Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI.

Nach Steins Abreise ging in Freiwalde alles seinen alten Gang. Frau Folkert fühlte sich erleichtert, daß er fort war. Sie fühlte es, daß es jetzt auf die Katastrophe zuging. Da war ihr die Anwesenheit des Fremden schrecklich peinlich. Sie meinte immer, er müsse Dinge sehen und hören, die er nicht sehen durfte. Und doch ging eigentlich alles so still seinen Weg weiter, als gäbe es keine Zinstermine auf der Welt.

Auch in Brünnau schlichen die Tage öde und still dahin.

Von Friedel Münstermann lauteten die Nachrichten unverändert. Er war noch nicht besser, und leise gingen Vater und Mutter nebeneinander her. Keines wollte das andere an das Schreckliche mahnen. Und doch dachten beide unausgesetzt nur daran.

Nur in Zossen war noch viel Leben und Lustigkeit. Das französische Kinderfräulein, das seit langen Jahren, schon vor dem Kriege in Zossen war, und das man behielt, da es keine Angehörigen hatte und mit ihren Zossenern verwachsen war, seit sie die Anneliese als kleines Kind in Pflege nahm, war zurückgekehrt, und Anneliese konnte ihre Ferien nun auch noch genießen. Kurt neckte sich mit Mademoiselle, und Fritz ärgerte sie gern ein bißchen. Böse war es aber nicht gemeint.

»Mamselling, 'aben Sie gesehen die Pflaumen auf Ihre Baum für Ihre Fenster? Sie sein schon ganz reif!«

»Fritz! Il faut parler français, s'il vous plait.«

» Oui mademoiselle, avec plaisir! Man bloß, daß ich nicht weiß, wie Pflaumen auf französisch heißen! Und daß ich Ihnen sagen wollte, daß Ihre Rocklitze unten abgerissen ist, ich auch nicht weiß, wie die Rocklitze sich auf französisch benennt.«

»Meine Rock zerrissen? Wie ist das möglich? Comment est-ce possible? Und du dich noch freuen darüber! Ah! ces enfants, ces enfants!«

Die lebhafte Französin schüttelte den Kopf, daß alle ihre Löckchen, – sie trug auch einen Bubikopf, – flogen. » Anneliese, venez-ici! Ist es wahr, daß meine Rock ist zerrissen? Dieser Knabe Fritz will es behaupten!«

»Ja, Mademoiselle, aber es ist nicht schlimm. Ein wenig Borte ist abgetreten. Ich will es Ihnen gern nähen.«

»Danke, danke, mein Kind! Vous êtes une bonne enfant! Wo sein die Elly nur wieder?«

Fritz beeilte sich, zu antworten: »Die himmelt ihren neuesten Schwarm an und sitzt dabei oben im Kirschbaum. Wenn man aber sagt, daß sie Kirschen ißt, dann streitet sie's ab.«

Anneliese wurde plötzlich unruhig.

»Wir wollen doch sehen, Mademoiselle, was sie macht. Der große Kirschbaum ist schon so alt und morsch. Und wenn Elly oben sitzt, dann träumt sie wirklich manchmal und vergißt das Herunterkommen.«

»Aber, Kind, du machst mir so bange! Komm ganz geschwinde, allez vite, très vite!«

Sie eilten nach dem anderen Teile des großen Gartens, der ziemlich abgeschlossen und entfernt vom Hause lag. Hier standen nur Obstbäume und darunter waren Blumen- und Gemüserabatten. Ein altmodischer, aber sehr gemütlicher Garten war's. Die Kinder liebten ihn am meisten. Hier konnte man im Frühjahr Erdbeeren pflücken, dann kamen die Stachelbeeren und Himbeeren, jetzt die ersten süßen Kirschen, und dann die köstlichen Pflaumen und Reineclauden.

Und Elly war trotz ihrer Schwärmereien diesen Genüssen gar nicht abgeneigt.

Anneliese wußte selbst nicht, weshalb sie heute so ängstlich war.

Aber sie eilte, als ob schon etwas geschehen wäre, nach dem Garten hinüber.

Als sie hineinkamen, sahen sie Ellys helles Sommerkleid oben aus den Zweigen des riesigen alten Kirschbaumes herüberleuchten.

Beruhigt blieb Mademoiselle stehen und sagte etwas vorwurfsvoll: »Nun, voilà, da sitzt sie ganz zufrieden in diese große Baum, und wir rennen wie die Schnellläufers. Du hast mir unnötig gemacht so viele Ängste.«

In diesem Augenblick rief Fritz, der ihnen vorausgelaufen war: »Na, gnädiges Fräulein, wie schmecken die Kirschen? Oder schläfst du da oben?«

Elly erschrak. Sie mochte nicht gern, wenn man sie bei ihren Kletterpartien traf und vor allem waren ihr Fritz' Neckereien über diesen Punkt schrecklich.

