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Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Eine gewagte Flucht

Gertrud!« rief er laut auf und stürzte aus sie zu, wobei sich keines von beiden bewußt wurde, daß sie ihre Hände fest ineinander verschlungen hielten.

»Ja,« sagte sie, »ich bin es.«

»Aber, was – wo – wo waren Sie all die Zeit?« stammelte Allingham. »Wie sind Sie hierhergekommen?«

»Durch Ihr Hinterfenster,« sagte Gertrud, »um Ihre letzte Frage als erste zu beantworten – die übrigen lassen sich nicht so kurzerhand erledigen, aber wenn Sie mich begleiten wollen, kann ich Ihnen den Ort zeigen und die arme Mary mit Ihrer Hilfe fortbringen, denn sie ist krank und gefangen! Aber es wird besser sein, Sie schaffen noch weitere Hilfe herbei, denn der Ort, wo wir gefangen gehalten wurden, wird bewacht.«

»Ich werde Bailey holen. Bitte, nehmen Sie Platz und warten Sie geduldig.«

Allingham geleitete sie zu seinem bequemsten Stuhl und versicherte ihr: »In zwei Minuten werde ich zurück sein.« Damit ging er hinaus und schloß die Türe fest zu.

»Wieder gefangen,« sagte Gertrud lachend zu sich selbst. »Aber diesmal in guter Hut, Gott sei Dank!«

Kaum sechzig Sekunden vergingen, ehe Allingham um die Ecke und in dem Spezereiladen war, wo Bailey versprochen hatte, auf ihn zu warten. Er war auch richtig da!

»O Bailey, sie ist in Sicherheit! Sie ist gefunden und befindet sich in meiner Kanzlei,« sagte Allingham rasch, mit gedämpfter Stimme.

»Mary? Gott sei Dank – wo?« fragte Bailey aufgeregt.

»Mary? Nein – Gertrud – Fräulein Van Deusen wollte ich sagen,« stotterte Allingham erstaunt. »Mary Snow ist noch immer irgendwo hier in der Nachbarschaft gefangen. Komm schnell! Ich werde wieder an den Polizeidirektor telephonieren – er kann jetzt noch nicht im Bett liegen.«

Mittlerweile waren sie schon vor der Kanzlei Allinghams angelangt, der nun den Schlüssel hervorzog und aufschloß.

»Wir müssen sie beide heute nacht noch nach Hause bringen,« bemerkte Allingham, während er die Türe öffnete.

»O Bailey!« rief Gertrud und stürzte ihm unwillkürlich entgegen. »Ich bin so glücklich, daß du gekommen bist!«

Und Bailey erwiderte: »O Gertie!«, zog sie in seine Arme und küßte sie zärtlich auf die Stirne. »O Gertie, wo hast du die ganze Zeit gesteckt und wo ist Mary?«

»Und wie sind Sie denn eigentlich hierhergekommen?« fragte Allingham, der diese Frage nicht unterdrücken konnte, obgleich ihn der zärtliche Kuß auf Gertruds Stirne fast gelähmt hatte. Also war es Bailey, dem es gelungen war, ihre Liebe zu erwerben, Bailey, den das Leben mit allem Glück überschüttete, den alle Frauen liebten und der von jedermann bewundert wurde! Aber er, Allingham, er war ein Esel – ein Narr –

So ging er eben möglichst ruhig ans Telephon und rief die Privatwohnung des Polizeidirektors an.

»Zu Hause? Gott sei Dank, ich hatte Angst, Sie seien schon zu Bett gegangen,« sagte er. »Also, Fräulein Van Deusen befindet sich hier in meiner Kanzlei – wie? Ja, ich sage: Fräulein Van Deusen ist hier. Ja, in meiner Kanzlei. Auf welche Weise? Weiß ich selbst noch nicht. Aber wir müssen Fräulein Snow sofort befreien. Kommen Sie so schnell wie möglich. Können Sie Ihre Leute noch zusammenkriegen? Ja, es ist gut. Wir werden hier auf Sie warten. Auf Wiedersehen!«

»Mach schnell, John,« sagte Bailey, »Gertruds Geschichte wartet auf dich. Jetzt, altes Mädel, schieß los!«

»Eine nette, respektvolle Weise, mit deinem Bürgermeister zu sprechen,« gab Gertrud zurück, der die Welt plötzlich größer und schöner erschien denn je zuvor.

