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Siebzehntes Kapitel.
Eine aus dem Häuschen geratene Bürgerschaft

Genau eine Woche nach dem letzten Besuch Vickorys trafen sich der Bezirksanwalt und der städtische Syndikus in Gertruds Zimmer. Der erstere, Robert Joyce, war ein junger Mann, der sich erst noch seinen Namen zu machen hatte, und er begrüßte den Fall Vickory als eine ausgezeichnete Waffe, ihn sich zu erobern. Manche Leute wunderten sich darüber, wie er zu seiner Stellung gekommen war, aber bald hörte das Erstaunen auf, als man sich erinnerte, daß dies im Lauf des Winters geschehen war, als sich das allgemeine Interesse auf die Bürgermeisterwahl vereinigt hatte. Seine Ernennung war eine der Überraschungen, die der Wahlkampf mit sich brachte, allein sie wurde wenig besprochen, da man sich nur mit dem weiblichen Bürgermeister beschäftigte.

Auch jetzt sah er wieder eine günstige Gelegenheit vor sich und benützte sie. In der ganzen letzten Woche hatte er fast nichts getan, als sich mit der Prüfung des Vorstadtbahnprojektes befaßt; wie ein Jagdhund hinter seinem ersten Fuchs war er dahinter her und gönnte sich kaum die nötige Zeit zum Essen und Schlafen. Gertrud Van Deusen konnte sich keinen besseren Verbündeten wünschen als ihn, und das wußte sie. Er hatte schon so viele Beweise gesammelt und seinen Fall so durchgearbeitet, daß er sicher war, das Schwurgericht werde nicht nur Orlando Vickory, sondern auch Otis H. Mann, den Stellvertreter des Stadtvorstandes, zur Rechenschaft ziehen. Der Fall sollte am nächsten Morgen zur Verhandlung kommen.

»Ich muß Ihnen wirklich zu Ihrer raschen und tüchtigen Arbeit Glück wünschen, Herr Joyce,« sagte Gertrud. »Ich wollte die Sache gerne möglichst beschleunigt haben, und das haben Sie unzweifelhaft getan.«

»Herr Armstrong ist mir eine große Hilfe gewesen,« erwiderte Joyce. »Dank seinen Vorarbeiten hat es nicht lange gedauert, bis wir beide von den riesigen Durchstechereien überzeugt waren. Die Schwierigkeit lag nur im Erbringen des vollgültigen Beweises, aber das erledigt sich ja von selbst, wenn Sie nach wie vor bereit sind, vor Gericht als Zeugin aufzutreten.«

»Gewiß bin ich dies und ebenso Mary Snow,« antwortete Gertrud. »Ich sollte meinen, unser Zeugnis allein würde genügen.«

»Das wird es auch. Aber da wir nun einmal am Großreinemachen sind, wollen wir gründliche Arbeit tun und den Verbrechern keine Schlupfwinkel lassen. Vielleicht können wir einige der früheren Stadträte zum Geständnis bringen, worin sie vielleicht noch ihre einzige Rettung sehen. Aber all dies ist nur der Anfang. Wir müssen die Hauptperson kriegen, den Mann, der unterschlägt und besticht, wie den, der nimmt. Fordham, der Agent für die Roma-Telegraphengesellschaft, befindet sich auf der Heimreise von China, und er ist es, der den früheren Stadträten eintausend Dollars pro Kopf ausbezahlt hat. Vielleicht gibt er uns, um seine Haut zu retten, Auskunft über die Gelder, die seine Gesellschaft so freigebig an die Bürgermeister und Gemeinderäte verteilt hat. Denn die Telegraphenaktiengesellschaft besteht aus Männern der höchsten Gesellschaftskreise dieser Stadt, hat aber ihr Privilegium für die Kleinigkeit von tausend Dollars pro Kopf gekauft und wird ihre Bücher vorzeigen müssen, und wir werden die Schuldigen finden und vor Gericht ziehen können. Ich denke, im nächsten Monat werden wir mindestens vier dieser Pharisäer vor den Schranken des Gerichts sehen, das heißt, wenn meine Bombe nicht am unrechten Ort platzt und meine Pläne kläglich mißglücken.«

»Du siehst, daß wir lebhaften Zeiten entgegengehen,« fügte Bailey Armstrong hinzu. »Übrigens gibt es einen Mann, von dem sehr viel abhängt und den wir durchaus zum Geständnis bringen müssen. Es ist der Sohn von deines Vaters altem Kutscher – Fitzgerald.«

»Newton Fitzgerald?« fragte Gertrud. »Der nämliche, der auf der Südseite eine Wirtschaft hat?«

»Ja – und zu unserem Pech ist seine Schankgerechtigkeit vollständig in Ordnung,« erwiderte Bailey. »Er ist ein schwer zu beeinflussender Charakter, aber als Kind hatte er immerhin auch seine weichen Seiten. Glaubst du, Gertie, du könntest ihm beikommen?«

