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Zwanzigstes Kapitel.
Erzwungene Ferien

Als Gertrud Van Deusen sich an jenem ereignisreichen Abend entschloß, Newton Fitzgerald aufzusuchen, war, wie bekannt, die Frage aufgeworfen worden, ob man nicht Bailey Armstrong auffordern sollte, die Damen zu begleiten. Da Gertrud aber hoffte, Newtons Vertrauen zu gewinnen, und nicht wünschte, daß auch noch andre von diesem Besuche hörten, hielt sie es für klug, nur mit Mary Snow und so unauffällig wie möglich hinzugehen. Und so trafen sich die beiden wie verabredet in der Apotheke und erregten nicht das mindeste Aufsehen.

Als sie an dem ihnen bezeichneten Ort ankamen, standen sie vor einem riesigen Häuserblock, in dessen unterstem Geschoß sich Läden befanden. Im Hausflur war niemand, als sie eintraten, nur neben dem Fahrstuhl stand ein Mann, der offenbar diesen zu bedienen hatte.

»Wohnt hier Newton Fitzgerald?« fragte Gertrud.

Der Mann deutete nur auf den Fahrstuhl, und im Nu befanden sich die jungen Mädchen im obersten Stockwerk.

»Bitte, hier!« sagte der Mann, führte sie durch einen schmalen Gang und drückte auf einen elektrischen Knopf, der sich an der letzten Türe rechter Hand befand.

Die Türe wurde sofort von einem sauber gekleideten irischen Dienstmädchen geöffnet, das sie in ein behaglich eingerichtetes Wohnzimmer geleitete.

»Bitte, nehmen Sie einstweilen Platz,« sagte das Mädchen, »ich werde in einer Weile zurück sein.« Sie sprach in irischem Dialekt, und deshalb schenkten die beiden Damen der sonderbaren Ausdrucksweise keine Beachtung. Einige Zeit warteten sie ruhig, aber niemand kam.

»Er scheint sehr krank zu sein,« sagte Mary Snow endlich, »denn es ist so merkwürdig still hier.«

»Wahrscheinlich,« stimmte Gertrud zu, »aber ich denke, man wird uns rufen, wenn man soweit fertig ist.«

Eine Viertelstunde, eine halbe, dreiviertel, eine ganze Stunde waren schließlich vergangen, ohne daß jemand kam. Eine bedrückende Stille lag über der Wohnung. Die elektrischen Lichter brannten hell, durch einen Fensterspalt kam ein frischer Luftzug herein, der Straßenlärm drang grell und aufdringlich zu ihnen herauf, aber sonst war kein Ton zu vernehmen – kein Kleiderrauschen, keine unterdrückten Stimmen, nicht das geringste Geräusch aus den anstoßenden Zimmern.

»Das ist doch sonderbar,« sagte schließlich Gertrud. »Newton muß sehr schwer krank sein oder es ist sonst etwas nicht in Ordnung.« Sie stand auf. »Ich denke, es ist am Ende besser, wir sehen nach. Es widerstrebt mir, mich einzudrängen, aber wir sollten heimgehen, denn ich sagte keinem Menschen, wohin ich gehe.«

»Auch ich nicht,« sagte Mary. »Ich dachte, wir würden um diese Zeit längst zurück sein. Ja, laß uns jemand suchen.« Sie öffneten eine Tür und kamen in ein Schlafzimmer, und von diesem in ein schmales Eßzimmer, an das eine kleine Küche stieß. Auch ein kleines Badezimmer war vorhanden, überall strahlten die elektrischen Lichter, aber von einem kranken Mann fand sich keine Spur.

Verblüfft und ängstlich starrten sie einander an.

»Es scheint, daß sie ausgegangen sind,« meinte Mary. »Sieh, hier ist noch ein weiteres Schlafzimmer – vielleicht befindet sich Fitzgerald hier.« Allein das Bett war ganz reinlich und weiß, aber völlig unberührt.

Gleichzeitig machten sie kehrt und gingen zu der Tür zurück, durch die sie hereingelassen worden waren – sie war verschlossen.

