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Vierundzwanzigstes Kapitel.
Eine ehrliche Beichte

Im ersten freien Augenblick sahen Gertrud und Mary ihre Schreibtische durch und entdeckten, daß alle Notizen und Papiere verschwunden waren, die sich auf Vickory und die Vorstadtbahn bezogen, so daß nicht der mindeste Beweis mehr aufzubringen war außer ihrem gesprochenen Wort. Auch andre Dokumente waren verschwunden, und überall stieß man auf die vielfach verschlungenen Fäden der politischen Korruption. Gertrud ließ sofort Robert Joyce, den Distriktsanwalt, und Bailey Armstrong, den juristischen Beirat der Stadt, zu sich rufen, und sie berieten zusammen, bis die immer länger werdenden Schatten des Abends sie ans Nachhausegehen mahnten. Vorher aber ließen sie noch Otis H. Mann zu sich rufen und teilten ihm ihre Entdeckungen in schärfstem Tone mit, allein dieser Ehrenmann blieb so sanft und geschmeidig wie je zuvor.

»Ich gebe Ihnen mein Wort, meine Herren, und auch Ihnen, gnädiges Fräulein, daß nur die allernötigsten laufenden Arbeiten erledigt worden sind, seitdem ich vorübergehend die Stelle des Stadtvorstandes übernommen habe. Wir wollten keine grundsätzlichen Änderungen in Abwesenheit des rechtmäßigen Stadtvorstandes vornehmen, anderseits aber –«

»Was hat es denn mit dem Vertrag für eine Bewandtnis, über den Sie mit Watt unterhandelten?« unterbrach ihn Joyce.

»Und mit Mc Alisters neuestem Unternehmen, das er unter dem Namen Peter Grayson eingeleitet hat?« fügte Bailey hinzu.

Für einen Augenblick wurde Manns Gesicht etwas röter, als es für gewöhnlich war, aber dann fuhr er salbungsvoll fort: »Ein Mann, der von dem Vertrauen seines Bürgermeisters so gut wie ausgeschlossen war, kann es – falls er sich plötzlich zur Stellvertretung gezwungen sieht – nicht allen Leuten recht machen und –«

»O bitte, verschonen Sie uns,« schnitt ihm Bailey das Wort ab, »wir verlangen nur, daß Sie uns die fehlenden Papiere zur Stelle schaffen und ebenso den Dieb, mag er sein, wer und wo er wolle.«

»Meine Herren,« entgegnete der Stadtverordnetenvorsteher, »ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß das Fräulein Bürgermeister und ihre Sekretärin ihre Schreibtische ganz unberührt wieder überkommen haben. Ist etwas weggekommen, so ist der Diebstahl begangen worden, ehe ich hierherkam oder nachdem ich wieder hinaus war. Aber leider, Euer Ehren, habe ich um diese Zeit eine Besprechung verabredet, über eine mir sehr am Herzen liegende persönliche Angelegenheit, die mich zwingt, Sie für den Augenblick um meine Beurlaubung zu bitten. Es wird mir zur ganz besondern Ehre gereichen, Ihnen morgen vormittag zu jeder beliebigen Zeit aufzuwarten.«

»Wollen wir sagen um neun Uhr oder womöglich noch früher?« fragte Gertrud.

»Ja, wir müssen uns morgen früh unbedingt ans Werk machen,« erklärte Joyce.

»Gewiß, um neun Uhr oder auch halb neun Uhr – ganz wie es Ihnen beliebt,« erwiderte Mann. »Mittlerweile werde ich mir alle Mühe geben, mich auf die geringste Einzelheit zu besinnen, die mit diesem Amtszimmer in Verbindung steht, und ich bin gewiß, gnädiges Fräulein, daß ich Sie nicht erst meiner Ergebenheit für Sie und meine Vaterstadt zu versichern brauche – und nun habe ich die Ehre, mich zu empfehlen.« Er verbeugte sich tief und verschwand.

»Mag's sein, wie's will, mir gefällt sein Gesichtsausdruck nicht,« brummte Bailey.