»Möglicherweise,« erwiderte Gertrud nachdenklich. »Als wir noch Kinder waren und in unserm Landhaus zusammen spielten, pflegte ich ziemlich viel Einfluß auf ihn zu haben. Erinnerst du dich, daß ich ihn dazu vermochte, regelmäßig in die Schule zu gehen, und ihn einige Male den Klauen des Schutzmanns entrissen habe?«

»Er pflegte damals auf dich zu schwören,« sagte Bailey, »könntest du nicht versuchen, ihn jetzt zum Reden zu bringen?«

»Ja, bringen Sie ihn zum Beichten, wenn Sie können,« fügte Joyce hinzu. »Versprechen Sie ihm Straflosigkeit, wenn er Ihnen alles sagt, was er weiß – und ich vermute, das wird eine ganze Menge sein.«

»Ja, das werde ich tun,« erwiderte Fräulein Bürgermeister. »Ich will sofort nach seinem Lokal telephonieren und ihn bitten, hier bei mir vorzusprechen.«

Sie berieten sich noch eine halbe Stunde, und als die beiden Männer schließlich gingen, waren ihre Pläne fix und fertig. Gertrud und Mary Snow sollten am nächsten Morgen vor Gericht erscheinen und ihr Zeugnis ablegen gegen die Betrüger – ein Zeugnis, das um so mehr Wert hatte, als sie alles aus Vickorys eigenem Mund vernommen hatten.

Sobald Gertrud allein war, nahm sie ihr Tischtelephon auf und ließ sich mit Newton Fitzgeralds Wirtschaft verbinden.

»Ist Herr Fitzgerald dort im Lokal?« fragte sie.

»Er ist soeben ausgegangen,« lautete die Antwort.

»Bitte, sagen Sie ihm, sobald er zurückkommt, er möchte auf das Rathaus kommen, ehe er nach Hause geht, weil Fräulein Van Deusen ihn gerne sprechen möchte.«

Damit hängte sie den Hörer wieder an und wendete sich der Erledigung der auf dem Schreibtisch ihrer harrenden Arbeiten zu. Bis fünf Uhr hörte sie nichts mehr, dann aber wurde sie angerufen und eine fremde Stimme sagte: »Herr Fitzgerald ist gefallen und hat sich das Bein verletzt, so daß er sofort zu Bett gebracht werden mußte, aber er läßt Sie bitten, noch heute abend bei ihm vorzusprechen, da er Ihnen über die schwebende Untersuchung einiges zu sagen hat.«

»Wo wohnt er denn?« fragte Gertrud zurück.

»In der Sutherlandvorstadt,« lautete die Antwort, »in dem großen Gebäude an der Rückseite des ›Amerikanischen Hauses‹.«

»Sehr gut. Sagen Sie ihm, ich werde in Begleitung von Fräulein Snow um acht Uhr bei ihm sein,« gab Gertrud zurück, rief dann Mary Snow und erzählte ihr von der Verabredung.

»Meinst du nicht, wir sollten noch jemand mitnehmen – einen Mann – Bailey Armstrong vielleicht?« fragte Mary.

»O nein,« entgegnete das Fräulein Stadtvorstand zuversichtlich. »Meiner Meinung nach würde Fitzgerald weder vor diesem, noch vor einem andern Mann sprechen. Er war wohl stets ein eigenartiger Junge, aber ich habe ihn richtig zu behandeln verstanden. Es wird besser sein, wir gehen in aller Stille allein hin und benützen nicht einmal den Wagen. Ich komme mit der Straßenbahn und treffe dich ein Viertel vor acht Uhr in Harnes Apotheke, und von da gehen wir dann so unauffällig wie möglich in Fitzgeralds Wohnung – ich kenne auch seine Frau.«

»Gut!« sagte Mary; denn wenn sie auch mit dem Plan nicht einverstanden war, so hatte sie sich doch dem Willen ihrer Vorgesetzten zu beugen und sagte nichts mehr.

Aber am nächsten Morgen brachten die Zeitungen eine oder vielmehr zwei neue aufregende Nachrichten – so aufregend, daß sie sogar den gelassenen alten »Atlas« aus der Fassung brachten. Entrüstete Bürger standen in Gruppen herum und fragten sich gegenseitig, ob denn jeder Sinn für Gesetz und Ordnung aus Roma verschwunden, ob man überhaupt auf den Straßen noch seines Lebens sicher sei und wie lange die Bürgerschaft sich noch von Schuften und Schwindlern nasführen lassen wolle, warum die Polizei nicht einschreite, und dergleichen mehr. Kurzum, jetzt endlich waren Romas Bürger, ob reich oder arm, aufgerüttelt worden.

Die aufregenden Nachrichten waren folgende:

Orlando Vickory war mit Hinterlassung seiner Bürgschaft verschwunden, und von dem Stadtoberhaupt und seiner Sekretärin hatte man nichts mehr gesehen und gehört, seit sie am Abend zuvor ein Viertel vor acht Uhr die Apotheke verlassen hatten, in der sie zusammengetroffen waren.


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