»Wir sind in eine Falle geraten,« sagte Gertrud leise, »laß uns die Örtlichkeiten genau untersuchen.«

Sie begannen eine neue Durchsuchung der Wohnung, öffneten Klosett- und Schranktüren, guckten in Geschirr- und Kleiderschränke und unter die Möbel. Sie gingen in die Küche zurück und probierten die Tür zur Hintertreppe, aber auch diese war verschlossen. Kein Mensch befand sich in der Wohnung, und es war kein Ausweg zu finden.

»Die Fenster,« sagte Gertrud, »an diesen muß es doch Rettungsleitern geben.«

Aber es gab eben keine. Sie vermochten auch die Fenster nicht in die Höhe zu schieben, obgleich sie sie ein wenig herabdrücken konnten, um von oben frische Luft hereinzulassen. Sie kletterten hinauf und blickten, so gut es ging, über den Fensterrand hinaus, entdeckten aber nur, daß sie sich im siebenten Stockwerk eines Hauses befanden und daß ihre ganze Aussicht auf einen Lichthof ging. Die Mietwohnung ihnen gegenüber stand leer.

Sie sahen auf ihre Uhren. Es war genau zehn Uhr – im nämlichen Augenblick verkündeten auch die Turmuhren diese Stunde.

»Wir wollen nach irgend einem Billett oder sonst einer Mitteilung suchen, aus der wir ersehen können, was wir zu erwarten haben,« schlug Mary vor. »Ich bin neugierig, zu erfahren, ob sie uns die ganze Nacht hier festhalten wollen.«

»Das ist ein heimtückischer Streich,« sagte Gertrud, »und niemand kann wissen, wie lange wir hier bleiben müssen – oder was uns sonst noch widerfahren wird. Ich bin nur froh, daß ich an diesen dachte, ehe ich mich heute abend allein auf den Weg machte.« Bei diesen Worten zog sie einen kleinen Revolver aus der Manteltasche.

»Gott steh' mir bei!« rief Mary. »Trägst du dies bei dir und verstehst du auch, es zu gebrauchen?«

»Ich habe den Revolver ständig bei mir getragen, als ich vor einigen Jahren mit meinem Vater Fußtouren in den Pyrenäen machte,« erwiderte Gertrud. »Ich habe ihn einmal mit großem Vorteil gebraucht und könnte es im Notfall wieder tun. Nun laß uns aber mal nachsehen, wie die Götter – oder Beelzebub – für uns vorgesorgt haben.«

Eine weitere Untersuchung ergab, daß ihre unfreiwillige Wohnung gut verproviantiert, gut eingerichtet und gut geheizt und beleuchtet war. Auch einige Bücher und Zeitschriften, ein Klavier, ein Schreibtisch und ein Paket Spielkarten waren vorhanden.

»Es scheint also doch, daß wir uns für den Augenblick auf etwas Einsamkeit gefaßt machen müssen,« meinte Mary lachend, »aber trotzdem würde mich keine Einkerkerung der Welt dazu bringen, meine Zeit mit diesem dummen Spiel zu vertrödeln.«

»Jedenfalls haben sie alles für einen längeren Aufenthalt vorgesehen, fürchte ich,« sagte Gertrud. »Ich habe so das Gefühl, daß wir nicht leicht wieder hier herauskommen werden. Wir müssen uns was ausdenken, um unsre Freunde wissen zu lassen, wo wir uns befinden.«

Aber auch da hatten ihre Kerkerwächter vorgesorgt. Es stand ihnen allerdings frei, Handtücher von ihren Fenstern oben herauszuhängen, – aber wozu, da sie doch von niemand gesehen werden konnten?

In dem Schreibpult befand sich kein Papier, aber Mary hatte glücklicherweise in ihrem Handtäschchen ein Notizbuch. »Wir wollen einen Zettel schreiben und unter unsrer Tür hinausschieben,« sagten sie – und taten es auch im Laufe der Woche wiederholt. Aber keine Antwort kam.