»Geh fort da, Fritz, ich will heruntersteigen!«

»Na, komm doch, ich tu dir ja nichts!«

»Du sollst fortgehen, ich kann sonst nicht klettern.«

Fritz brummte noch etwas. Es war merkwürdig, wie er sich mit dieser Schwester so schlecht vertragen konnte.

Langsam begann Elly herabzusteigen. Sie war sehr geschickt darin, und hatte es schon so oft getan. Aber plötzlich, war vielleicht sie etwas erregt von dem kurzen Wortwechsel oder blieb ihr Kleid an einem Ästchen hängen? Sie zerrte an dem Kleide, dadurch schwankte der Ast, auf dem sie stand, krachte, brach – und mit einem Schreckensruf stürzte sie mit dem Aste zugleich aus der noch ziemlich beträchtlichen Höhe herab.

Voll Entsetzen eilten Mademoiselle und Anneliese herbei. Sie beugten sich über die unten Liegende und fanden sie zum Glück nicht bewußtlos, nicht weinend, sondern zwar sehr blaß aussehend, aber mit klaren Augen. Sie bemühte sich sogar, sich ein wenig aufzurichten. Es ging nicht recht und mit einem kleinen Schmerzenslaut sank sie zurück.

Anneliese umfaßte sie zärtlich. »Elly, liebe, süße Elly, was tut dir weh? Oder ist es nur der Schrecken? Fritz, laufe doch und hole Wasser!«

Aber Fritz war fast blasser als die verunglückte Schwester.

Mit großen, starren, entsetzten Augen sah er immer noch geradeaus in die Zweige, von wo Elly abgestürzt war.

Als Anneliese ihn anrief, schrak er zusammen und brach in fassungsloses Weinen aus. War er daran schuld? O Gott, war das seine Schuld? Und dann stürzte er zu der Schwester hin.

»Elly!« flehte er, »Elly, steh doch auf! Liebe Elly, ich wollte doch das nicht! Ich kann doch nicht dafür. Sag doch, daß ich nicht dafür kann!«

Elly lächelte und reichte ihm die Hand.

»Nein, Fritz, mein Kleid blieb hängen. Du bist nicht schuld.«

»Ich bin doch schuld! Wenn du bloß aufstehen könntest!« flehte er wieder in der furchtbarsten Angst.

Anneliese, die einsah, daß im Augenblick keine Hilfe von ihm zu erwarten war, bat Mademoiselle mit einem Wink, und diese lief ins Haus. Dann legte sie den Arm fest um Ellys Schultern und sagte: »Wenn ich dich stütze, wirst du dann aufstehen können? Denke an Mamas Schrecken, wenn wir dich tragen müssen.«

Elly versuchte noch einmal. Es ging nicht.

»Was ist es denn, Elly?«

»Ich glaube, mein rechter Fuß tut so weh. Und hier der Arm schmerzt auch; aber das ist nur abgeschrammt. Ob der Fuß gebrochen ist?«

Anneliese befühlte und besah ihn. »Nein, ich glaube nicht! Tut er sehr weh?«

»Sehr.«

Mit leisem Wimmern hatte Elly Annelieses Untersuchung ausgehalten.

»Da werden wir dich tragen müssen! Fritz, nun laß das Weinen sein und sei mal vernünftig und hilf! Geh zur Mamsell und laß dir von ihr eine Matratze besorgen, und dann sollen zwei Mädchen damit herkommen, die Frieda, die ist kräftig, und noch eine. Aber schrei nicht, daß Mutter nicht so erschrickt. Ich werde es ihr dann schon selbst melden, ehe wir Elly bringen.«

Fritz trocknete seine Tränen, biß sich auf die Lippen und sah Elly gar nicht an. Er hätte es nicht gekonnt, ohne wieder weinen zu müssen. Arme Schwester! Arme Schwester Elly! Und daß sie gar nicht schrie, nur so weiß aussah! Wenn sie weinte, das könnte er doch verstehen.

Er gab sich einen Ruck und lief nach dem Hause.

Jetzt kam auch Mademoiselle zurück mit einer Flasche Wein und bat Elly, ein Glas zu trinken.

