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Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Wie ein Herz erwacht

Beinahe eine Stunde verbrachte Gertrud mit dem Diktieren der Nachmittagsbriefe, und dann gab bis gegen fünf Uhr ein Besucher dem andern die Klinke ihres Arbeitszimmers in die Hand. Als endlich der letzte draußen war, setzte sie sich einen Augenblick und überdachte die Ereignisse, die der Tag ihr gebracht.

»Ich wollte, ich wüßte, ob ich recht getan habe,« fragte sie sich innerlich. »Er wird mein Nachfolger werden und Großes für Roma leisten – aber ach! ich wollte, ich könnte ihm dabei helfen. Und ich wollte, ich gehörte zu den sanfteren, anschmiegenden Frauen und könnte meinem Herzen gestatten, ihn so heiß zu lieben, wie – nein, nicht wie ich es möchte – wie ich es schon tat. Aber welche Gedanken! Rapple dich auf, Gertrud Van Deusen, werde nicht auf deine alten Tage noch sentimental! In deinem Alter noch an einen Mann zu denken! Ich gehe für ein Jahr nach Europa, da werde ich wieder ich selbst und denke nicht mehr – –«

Das Telephon klingelte.

»Hallo, wer dort?« fragte sie.

»Hinter Ihrem Haus hat eine Explosion stattgefunden und zwei Männer vom Straßenbauamt sind anscheinend schwer verletzt,« sagte irgend jemand. »Einer davon ist ein einfacher Arbeiter – –«

»Und der andre?« fragte Gertrud, der ihr pochendes Herz schon die Wahrheit kündete, aufgeregt.

»Ist der Vorstand des Straßenbauamtes, Allingham. Er war eben gekommen, um die Arbeiten nachzusehen. Dürfen wir die beiden Verwundeten in Euer Ehren Haus bringen, bis Ärzte und Krankenwagen hier sind?«

»Bringen Sie sie sofort in mein Haus,« erwiderte sie, »lassen Sie wohl die Ärzte kommen, aber nicht die Krankenwagen – wir müssen doch erst wissen, was die Doktoren sagen. Ich werde sofort heimkommen.«

Sie flog förmlich in ihre Privatgarderobe und warf ihren Mantel über. Vor dem Rathaus wartete ihr Wagen und sie befahl, so rasch wie nur möglich zu fahren. Dann sank sie in die schwellenden Polster zurück und suchte das Entsetzen zu unterdrücken, das von ihrer Seele so jäh Besitz ergriffen hatte. Nun gab es kein Zweifeln und kein Zögern mehr für sie. Dieser wahnsinnige Schreck hatte alle Tiefen ihres Herzens aufgewühlt. In einem Augenblick erkannte sie, daß die Liebe kein Gefühl ist, das man nach Belieben in seinem Wachstum beschleunigen oder zurückdrängen kann – das, was sie bisher immer hatte unterjochen wollen, wurde ihr plötzlich zur göttlichsten aller Leidenschaften. Während der Fahrt bebte sie vor Angst, daß John Allingham mittlerweile schon die unerforschlichen Grenzen überschritten haben könne, die den Lebenden von den Toten trennen, und sie war sich wohl bewußt, daß dann lebenslängliches Herzeleid ihr Teil gewesen wäre. Sie neigte ihr Haupt und schrie um Hilfe zu Gott, während der Wagen den mit Kiesel besäten Weg zu ihrem Hause zurücklegte.

Fiebernd sprang sie die Treppen hinauf und riß ihren Mantel auf, den sie im Vorüberlaufen nebst ihrem Hut in ihr Zimmer schleuderte. Sie wußte, daß die Verwundeten in ihres Vaters früheres Schlafzimmer gebracht worden waren und daß sich schon ein Arzt bei ihnen befand – sollte sie es wagen, einzutreten?

Sie wendete sich gegen das Krankenzimmer und fand sich unversehens John Allingham gegenüber.

»John,« schluchzte sie, »o John!«

An und für sich hatte dieser Ausruf ja nichts zu bedeuten gehabt, aber ihm genügte er. Er breitete seine Arme aus und sie schmiegte sich an ihn.

Nach einem stumm-beredten Augenblick lächelte sie ihn an und sagte: »Weiß Gott, John, du bist nicht dazu geschaffen, allein zu gehen. Bitte mich noch einmal recht artig, daß ich dich begleite.«

Und auf diese Weise kam es, daß am Tag, ehe der neue Stadtvorstand in sein Amt eingesetzt wurde, eine Hochzeit stattfand, an der ganz Roma den lebhaftesten Anteil nahm, denn künftig sollte das liebende Herz des Weibes neben dem ernsten Wollen des Mannes gehen und ganz Roma sollte durch ihr gemeinschaftliches Wirken geleitet werden.

 

Ende

 

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