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Sechstes Kapitel.
Ein politischer Kniff

Nach der Aufstellung John Allinghams entbrannte der Wahlkampf immer hitziger. Anstatt daß die Frauen alle Veranstaltungen den Männern überlassen hätten, waren sie zur Entfaltung einer geradezu wunderbaren Tätigkeit aufgepeitscht worden. Sie arbeiteten aber nicht nur unter den Männern ihrer Bekanntschaft, sondern hauptsächlich auch unter der arbeitenden Klasse. Nachmittags hielten sie Zusammenkünfte in den Fabriken oder in Schulen und sonstigen billigen Lokalen in der Nähe der Bezirke, wo die Arbeiter wohnten. Sie sprachen in großen Volksversammlungen und vor angesammelten Volkshaufen, und wenn sie sich auch nicht bei den Fackelzügen beteiligten, so sahen sie doch die vielen Banner mit den Wahlsprüchen der Frauen, die dabei mitgetragen wurden. Es war ein schwerer, aber guter Kampf, durch den die Sache der Frauen sowohl wie die einer guten Stadtverwaltung beträchtlich gefördert wurde.

Als Sam Watts sich eines schönen Tages mit wohlgefüllten Taschen in den Bezirk begab, wo die Arbeiter der Eisfabrik wohnten, fand er es nicht so leicht, sein Geld los zu werden, wie er geglaubt hatte. »Nein,« sagte ein Arbeiter zu ihm, »niemals! Ich werde nie vergessen, wie gut Fräulein Van Deusen gegen mich und die Meinen war.«

»O natürlich, ihr gehört die Eisfabrik,« gab Watts zurück, »die ist eine ihrer Unternehmungen; aber ihr Leute sollt doch auch daran denken, wie hart und schwer ihr Tag um Tag schuften müßt, um ihr ihren Luxus zu beschaffen – sehen Sie denn das nicht ein?«

»Ich sehe ein,« erwiderte der Mann, »daß sie wohl der einzige Arbeitgeber ist, der sich um unser Wohl und Wehe auch persönlich kümmert.«

»Ja, wenn es sich darum handelt, möglichst viele Stimmen zu fangen,« höhnte Watts.

»Hören Sie mal,« sagte der Arbeiter; »vor zwei Jahren, als wir den Streik anfingen und die Zeiten bös für uns waren, da kam sie direkt zu uns und half uns. Sie blieb nicht behaglich zu Hause sitzen und ließ uns die Folgen des Streikes tragen. Übrigens war ich selbst nie dafür gewesen, sondern tat nur mit, weil ich es der andern wegen mußte. Und sie schickte uns nicht einen Scheck, als ob wir Almosenempfänger wären, sondern sie kam in unsre Wohnungen und besprach sich mit unsrem Weibervolk. Sie erkundigte sich, wo es fehlte, und sorgte für das Nötige. Die ganze Nacht wachte sie bei dem Kind von einem der Streikleiter und hielt es auf dem Schoß. Na! Was hat sich der Mann am nächsten Tag geschämt! Und meine eigene Frau! Bester Mann, lassen Sie sich sagen! Als sie ihr Kind kriegte und wir keinen Pfennig Geld hatten, da sandte uns Gertrud Van Deusen eine Kindbettwärterin und einen Arzt und bezahlte sie selbst; aber was viel mehr ist als dies: sie kam zu uns und stand meinem Weib bei, die einst bei ihr im Dienst war, während der ganzen schweren Stunden. Glauben Sie, daß wir gegen eine solche Frau stimmen werden? Nein, Herr! Die Stimmen der Eisfabrik werden bis zum letzten Mann für sie abgegeben werden.«

So kam es, daß, während die Politiker der Stadtverwaltung sie als eine kaltherzige Aristokratin hinstellten, die armen Leute der ganzen Stadt irgend etwas zu erzählen hatten von ihrer oder ihres Vaters im stillen geübten Mildtätigkeit.