Sie erzählte die ganze Geschichte von Anfang an und berichtete, wie sie und Mary Snow gefangen gehalten wurden und wie sie beide diese Tage verlebt hatten.

»Wir schrieben eine Unmenge Botschaften auf Papierblättchen, die wir aus Marys Notizbuch herausrissen,« fuhr sie fort, »und ließen sie zu dem obersten Fensterspalt hinausflattern oder schoben sie unter der Türe durch, aber nichts erfolgte darauf.«

Allingham reichte ihr das ausgebleichte Stückchen Papier, das noch immer auf seinem Schreibtisch lag.

»Das ist heute nachmittag hier hereingeflattert,« sagte er, »und war der erste Fingerzeig, den wir erhalten konnten.«

»Heute nacht haben wir die Nachbarschaft hier abgesucht,« ergänzte Bailey diese Mitteilung, »und morgen hätten wir euch unfehlbar gefunden.«

»Dann wollte ich, ich hätte gewartet,« entgegnete Gertrud. »Da, sieh mal meine Hände an.« Sie streckte ihm die Hände hin, die innern Handflächen nach oben gerichtet, und diese waren ganz rot und verschwollen. Allingham fühlte eine rasende Sehnsucht, sie zu fassen und zu küssen, wogegen Bailey sie ziemlich gelassen betrachtete.

»Hart für dich, Gertie – wie ist das gekommen?« fragte er.

»Nun, nachdem alle unsre Versuche, ein Lebenszeichen in die Außenwelt gelangen zu lassen, gescheitert waren, beschlossen wir, unsre Flucht auf andre Weise zu versuchen. Wir zerrissen alle unsre Bettücher, flochten sie zu einem starken Tau zusammen und befestigten dieses am Ablaufrohr der Küche. Mit unsern Nagelfeilen gelang es uns, das Gespinst aus Kupferdraht zu beseitigen, das an den Fensterrahmen angebracht worden war, und dann konnten wir aus dem untern Teil des Schiebfensters hinaussehen. Wir wollten gestern nacht beide herunterklettern, aber gerade gestern wurde Mary krank, und ohne sie wollte ich nicht gehen. Heute schien sie mir kränker statt besser geworden zu sein, und da kletterte ich hinunter, um Hilfe zu holen.«

» Sie sind an diesem Tau heruntergekommen – Sie selbst?« fragte Allingham.

»Ja, ungefähr wie ein Sträfling, der aus dem Zuchthaus entflieht,« antwortete Gertrud. »Natürlich hatte ich keine Ahnung, wo ich landen oder in wessen Hände ich fallen würde. Ich war überzeugt, daß wir bewacht würden, glaubte aber, nur an der Vordertür –«

»Herrgott, so mach doch voran,« unterbrach Bailey sie ungeduldig. »Hast du denn Mary in dieser Wohnung allein gelassen?«

»Natürlich,« entgegnete Gertrud. »Was blieb mir denn andres übrig? Aber statt in Feindesland sah ich mich bei einem barmherzigen Samariter.« Dabei lächelte sie Allingham so freundlich zu, daß sein törichtes Herz vor Freude hüpfte. »Als ich mit meinen Füßen den Boden berührte, befand ich mich, wie erwartet, auf dem Grund des Lichthofes. Ich sah mich um und suchte einen Weg, zu entkommen, und entdeckte dabei ein offenes Fenster. Ich stieg hinein – und hier bin ich?«

»Warum nur der Mensch nicht hergeht?« bemerkte Bailey ungeduldig. »Wenn ich denke, daß Mary krank und verlassen – Ach, da ist er ja!« rief er, als der Polizeidirektor eintrat, ganz begierig, Fräulein Van Deusens Hand zu schütteln und die Geschichte von ihrer Gefangenschaft und Flucht zu erfahren.

