das Herz weh, so weh, daß der Sohn, der mein Alles war, mich nicht mehr lieben will!« – Die Stimme brach ihr und sie saß einen Augenblick ganz still. Dann fuhr sie fort, als sie in Kätes angstvolle Augen sah: »Aber sieh, wir sind auch selbst schuld. Wir haben ihn zu lieb gehabt. Wir haben ihn vielleicht mehr als gut ist, seinen Neigungen leben lassen. Wir sind vielleicht nicht streng genug gewesen. – Und jetzt trägt er am schwersten daran. Denn glaube mir, er ist selbst unglücklich, er ist am unglücklichsten von uns. Er hat niemand, der ihn tröstet, und ich täte es doch so gern!«

»Aber er verdient diese Nachsicht von dir nicht. Er sündigt doch gegen jedes Gefühl!«

»Kind, er ist krank, und den kranken Sohn liebt die Mutter doppelt. Ich ginge so gern zu ihm, aber der Doktor hat geschrieben, ich dürfe jetzt nicht kommen. Es würde ihn aufregen, vielleicht ganz wild machen, und damit könnte das Schlimmste hervorgerufen werden.

Mein Mann ist dort gewesen, hat ihn einen Augenblick gesehen, aber nichts erreichen können. Friedel hat allen Fragen starres Schweigen entgegengesetzt. Da mußte er wieder abreisen.«

»Und was sagte der Arzt?«

»Er meinte, Friedel könne bald gesund werden, wenn ihm Bücher jeder Art fernblieben. Es könne aber auch lange dauern!« –

Wieder versank sie in längeres Schweigen.

Endlich wagte Käte noch leise die Frage: »Und wo – wo ist Friedel?«

»In Boppard am Rhein, da ist eine Anstalt für solche Kranke, Marienburg heißt sie, und der Arzt soll gut und tüchtig sein.«

»So weit, so schrecklich weit fort?«

»Es ist näher als Konstanz am Bodensee, von dem war auch die Rede!« –

Nach einer kleinen Weile stand sie auf und nahm Käte an der Hand.

»Komm Kätchen, komm mit zum Onkel! Er trägt schwerer daran als ich.«

Wie alt war Herr von Münstermann geworden. Alt und grau in wenigen Tagen! Und wie ernst sahen seine sonst so lustig blickenden Augen aus. Von dem früher stets lachenden, scherzenden Mund, der so gern neckte, zogen sich scharfe Linien nach unten, und die große, etwas schwerfällige Gestalt ging, als ob er die Schultern nach vorn gezogen habe, ob er sich schäme, geradeaus zu sehen.

Jede andere Krankheit hätte er gern hingenommen. Aber dieses! Sein Sohn verrückt geworden! Verrückt! Denn weiter war es doch nichts. Reif fürs Irrenhaus, für Dalldorf!

Er meinte, jeder Mensch sehe ihn darauf an. Und vielleicht hatte er recht.

Sie sahen ihn alle darauf an und dachten wohl: »Aha, kann der auch mal Unglück haben? Wie benimmt er sich denn dabei? Na ja! Jeder Mensch muß das kennen lernen. Immer kann die Sonne nicht scheinen.«

Und manche dachten vielleicht, es geschehe ihm ganz recht. Aber gönnen taten es ihm doch nicht viele seiner Mitmenschen. So schlecht waren sie nicht. Er war doch stets sehr beliebt, allzeit fröhlich, menschenfreundlich, auch hilfreich, wo er konnte.

Und wenn man den Fall auch überall besprach, so geschah es doch fast immer in mitleidigem, bedauerndem Tone.

Er selbst sprach nicht davon, gar nicht und zu niemand.

Als Käte auf den Hof kam, war er gerade dabei, zwei junge vierjährige Pferde zu beaufsichtigen, die zum erstenmal zusammen angespannt wurden.

Sie waren bis jetzt jedes einzeln mit einem alten sicheren Pferde gegangen, das immer die jungen Fohlen einlernen half. Nun sollten sie zum ersten Male zusammengehen, und sie waren noch unruhig und wild und beanspruchten die volle Aufmerksamkeit des alten Kutschers, der sie leitete. Und auch der Gutsherr war mit allen Gedanken dabei.

Wenigstens sah es so aus für den Fremden, der ihn nicht genau kannte. Aber Käte kannte ihn genau.

Und als sie herantrat und ihm die Hand gab, zuckte sie schmerzlich zusammen, weil er ihr mit abgewandtem Gesicht, immer die Pferde ansehend, die Hand reichte.