Gegen Ende des Wahlkampfes entstand ein allgemeines Verlangen nach einer gemeinsamen Versammlung. Fräulein Van Deusen war so und so oft auf der Rednerbühne erschienen und hatte ihre Stellungnahme gegenüber der städtischen Verwaltung in Roma ganz klar dargelegt. John Allingham hatte dasselbe getan, aber er hatte eine große Anhängerschaft unter den Geschäftsleuten der City, während die Demagogen ein furchtbares Hallo mit ihrem Kandidaten Barnaby Burke anstellten. Das Gefühl, daß man mit den Frauen einen Wahlkompromiß schließen müsse, wurde bei der Allinghamschen Partei immer stärker, aber die ersteren wollten die Kandidatur Gertrud Van Deusens um keinen Preis zurückziehen, und Allingham mochte, nachdem er einmal die Hand auf den Pflug der städtischen Verwaltung gelegt hatte, auch nicht mehr weichen.

Infolgedessen kamen die beiden Parteien überein, eine gemeinsame Massenversammlung abzuhalten und zwar an dem Montagabend, der dem Wahltag vorangehen sollte. Dieser Beschluß blieb nicht ohne Widerspruch bei beiden Parteien, und es gab auch Leute, die dunkle Andeutungen machten, die Sache werde ja doch nicht zustande kommen.

Den ganzen Montag, an dem abends die Debatte stattfinden sollte, arbeitete Gertrud Van Deusen in ihrer Bibliothek und bereitete sich auf ihre Rede vor. Sie hatte sich nach und nach an ihre eigene Stimme gewöhnt, so daß es ihr jetzt leicht fiel, vor einer aus allen Kreisen und Bildungsstufen zusammengesetzten Zuhörerschaft zu sprechen, aber diesen Abend stand ihr eine besondere Kraftprobe bevor, ein Wettstreit, vor dem sie sich eigentlich fürchtete, denn John Allingham war ein ausgezeichneter Redner mit ganz besondrer persönlicher Anziehungskraft und voll klarer Logik, der sofort unmittelbaren Kontakt mit seiner Zuhörerschaft fand. Obgleich Gertrud eher gestorben wäre, als daß sie es zugestanden hätte, erzitterte sie vor dem bevorstehenden Wettstreit.

Um sechs Uhr nahm sie ihre Mahlzeit mit so viel Ruhe ein, als unter den gegebenen Umständen möglich war, und zog sich dann für den Abend an. Sie gehörte zu den Frauen, die sich ganz klar darüber sind, daß die äußere Erscheinung auf die Zuhörerschaft unter Umständen ebensoviel Einfluß hat wie die Rede selbst, und deshalb zog sie ein Kleid an, das ihr besonders gut stand.

Um halb acht Uhr kam ihre Jungfer und meldete: »Man läßt das gnädige Fräulein abholen. Ein Automobil hält vor der Tür.«

»So, ich wußte nicht, daß mein Ausschuß mich abholen lassen wollte,« erwiderte Fräulein Van Deusen. »Ich habe den Wagen auf ein Viertel vor acht Uhr bestellt. Gehen Sie hinunter und fragen Sie den Chauffeur – doch nein, es ist einerlei – es wird ja alles in Ordnung sein. Ich werde mit dem Auto fahren. Lassen Sie also nur Thomas heraufkommen und sagen Sie ihm, daß er heute nacht nicht mehr anzuspannen braucht. Aber zuerst reichen Sie mir meinen Pelzmantel und ziehen Sie mir meine Überschuhe an.«

Das Mädchen gehorchte und fünf Minuten später wurde Gertrud Van Deusen von einem bis über die Ohren verhüllten und eingemummelten Chauffeur in ein Auto gehoben. Die Glastüren und Fenster waren so gut verwahrt, daß Gertrud sich beglückwünschte, vor der kalten, durchsichtigen Januarluft bewahrt zu sein und ihre Pferde ruhig in ihrem molligen Stall stehen lassen zu können. Und dann sausten sie davon.

