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Viertes Kapitel.
Praktische Wahlpolitik

Einige Abende später konnte man mehrere Herren in das Van Deusensche Haus eintreten sehen, wo sie von Gertrud und ihrer Cousine Jenny Craig empfangen wurden. Bei ihnen befanden sich auch Frau Bateman, Frau Mason und Frau Stillman. Auf Bailey Armstrongs Veranlassung hin waren sie zusammengekommen, um den Fortschrittlichen Verein neu zu organisieren, und Bailey hatte einige der leitenden Mitglieder des Union-Klubs zum Beitritt veranlaßt.

Fräulein Van Deusens Kandidatur war im Vereinslokal natürlich ebensogut besprochen worden wie sonst überall, und da die meisten Mitglieder alte Freunde von ihrem Vater oder von ihr selbst waren, hatten sie sämtlich mit mehr oder weniger Vorbehalt dafür gestimmt, sie zu unterstützen. Nur John Allingham hatte im Verein mit einigen wenigen der konservativsten Mitglieder es verhindert, daß sich der ganze Verein einstimmig für ihre Unterstützung erklärte, aber er konnte es nicht verhüten, daß der einzelne für den Kandidaten eintrat, der ihm selbst am meisten zusagte. Und so kam es denn, daß an einem Ende der Stadt der Bürgerverein zusammentraf, um zu beraten, ob sich kein gleichwertiger Gegner ihr entgegenstellen ließe, am entgegengesetzten Ende der Neue städtische Reformverein ins Leben gerufen wurde, um die Sache Gertrud Van Deusens zu fördern.

Der Richter Bateman eröffnete die Versammlung und wurde zuerst zu deren Vorsitzendem und dann zum Präsidenten der neuen Vereinigung ernannt; als Sekretär wurde ihm Bailey Armstrong beigegeben.

»Fräulein Van Deusen,« fragte der Richter nach Erledigung der nötigen Förmlichkeiten, »Sie erklären sich also bereit, die Kandidatur für den Bürgermeisterposten anzunehmen?«

»Ja, das tue ich,« lautete die Antwort.

»Dann wird es also unsre nächste Aufgabe sein, Ihre Kandidatur aufzustellen und unsern endgültigen Feldzugsplan zu entwerfen. Daß es die ungewöhnlichste, vielleicht unerhörteste Sache ist, eine junge Dame für die Bürgermeisterstelle vorzuschlagen, das wissen wir alle und brauchen es nicht noch besonders zu erwähnen. Aber es sind viele unter uns, die ihrem Schöpfer auf den Knieen dafür danken möchten, daß sich eine kluge und gute Frau bereit erklärt, ihrer Vaterstadt in dieser Stellung zu dienen. Wir sind es ihr als Männer und unsrer Stadt als Bürger und Wähler schuldig, für sie einzutreten und zu arbeiten. Hat irgend jemand einen bestimmten Feldzugsplan vorzuschlagen?«