»Na, Maus, du auch da?«

Es klang so fremd, so gleichgültig. Sie war sonst gewohnt, daß er sie bei den Händen oder gar beim Kopf nahm, sich einen Kuß forderte und immer, aber auch immer ein Scherzwort oder eine Liebkosung für sie hatte.

Heute geschah nichts dergleichen. Nur die kurze Begrüßung! Sie stand still und sah den Fohlen zu.

Sie waren sehr unruhig, das Fahrgestell, vor das sie gespannt waren, schleuderte hin und her. Der Kutscher hielt mit aller Kraft.

»Geh beiseite, Maus. Den Rackern ist nicht zu trauen.«

Käte trat leise zurück, aber eine heiße Träne rollte ihr die Wange herunter. Sonst nahm er sie zu allem mit, er wußte ja auch, daß sie nicht bange war. Vor nichts! Und heute?

Sie hätte ihm so gern ein gutes Wort gesagt, einmal ihm ins Auge gesehen, ihm einen Kuß gegeben, nicht wie sonst im Scherz, sondern heute im Ernst.

Und der alte Kutscher Wilde war doch kein Hindernis dabei. Sprechen wollte sie ja nicht darüber, gewiß nicht, nur ihm zeigen, daß sie mit ihm fühlte, daß sie ihn lieb hatte, daß sie ihm den Sohn ein bißchen ersetzen möchte.

Aber gerade das alles fürchtete er. Nur nicht weich werden, nur nichts merken lassen! Auch vor dem Kinde nicht, das mit seinem Jungen aufgewachsen war. Auch vor dem nicht, nein! Erst recht vor diesem nicht!

Denn ein Blick in diese sonnigen, sprechenden blauen Augen hätte ihn ja weinen lassen, weinen wie ein dummer Junge, weinen wie ein kleines Kind! – Unsinn! – Hart sein! Fest sein! –

Er drehte sich halb herum und rief ihr zu: »Lebewohl, Maus! Ich sehe dich wohl nachher noch? Ich muß erst mit auf den Acker, sehen, daß kein Unfug mit den jungen Tieren geschieht. Auf weichem Boden gehen sie besser. Du weißt's ja!«

Er ging schwerfällig ab, hinter dem Fahrgestell her.

Käte blickte ihm nach, traurig und verletzt. Wollte er nichts von ihr wissen?

Sie trat in den Stall hinein, wo ihr Pony eingestellt war. »Komm, Hans, wir reiten nach Hause. Der Onkel will uns nicht! Komm!«

Plötzlich schlang sie beide Arme um den Hals des Tieres und weinte bitterlich.

Nur noch der Tante wollte sie Lebewohl sagen und dann nach Hause.

Sie mußte sie im Garten suchen, wo sie mit zwei Mädchen im Gemüseland stand und diesen zeigte, welche Bohnen zum Einmachen gepflückt werden sollten, und welche für den morgigen Mittagstisch genommen werden könnten.

Käte begriff das nicht. Konnte man so etwas Prosaisches tun, wenn man solches Leid erlebt hatte? Müßte man nicht immer sitzen und weinen?

Käte ahnte noch nicht, daß das Herz fast brechen kann in Leid und Weh, während der Mund alltägliche Dinge spricht; daß das Leben weitergeht über jedem Leid und seine täglichen Ansprüche stellt. Vor allem aber ahnte sie noch nicht, daß es einen Tröster gibt, der Arbeit heißt, Arbeit und Tätigkeit und Pflicht.

Wenn der Mensch nur Kraft genug hat, diesen Tröster zu suchen, so hilft er viel in jedem Kummer.

Und diese beiden Menschen waren innerlich gesund genug, diesen Tröster zu suchen und zu finden.

Käte trat zu Frau von Münstermann heran.

»Willst du helfen, Kätchen?«

»Ich wollte dir Lebewohl sagen, Tante.«

Es kam gepreßt und gequält heraus.

Frau von Münstermann verstand sie genau. Sie kannte das junge, heißblütige Geschöpf genug, um zu wissen, daß dieses jetzt allein mit sich fertig werden mußte, mit seinen Gefühlen und Eindrücken. Sie selbst hatte ja schon tagelang geweint und mit sich gerungen. Sie wollte jetzt stark sein, wollte ihrem Manne das Schwere tragen helfen, und es ihm nicht noch schwerer machen. Mit Gottes Hilfe würde es ihr gelingen.

Sie zog Käte zu sich heran und sagte weich: »Dann geh, mein Kind, und komm bald wieder zu uns einsamen Menschen. Grüße deine Mama und lebe wohl!«

Käte beugte sich über ihre Hand und küßte sie.

Frau von Münstermann strich noch einmal über ihr Haar. »Lebewohl, mein liebes Kind!«

Und Käte ging.


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