»Ein halbes Dutzend meiner Leute warten draußen,« sagte er, als er über die Hauptsache unterrichtet war, »und es liegt kein Grund vor, noch mehr Zeit zu verlieren. Kommen Sie!«

Sie gingen alle hinaus; Gertrud schritt mit Bailey voran, der die Sorge um sie so selbstverständlich in die Hand genommen hatte, daß Allinghams Hoffnungen wieder ganz tief sanken. Nur wenige Augenblicke später stiegen sie die Treppen des verhängnisvollen Hauses hinauf, denn der Fahrstuhl war zu dieser nachtschlafenden Zeit außer Tätigkeit gesetzt. Gertrud zeigte den Weg an das andre Ende des Flurs. Als sie näherkamen, huschte die dunkle Gestalt eines Mannes aus dem Schatten und schwang sich zu einem offenen Fenster hinaus.

»Schnell! Ihm nach!« schrie Bailey. »Soeben ist ein Mann aus diesem Fenster entflohen.«

Zwei der Polizisten rannten nach dem Fenster und wollten die Rettungsleiter hinab, allein ehe sie diese ganz erreicht hatten, war die fliehende Gestalt in ein offenes Fenster des fünften Stockwerkes geklettert und entwischt, ehe die Verfolger dies entdeckt hatten.

Oben drückte Bailey wie toll auf die elektrische Glocke; sie rüttelten an der Tür und taten alles, um Mary Snow zum Aufmachen zu veranlassen. Diese aber lag von tiefer Ohnmacht umfangen drinnen – sie hatte die Kommenden gehört und in Überschätzung ihrer Kräfte versucht, die Türe noch zu erreichen.

»Aufbrechen!« befahl der Polizeidirektor und im nächsten Augenblick hatten die Polizisten die Türe gewaltsam geöffnet und alle stürzten hinein.

»O Mary!« schrie Gertrud laut auf. »Sie ist ohnmächtig geworden! Tragt sie hier hinein,« und sie deutete dabei auf das Schlafzimmer. Im nämlichen Augenblick aber hatte sich Bailey schon zu dem bewußtlosen Mädchen niedergebeugt und hielt es fest im Arm. Er folgte Gertrud ins Nebenzimmer und legte Mary auf ihr Bett.

»So, nun geh hinaus!« befahl Gertrud, als sie sah, daß er sich noch immer über ihre Sekretärin beugte. »Ich muß einige Minuten allein mit ihr sein, werde dich aber rufen, sobald sie die Kraft hat, dich zu empfangen.«

Widerwillig entfernte er sich und begleitete die andern bei der Untersuchung der Örtlichkeiten. Mittlerweile wendete Gertrud einige harmlose Belebungsmittel an, und bald schlug Mary die Augen wieder auf.

»Nun ist alles gut!« rief Gertrud lächelnd. »Ich habe Hilfe gefunden, und wir gehen hier weg, sobald du dazu imstande bist! Also, bitte, rapple dich auf!«

»Wo ist Bailey?« war Marys einzige Antwort.

»Nebenan – ich werde ihn rufen,« erwiderte Gertrud, etwas erstaunt über die Aufnahme ihrer Neuigkeiten. Aber sie trat unter die Tür und winkte Armstrong, der draußen wartete, herein. Er kam sofort und zog die Tür hinter sich zu.

»Mary!« rief er in einem Ton, den Gertrud noch nie von ihm gehört hatte.

»Bailey!« erwiderte Mary, indem sie ihm beide Hände entgegenstreckte.

Nun endlich ging Gertrud ein großes Licht auf. Sachte verließ sie das Zimmer, aber die beiden sahen nicht einmal nach ihr hin und kümmerten sich nicht darum, was aus ihr geworden war.


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