»O, er hängt die Fahne viel zu sehr nach dem Wind, dieser Achselträger, als daß er jetzt, wo er sieht, daß die öffentliche Meinung auf unsrer Seite ist, noch etwas gegen uns unternehmen würde,« meinte Joyce. »Außerdem stehen auch die nächsten Wahlen vor der Türe.«

Gertrud sagte lächelnd: »Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß jemand seine Segel so nach dem Wind stellen könnte, nur um ein öffentliches Amt zu erlangen.«

»Daraus kannst du ersehen, wie gefährlich solche Neigungen sein können,« gab Bailey zurück, »kein Mensch weiß, wohin sie einen führen.«

»O, Fräulein Van Deusen wird ohne Gegenkandidaten gewählt, wenn die Zeit ihrer Wiederwahl kommt,« meinte Joyce.

An diese Bemerkung dachte Gertrud wieder, als sie abends in ihrem Bibliothekzimmer saß – zum ersten Male allein, seit sie zu ihrem Besuch bei Newton Fitzgerald aufgebrochen war.

»Nachdem ich meine Hand einmal an den Pflug gelegt habe,« sagte sie mit ihrem Lieblingsvergleich zu sich selbst, »darf ich sie nicht wegnehmen, ehe die Furche zu Ende gezogen ist. Aber ich kann vorwärtsschauen, und wenn ich in einigen Monaten noch lebe, so möchte ich wissen, ob irgend etwas oder irgendwer mich vermögen wird, mich zum zweiten Male aufstellen zu lassen. Im Augenblick glaube ich das nicht. Aber wieviel habe ich im letzten Jahre zugelernt! Natürlich kann ich das keiner Menschenseele anvertrauen – aber es wäre besser gewesen, John Allingham hätte mich besiegt! Ob er wohl das nächste Mal wieder auftreten wird?« Im Grund ihres Herzens wußte sie wohl, daß er sich ihr nie wieder entgegenstellen würde. »Er wäre das Ideal von einem Bürgermeister: mannhaft, ehrenhaft, furchtlos – ein Mann, der sich nur vor dem einen scheute – Unrecht zu tun. Ja, aber sollte es immer nur einem Mann vorbehalten sein, mit Männern fertig zu werden? Ich weiß es nicht!«

Die Jungfer trat ein.

»Ein Mann wünscht Sie zu sprechen, Fräulein Van Deusen,« meldete sie. »Er behauptet, er müsse das gnädige Fräulein unbedingt persönlich sprechen, – er heißt Fitzgerald – aber wenn Fräulein zu müde sind, sage ich ihm, er solle warten. Wenn gnädiges Fräulein entschuldigen wollen, daß ich es sage – aber ich meine, die Leute verlangen allzuviel von Ihnen und unser Fräulein ist jetzt abgehetzt genug.«

»Führen Sie ihn nur hier herein, Lizzie,« erwiderte Gertrud, »und sorgen Sie sich nicht um mich! Jetzt, wo ich wieder zu Hause bin, geht es mir ganz gut.«

Einen Augenblick später trat Fitzgerald ein, den Hut in der Hand.

»Entschuldigen Sie mich, Fräulein Van Deusen,« begann er, »aber ich habe Ihnen etwas zu beichten – und kann nicht warten bis morgen – da wäre es zu spät.«

»Kommen Sie nur,« sagte Gertrud gütig, »aber schließen Sie bitte die Türe zur Halle und dann setzen Sie sich hier neben mich.«

Der Mann tat, wie er geheißen worden, und zog sich einen Stuhl so nahe zu Gertrud, daß sie ihn verstehen konnte, auch wenn er nur mit leiser Stimme sprach.