»Komm, ma petite, du mußt es tun. Es ist gut für dir. Trinke viel, daß du wieder bekommst rote Backen.«

»Mademoiselle, wir müssen Elly tragen lassen. Sie kann nicht aufstehen. Ihr rechter Fuß ist's!«

»Ah, pauvre petite! Tut es dich sehr weh? Sei still, wir tragen dich hin so süß. Du sollst fühlen gar nichts von Schmerzen.«

Elly versuchte zu lächeln. Sie war sehr tapfer, die arme Kleine! Nur als die Matratze kam und sie hinaufgelegt wurde, schrie sie einmal auf.

Der Schrecken der Mutter war sehr groß, trotz Annelieses vorsichtiger Vorbereitung, und sie war ganz fassungslos. Der Vater war nicht zu Hause, der allzeit so Besonnene, was nun tun? Aber wieder war es Anneliese, Vaters verständige Tochter, sein Ebenbild in allem, die mit ruhiger Besonnenheit ihre Anweisungen gab, den Wagen zum Arzt zu schicken, und dann mit Mademoiselles Hilfe für Elly das Bett zurecht machte und ihr Schuhe und Strümpfe von dem verletzten Fuß abschnitt, denn das Gelenk fing schon an anzuschwellen. Dann versuchte sie, die Mutter zu beruhigen. Es sei ja nur ein verstauchtes Gelenk. Es hätte ja viel schlimmer werden können. Elly hätte auf der Stelle tot sein können, sie sei noch gut davongekommen, so daß endlich die kleine Frau von Lankwitz, die gewohnt war, von ihrem Mann in allem geführt zu werden, sich von ihrer großen Tochter beruhigen ließ und sich neben Ellys Lager hinsetzte und half, auf den verletzten Arm wenigstens kalte Umschläge zu machen.

Innerlich war Anneliese unruhig genug. Sie trat immer wieder ans Fenster und spähte hinaus, ob der Arzt nicht komme, und drückte in heißer Angst die Hände ineinander, daß die Nägel sich ins Fleisch bohrten, sie preßte die Zähne auf die Unterlippe, um nicht zu weinen beim Anblick des verletzten Fußes.

Und als der Arzt kam und nach genauer, für die arme Elly sehr schmerzhafter Untersuchung feststellte, daß eine Zerreißung der Sehnen vorlag, zeigte dieses ihr, daß ihre Angst nicht unbegründet war.

Leise ging sie dem Arzt nach ins Nebenzimmer und fragte ihn: »Herr Doktor, ist das heilbar?«

»Gewiß, Fräulein Anneliese, aber es dauert lange, es kostet viel Geduld und Ruhe. Langes Stilliegen ist nötig, sonst ist es schlimm.«

»Dann möchte ich hierbleiben. Ob ich noch ein halbes Jahr im Stift bin, das macht nichts aus. Mutter aber hat den großen Haushalt, Mademoiselle hat Alfredchen, da müßt ja Elly so viel allein liegen. Lieber Herr Doktor, sagen Sie den Eltern, daß ich zu Hause bleiben darf.«

Der langjährige Hausarzt, der die Verhältnisse genau kannte, sah ein, daß Annelieses Vorschlag sehr verständig war. Er machte den Fürsprecher bei den Eltern, und da die Mutter gern die tätige Hilfe ihrer Tochter annahm, wurde beschlossen, daß sie vorläufig zu Hause bleiben solle, bis Elly wieder gesund sei.

So war es auch in Zossen still geworden.

Fritz und Kurt hatten wieder fortgemußt. Fritz war um eine sehr ernste Erfahrung reicher, ganz erfüllt von dem Bilde der still duldenden, in ihrem weißen Bette rührend schönen Schwester, für die er jetzt eine geradezu schwärmerische Liebe gefaßt hatte.

Anneliese saß viel in dem stillen Krankenzimmer, las vor und spielte Halma, Salta oder andere Spiele mit Elly und fühlte sich glücklicher hier als in Berlin zwischen den vielen Gefährtinnen. Sie war nun einmal ein Hausmütterchen.

Und die arme kleine Kranke selbst? Sie hatte viele Schmerzen zu ertragen, viel mehr im Laufe der Tage als in dem ersten Augenblick, und die Geduld wollte oft fast zu Ende gehen.

So war auch in Zossen das Leid eingekehrt.

Seltsam, daß es die drei Nachbargüter gleichzeitig kennen lernten, und doch in so verschiedener Art!

Kätes Pony mußte sehr viel unterwegs sein. Bald war sie in Brünnau, bald in Zossen. Und überall brachte ihre Fröhlichkeit, ihre jugendliche Beweglichkeit einen Strahl frischen Lebens mit sich, einen Strom frischer Luft, als sei sie ein Bergquell, der über Steine und Strauchwerk springt und selbst immer klar und rein bleibt.


 << zurück weiter >>