»Ich dächte, es sollte doch irgend jemand den Fahrstuhljungen fragen,« meinte Mary, »oder daß er es selbst zur Anzeige bringt, wenn er hört, daß wir vermißt werden.

»Das war gar nicht der richtige Fahrstuhljunge – verlasse dich darauf,« erwiderte Gertrud. »Es war einer der Mitverschworenen – falls eine Verschwörung existiert – und der wird schweigen. Ich glaube, daß Orlando Vickory hinter der Geschichte steckt.«

»Wollen wir heute nacht zu Bett gehen?« fragte Mary.

»Um keinen Preis,« entgegnete Gertrud. »Wir könnten ja doch unmöglich schlafen, und außerdem – könnte sich auch irgend etwas ereignen.«

Aber nichts ereignete sich. Die Nacht schien kein Ende nehmen zu wollen, aber endlich brach doch der Morgen an und die beiden Damen erhoben sich vom Sofa und Lehnstuhl. Wieder eilten sie ans Fenster, vermochten aber nichts zu erblicken als die kahle Wand des Lichthofes – sie waren gefangen und ohne jede Hilfe.

»Nun, wir müssen die Sache eben so lange wie möglich philosophisch auffassen,« sagte Mary. »In der Speisekammer befindet sich Kaffee und alles Frühstückszubehör, wie ich gestern nacht gesehen habe. Ich bin gewöhnt, mein leichtes Frühstück selbst zu bereiten – also wollen wir essen.«

Sie machten sich ihr einfaches Mahl zurecht, aßen und gingen dann ins Wohnzimmer zurück, um sich neuen Vermutungen hinzugeben und neue Pläne zu schmieden, wie sie eine Botschaft in die Außenwelt gelangen lassen könnten, allein es kam nichts dabei heraus. Sie vermochten nichts zu tun, als kleine Briefchen auf das aus Marys Notizbuch gerissene Papier zu kritzeln und diese von der Höhe der Fenster in den Lichthof flattern zu lassen, wo sie unbemerkt auf den Müllhaufen in den Ecken liegen blieben. Einförmig zog sich der Tag hin, dem ein zweiter und ein dritter folgten. Am vierten fanden sie unter der Tür einen Zettel, auf dem zu lesen war: »Öffnen Sie das kleine Türchen des Speiseaufzuges in der Speisekammer und Sie werden Lebensmittel finden.«

Sie befolgten diesen Rat und fanden einen Korb voll Obst, Sahne, Gemüsen und Fleisch. Dann schrieben sie einen flehenden Zettel, legten diesen in den Korb und versuchten, ihn hinabzulassen, aber sie konnten den Aufzug nicht bewegen. Dann ließen sie die kleine Türe offen, um zu beobachten, wann der Korb hinuntergelassen würde, aber dies geschah erst in der Stille der kommenden Nacht. Am vierten Abend erfolgte endlich die Antwort – falls der mit der Schreibmaschine geschriebene Zettel als solche anzusehen war; sie lautete: »Sie werden herausgelassen werden, sobald Fräulein Van Deusen ihre unterschriebene, durch einen Zeugen beglaubigte Rücktrittserklärung als Bürgermeister herunterschickt. Schieben Sie diese Erklärung unter die Türe und im nämlichen Augenblick wird sie sich öffnen.«

Als Gertrud dies las, wurde ihr Gesicht glühend rot und heiß. »Also auf diese Weise glauben sie, mich hinausdrängen zu können?«

»Du wirst aber nicht zurücktreten, Gertrud Van Deusen,« sagte Mary. »Lieber wollen wir hier bleiben und Hungers sterben. Irgend jemand wird uns schon irgend einmal entdecken.«

»Ich habe nicht die leiseste Absicht, zurückzutreten,« versicherte die andre. »So sind wir eben bis auf weiteres zwei Gefangene.«

*

»Ich möchte nur wissen, was sie drunten machen,« sagte Mary einige Zeit später.