Fast jeder Anwesende drückte sich in derselben Weise aus, und ehe es zehn Uhr schlug, war der Schlachtplan entworfen. Dann wurden die Zeitungen telephonisch angerufen, und Berichterstatter begannen zu erscheinen. Am nächsten Morgen hatte Roma sein zweites aufsehenerregendes Ereignis. Ein Leitartikel lautete folgendermaßen: »Gestern abend fanden sich in der Wohnung des verstorbenen Senators Van Deusen eine Anzahl der hervorragendsten Männer und Frauen dieser Stadt zusammen, gründeten einen Städtischen Reformverein und beschlossen einmütig, die Kandidatur des Fräulein Gertrud Van Deusen für die Stelle des Stadtvorstands zu unterstützen. Wenn es dieser Vereinigung, bei der Mitglieder aller Parteien willkommen sind, gelingt, auch nur die Hälfte dessen auszuführen, was sie sich vorgenommen hat, so wird der gestrige Tag für Roma historische Bedeutung haben. Der neue Verein wurde von einigen aristokratischen Führern ins Leben gerufen, aber wir sind des Glaubens, daß er bald alle Schichten von Wählern umfassen wird, denn so nachlässig wir auch früher waren, so wollen doch die Bürger Romas für das Beste eintreten – sie wollen die besten Bürger, die besten Schulen und die beste Regierung in ihrer Stadt haben. Vielleicht ist der Hauptgrund dafür, daß wir dies alles nicht haben, darin zu suchen, daß die Bürgerschaft mit den ausübenden Behörden in gar keine Berührung kommt. Das Volk befand sich in völliger Unwissenheit über die Dinge, die auf dem Rathaus vor sich gingen. Ab und zu ist es uns gelungen, den Schleier ein wenig zu lüften, aber im Grunde genommen waren wir lässig und leicht beiseite zu schieben. Beschämt gestehen wir dies zu, aber wir versprechen im Namen dieser Zeitung, künftig unsre Sache besser zu machen, und wir erklären hiermit heute öffentlich, daß wir uns ganz im Einklang mit dem Reformverein befinden. Von heute an wird der ›Atlas'‹ für die Kandidatur von Fräulein Van Deusen eintreten, so gewiß, als wir einst stolz waren, das Banner ihres Vaters, des verstorbenen Senators Van Deusen, hochzuhalten.«

Als Gertrud diese Zeilen las, sank sie halb schwindlig in einen Sessel und klatschte dann vor freudiger Überraschung in die Hände.

»Was ist denn los?« fragte ihre Cousine.

»Der ›Atlas‹ hat meine Partei ergriffen und sich für den Reformverein und mich erklärt. Das ist sicher wieder Baileys Werk.«

»Ja, und ich hoffe, du siehst ein, was Bailey alles für dich tut,« sagte Fräulein Craig. »Er wäre selbst ein sehr guter Bürgermeister geworden.«

»Wir haben ein ganzes Dutzend Männer in Roma, die gute Bürgermeister gegeben hätten,« erwiderte Gertrud, »wenn sie nur gewollt hätten. Aber sie wollen ja alle nicht. – übrigens gehe ich heute abend zu einer Versammlung – kommst du mit?«

»O nein, das habe ich nicht vor. Ich werde zur rechten Zeit überall hingehen, um für dich zu stimmen, Gertie, – im übrigen aber entschuldige mich.«

Dagegen begleiteten Frau Bateman und ihr Gatte Fräulein Van Deusen in das beinahe leere Lokal, wo die erste Vorversammlung abgehalten wurde. Es befand sich in einem weit draußen gelegenen Vorstadtbezirk, und die wenigen Männer, die herumstanden, waren ganz verwundert über die Anwesenheit von Frauen, obgleich sie das weibliche Geschlecht an Wahltagen schon oft an der Arbeit gesehen hatten.

»Nun haben Sie gehört,« sagte der Richter, »wie die Stadtverwaltung in den letzten zehn Jahren gehandhabt worden ist. Dort rechts in der Ecke finden Sie eine Türe mit einem kleinen Schlitz darin, in den Sie Ihre Stimmzettel hineinschieben sollen. Ihre Wahlzettel werden hinter der Türe von einigen Führern des Rings geöffnet, und Sie werden ohne Zweifel erfahren – obgleich dies ein gegnerischer Bezirk ist – daß Ihre Delegierten von einer überwältigenden Majorität überstimmt wurden. Morgen wird die Vereinszeitung, die alle offiziellen Mitteilungen des Kreises bringt und durch die Anzeigen der mit der Partei verbündeten Vereine ein schönes Einkommen bezieht (ebenso wie der Eigentümer dem einen der Führer, der hinter der Partei steht, eine Teilhaberstellung angeboten hat), ihren Lesern mitteilen, daß die ›selbstsüchtigen Stellenjäger‹, die in den Versammlungen das große Wort führten, von den Wählern aufs nachdrücklichste zurückgewiesen worden sind und daß ihre abscheulichen Versuche, die bisher herrschende Partei, die so selbstlos das Interesse der Gemeinde vertreten hat, zu zersprengen, doch im Sand verlaufen sind.