»Fräulein Van Deusen,« begann er, »'s ist gerade, wie ich Ihnen sagte: ich hatte keine Ahnung von der Botschaft, die sie Ihnen schickten, noch von der Falle, die sie Ihnen gestellt hatten. Aber immerhin habe ich sonst ein gut Teil gewußt – und jetzt, wo er durchgehen will, – soll mich der Teufel holen, wenn ich Ihnen nicht alles sage.«

»Pst! Pst! Wer will denn durchgehen?« unterbrach ihn Gertrud. »Beruhigen Sie sich, Newton, und erzählen Sie mir alles.«

»Mann, der räudige Hund, nachdem er seine Taschen wohl gefüllt und Ihnen alles gebrannte Herzeleid zugefügt hat, das er nur konnte,« fuhr er fort. »Ich bin für ihn eingetreten, wo ich nur konnte, und habe ihn und seine Bande unterstützt und seine Handlanger in meiner Wirtschaft zugelassen, und nun ist er –«

Gertrud sah ein, daß es am besten war, den aufgeregten Mann nach seiner Weise erzählen zu lassen, und unterbrach ihn nicht mehr.

»Und weil Otis H. Mann, der ›Volksfreund‹, wie er sich selbst zu nennen pflegte,« erklärte Fitzgerald leidenschaftlich, »mit Sack und Pack die Stadt verlassen hat und von New York aus einen ausländischen Hafen zu erreichen hofft – deshalb sage ich jetzt alles.«

»Sagen Sie mir nur alles, was Sie wissen, Newton! Schon lange habe ich mich nach einem guten, langen Schwatz mit Ihnen gesehnt; aber bitte, fangen Sie mit dem Anfang an.«

»Na, natürlich wissen Sie, daß ich Demokrat bin und stets mit der Partei gestimmt habe, und ich hätte dies selbst gegen Sie getan, wenn es nicht um den Streich gewesen wäre, den sie Ihnen gespielt haben. Ja – ich meine den Abend vor der Wahl. Sie haben es alles in dem Herrenstübchen neben meiner Wirtschaft besprochen, und der Parteiführer war an jenem Abend selbst dabei.«

»Sie meinen Burke?« unterbrach ihn Gertrud.

»Nein – Mann. Burke steht immer unter seinem Befehl. Mag Burke tun, was er will, – Mann steht hinter ihm, und wenn es Burke gelingt, tausend Dollars zu ergattern, so hat Mann ganz sicherlich zweitausend. Also, wie gesagt, sie haben die Sache in meinem Lokal angezettelt. Mann und Burke waren dabei, Mc Adoo und außerdem ein oder zwei andre, und ich selbst – ich will mich nicht besser machen als die andern. Also, ich war dabei, nicht daß ich gegen Sie gewesen wäre, aber weil es in meinem Zimmer war, sie meine Getränke genossen, und weil ich auch sonst immer bei ihren Besprechungen war. Ich mißbilligte die Autos und Ihre Entführung ins Land hinaus, da aber Mann und Burke durchaus darauf bestanden, mußte ich nachgeben, aber damit Ihnen nichts geschah, wollte ich selbst mit dabei sein, denn daß ich Sie gesund und unversehrt wieder heimbrachte, wußte ich gewiß.«

»Wie, Sie waren dabei? Sie? Newton!«

»Ja,« erwiderte der Mann grimmig, »ich war Ihr Chauffeur. Einem andern hätte ich Sie nicht anvertraut. Meinen Sie, ich hätte alles vergessen, was Sie und Ihr Herr Vater für mich getan haben, als ich noch ein kleiner Balg war?«

»Newton, Sie haben einen merkwürdigen Begriff von Dankbarkeit,« sagte Gertrud lachend; »also Sie entführten mich, um mich zu beschützen.«

»So kann man's ungefähr ausdrücken – ich wußte nicht, was die andern tun würden, aber ich wußte gewiß, daß ich Sie sicher unversehrt heimbringen würde.«

»Woher haben Sie denn den Autotaxameter gehabt?«

»Mit dem war ich schon den ganzen Sommer zwischen hier und meiner Sommerwohnung in Itasca hin und her gefahren, und dort steht er auch seither. Den andern pumpten wir uns von einem Freund Manns, dessen Chauffeur auch fuhr. Der dritte Mann war Mc Adoo.«