»Wie oft, glaubst du, daß wir dies im Lauf der letzten Woche gesagt haben,« rief Gertrud lachend. »Wir haben den gewöhnlichen Straßenlärm vernommen und außerdem ein ungewöhnliches Glockenläuten, das vielleicht uns gegolten hat – vielleicht auch nicht.«

»Wenigstens haben wir sie noch nicht die Totenglocken für uns läuten hören,« unterbrach sie Mary, »das ist auch was wert.«

»Aber kein Fetzchen Papier, keine Zeile, kein Hauch – nichts hat uns von der Außenwelt erreicht – nichts als der Korb mit Nahrungsmitteln,« entgegnete Gertrud traurig.

»Und das Verlangen deines Rücktritts, nicht zu vergessen,« unterbrach sie Mary wieder. »Nun sag mal ehrlich, Gertrud, Hand aufs Herz, wünschest du nie, du hättest dich auf die ganze Sache niemals eingelassen, und meinst du nicht, daß du im schlimmsten Fall die Bürgermeisterstelle opfern würdest?«

Auf Gertruds Gesicht spiegelten sich die verschiedensten Gefühle. Einen Augenblick lang glaubte ihre Freundin, sie werde ihr eingestehen, daß sie einen Mißgriff begangen habe. Aber dann gewann der alte Geist wieder Macht über Gertrud, und sie warf den Kopf stolz in den Nacken, als sie sagte: »Das würde ich nie und niemand zugestehen, selbst wenn es der Fall wäre. Wenn die nächste Wahl kommt, dann –«

Ohne diese Bemerkung zu vollenden, griff sie nach einem Buch und begann zu lesen.

»Dieses ›Bestimmt zu überwinden‹, ist gar keine üble Geschichte, Mary,« sagte sie nach einiger Zeit. »Wenn ich solch eine romantische Liebesgeschichte lese, wünschte ich, ich wäre eine von den liebebedürftigen, heiratslustigen Frauen gewesen. So wie die Verhältnisse, so wie die Sachen liegen, Mary, will ich dir im Vertrauen sagen, daß ich glaube, ich werde Bailey heiraten, sobald wir hier heraus sind.«

Sie beachtete den Gesichtsausdruck ihrer Freundin nicht, sondern plauderte harmlos weiter. »Du weißt ja, daß er mich früher immer hat heiraten wollen. Allerdings hat er seit mehreren Jahren nicht mehr angefragt, aber er wird es sicherlich jetzt tun. Ein Mann wird immer um eine Frau anhalten, die er liebt, wenn sie ihm nur halbwegs entgegenkommt.«

»Warum hast du ihn nicht geheiratet?« fragte Mary mit tonloser Stimme.

»O, weil ich ihn nicht geliebt oder wenigstens geglaubt habe, ihn nicht zu lieben,« erwiderte Gertrud. »Auch war ich nicht völlig von seiner Liebe zu mir überzeugt, das heißt, er liebte mich nicht so, wie ich geliebt sein wollte. Wir sind von Kindesbeinen an gute Kameraden und eine Art Vetter und Base gewesen. Er stand mir so nahe oder näher als ein Bruder, und in diesem Sinn habe ich ihn auch geliebt.«

»Also liebst du ihn nicht – nicht eigentlich?« fragte Mary, und ein froher Klang tönte durch ihre Stimme.

»Nun ja,« erwiderte Gertrud mit sanftem Ton. »Ich liebe Bailey in gewissem Sinn – nur nicht mit der Leidenschaft, die eigentlich nur in Romanen vorkommt. Unter den glücklichsten Ehepaaren meiner Bekanntschaft beruht das Glück meistens nur auf gegenseitiger Achtung und gegenseitigem Vertrauen. Bailey ist durchaus zuverlässig, hilfreich und ehrenhaft. Ich habe es satt, allein in der Welt zu stehen, und ich denke es mir sehr angenehm, einen guten Gatten neben mir zu haben, der mich behütet und beschützt.«

»Das wird ja auch Wohl der Fall sein,« entgegnete Mary.


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