»Und muß man sich das gefallen lassen?« fragte Frau Bateman.

»Nein,« erwiderte der Richter mit festem Ton. »Wir werden in jedem Bezirk der Stadt allgemeine Volksversammlungen einberufen und wir – du und Fräulein Van Deusen sowohl wie ich und die andern – werden Reden halten und der Bürgerschaft sagen, was wir zu tun beabsichtigen und auf welche Weise es geschehen soll.«

»Noch nie in meinem Leben habe ich einer Versammlung von Männern gegenübergestanden, aber ich kann und werde es tun,« sagte Gertrud.

Von diesem Tag an gab es jeden Abend Zusammenkünfte, Beratungen und Vorversammlungen. Der »Atlas« war die einzige Zeitung, die offen für Gertrud eintrat, wogegen das Organ der Gegenpartei, »des Rings«, die »Frauenfrage« in den Schmutz zog und die übrigen Blätter sich vorsichtig zurückhielten. Aber der »Atlas« hatte die weiteste Verbreitung und beträchtlichen Einfluß auf die Bürgerschaft.

Der »Fortschrittliche Frauenverein« aber tat alles, was in seinen Kräften stand, um seinem Namen Ehre zu machen.

Jede der zweihundert Frauen arbeitete und sprach zu jeder Zeit und an jedem Ort. Sie besuchten Vorversammlungen, beriefen allgemeine Volksversammlungen ein in allen Bezirken der Stadt, sie stellten die Redner für diese Massenzusammenkünfte (und zwar die besten aus ihren eigenen Reihen), und sie besuchten und bearbeiteten persönlich Herausgeber und Schriftleiter der Zeitungen, sowie politische Führer, soweit sie deren irgend habhaft werden konnten. Gertrud Van Deusen erschien bei den meisten dieser Versammlungen in Begleitung von Frau Bateman, Frau Stillman und andern der führenden Damen von Roma auf der Rednerbühne, und eine Menge Stimmen wurden nach und nach für ihre Sache gewonnen, wenn sie mit ihrer hellen Stimme und ruhiger Unparteilichkeit den Ansichten der Tochter von Romas beliebtestem Senator Ausdruck verlieh. Selbst ihre nächsten Freunde waren überrascht von der Genauigkeit und Sachkenntnis, womit sie die Bedürfnisse der Stadt darlegte, und von der Einsicht, die sie in den jetzigen Zustand der Stadtverwaltung genommen hatte. »Dieses Frauenzimmer hat einen guten Kopf,« sagte ein Geschäftsmann zum andern, als sie aus einer der Versammlungen nach Hause gingen. »Wenn es ihr gelingt, die Mehrheit zu gewinnen, so möchte ich fast glauben, sie könnte es fertig bringen, Roma aufzurappeln und sich Geltung zu verschaffen. Ich habe selbst gute Lust, ihr meine Stimme zu geben.«

»Ah bah,« erwiderte der andre, »sie ist ja sicher soweit klug und scharfsinnig, wie es auch ihr Vater war, aber daraus kann man sich kein Urteil bilden. Lassen Sie die Macht in die Hände der Weiber kommen, so werden diese in Bälde so gut ihre Clique, ihre Parteiorganisation und ihre Führer haben wie die Männer. Und dabei würden sie uns ganz in Grund und Boden treten. Ich gebe keinem Weib meine Stimme.«

Der andre lächelte, denn er dachte an des Sprechers Haushalt, der aus einer angriffslustigen Frau und vier erwachsenen Töchtern bestand, aber er sagte nur: »Na, davon bin ich nicht ganz überzeugt, und schließlich wäre ein Wechsel der Führer vielleicht gar nicht so übel. Übrigens will es mich bedünken, als sei die Verschmelzung der Geschlechter und gemeinsame Arbeit heutzutage Trumpf – oder etwa nicht?«


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