»Dann haben also Sie mich – und – und – Herrn Allingham heimgebracht?«

»Ja. Die Maschine von Manns Freund ging ja kaput, und sie hatten alle Hände voll zu tun, damit die Trümmer am andern Morgen beseitigt waren, wozu Mann sehr behilflich war. Aber über Mann habe ich Ihnen mehr zu sagen. Sie müssen nicht Vickory vor Gericht ziehen, sondern Mann. Er hat die Stadt um mehr als hunderttausend Dollars geschädigt. Von den Eisenbahnunternehmern hat er allein schon über dreißigtausend eingestrichen. Vickory ist nur ein Werkzeug in seiner Hand. Falls Sie an seinem Köder angebissen und ihnen den Willen getan hätten, wäre Mann Generaldirektor geworden. Diese Stadtbahn hätte alle übrigen aufgeschluckt, und dann wäre er Präsident geworden. Noch jetzt hofft er, es zum Millionär zu bringen – und das wird er auch, wenn Sie ihn nicht fassen und zwar schnell – schnell.«

»Warten Sie nur – wir wollen Bailey rufen.« Sie klingelte am Telephon. »Aber Sie wußten doch nichts von der Falle, in die man Fräulein Snow und mich gelockt hat?«

Fitzgerald verneinte. Dann wartete er, bis sie Bailey Armstrong gebeten hatte, sofort zu ihr in ihre Wohnung zu kommen. »Nein,« fuhr er dann fort, »das schwör' ich Ihnen. Sie wußten, daß ich nicht für die gegen Sie geschmiedeten Pläne war, und weihten mich nicht mehr ein. Aber es ist ein Oberkellner in meiner Wirtschaft – oder vielmehr, er war da – und der hat sie in allem auf dem Laufenden gehalten. Als Sie mir damals telephonierten, hat er sie sofort benachrichtigt. Mann hat den Gedanken gehabt, Sie gefangen zu halten, und er hat sich alle Einzelheiten ausgedacht – ich habe dies eben erst ausfindig gemacht – und seit seiner Unterhaltung mit Ihnen heute nachmittag glaubt er, daß auch Ihnen ein Licht aufgegangen sei. So machte er sich mit seinem Koffer, der übrigens schon einige Zeit gepackt stand, davon, wozu er den ersten besten Zug nach Osten benützte. Er hat bei mir eine große Rechnung stehen – und schuldet mir mehr Versprechungen, als er je zahlen kann. Sein ganzes Wesen hat mich schon seit Wochen krank gemacht, und nun, wo er bewiesen hat, daß er der größte aller Feiglinge ist, bin ich direkt zu Ihnen gelaufen – und ich bin froh, daß ich's tat.«

»Wären Sie bereit, dies alles vor Gericht zu beschwören?« fragte Gertrud. »Denn so weit wird es kommen, Newton.«

»Dies alles und noch viel mehr,« erwiderte er. »Wenn es Ihnen gelingt, den räudigen Hund zu fassen, ehe er ins Ausland entflieht, werde ich gewißlich dafür sorgen, daß er dahin kommt, wohin er gehört. Ich habe es satt, im Schmutz zu leben, und sehne mich danach, wieder ein Ehrenmann zu werden. Ich will ein anständiger Bürger werden, schon um meines Buben und meines Mädels willen, das für Sie schwärmt, Fräulein Van Deusen – und auch ihre Mutter hält große Stücke auf Sie – und erst ich

»Davon bin ich überzeugt,« antwortete Gertrud, unwillkürlich lächelnd bei dem Gedanken an die Anhänglichkeit, die ihn bei jener denkwürdigen Fahrt veranlaßt hatte, ihren Chauffeur zu machen. »Ich werde mich von nun an unbedingt auf Sie verlassen, Newton.«

So kam es, daß Bailey mit dem Friedensrichter den Mitternachtszug nach New York benützte, von wo sie zur gegebenen Zeit nach Roma zurückkehrten, ihre Beute in Gestalt von Otis H. Mann mit sich führend.


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