Es vergingen mehrere Minuten, ehe Gertrud merkte, daß sie die Straße hinauf, statt hinunter fuhren, aber sofort fiel ihr ein, daß ja die Stadt einige der Straßen zwischen ihrem Haus und dem Versammlungslokal frisch pflastern ließ und daß diese deshalb gesperrt waren und der Chauffeur einen Umweg fahren mußte. Dadurch beruhigt, lehnte sie sich behaglich in ihrem Sitz zurück und begann sich ihre Rede noch einmal selbst zu überhören. Sie war damit beinahe zu Ende gekommen, als sie bemerkte, daß die Straßen, statt dichter angebaut zu sein, je näher sie ihrem Bestimmungsort kam, immer breiter wurden und nur ab und zu ein Wohnhaus zu sehen war. In einem rasenden Tempo fuhr das Auto immer weiter. Der Mond schien hell und der Himmel glitzerte von Sternen. Der durch die tolle Fahrt hervorgerufene Luftzug machte sich für Gertrud nicht fühlbar, weil sie so fest gegen die Außenwelt abgeschlossen war, aber durch die Glasfenster konnte sie die wundervolle ruhige Winternacht bewundern und sehen, daß sie mit unerlaubter Geschwindigkeit die Stadt verließen und ins Land hinausfuhren.

Durch die Glasscheiben konnte sie auch den Chauffeur beobachten, der regungslos, das Auge nur auf seine Maschine gerichtet, vorwärts eilte; und ein Gefühl des Entsetzens ergriff sie, als sie einsah, daß sie an einen ihr unbekannten Ort geführt wurde und allein und hilflos war. Sie rief dem Chauffeur, aber er schenkte ihr und ihrem Rufen nicht die geringste Beachtung. Sie rüttelte an den Türen ihres Autogefängnisses, aber sie konnte sie nicht offen kriegen. Wiederum klopfte sie an die Glasscheibe, die den Führer des Motors von ihr trennte, aber er nahm genau so viel Notiz von ihr als etwa von einer Motte, die in sein Licht flatterte.

Und die ganze Zeit über raste man weiter, weiter, weiter, und das Mondlicht strahlte hoch oben über dem Glast der elektrischen Lichter. Man schnaufte durch die Vorstädte, an reizenden, einsam gelegenen Bauernhöfen vorbei, bis in die Waldwege, die zu einer mindestens fünfzehn Meilen entfernten Nachbarstadt führten. Sie rief wieder und immer wieder, sie schlug mit dem silbernen Schloß ihrer Börse – dem einzigen Gegenstand, womit sie Lärm machen konnte – gegen die Glasscheibe, aber immerzu saß der Chauffeur so gelassen auf seinem Sitz, als wäre er mutterseelenallein. Sie stand auf und rief den Kutscher eines Fuhrwerkes an, während er an ihr vorüberfuhr; sie versuchte die Aufmerksamkeit einsamer Fußgänger auf sich zu lenken, aber ihr Auto flog so rasch vorüber, daß sie außer Ruf- oder Sehweite war, ehe den Leuten ihre Gegenwart zum Bewußtsein kommen konnte.

Dann sank sie erschöpft zurück. Jetzt wurde ihr klar, daß sie das Opfer eines Kniffs der Gegenpartei geworden war. Sie sah auf ihre Uhr – ein Viertel auf neun – gerade jetzt hatte sie ihre Rede halten sollen. Nun konnte John Allingham ohne Zweifel erreichen, was er wollte. Möglicher-, ja wahrscheinlicherweise steckte er hinter dieser Entführungsgeschichte, weil er sich fürchtete, einer Frau auf öffentlicher Rednerbühne entgegenzutreten. Jawohl, mochten sie die Sache bemänteln, wie sie wollten, und hundertmal behaupten, er wolle sich nicht mit einer Frau herumstreiten! Einfach verächtlich!

Und weiter, immer weiter flogen sie in der leuchtenden mond- und sternenhellen Nacht, hinaus aus dem schönen Waldweg, meilen- und meilenweit am Fluß entlang.

Wenn sie nicht gesonnen waren, mit einem Weib zu verhandeln, ja, warum sagten sie es nicht einfach und offen? Warum sich so tief erniedrigen und eine Frau entführen, um dem Kampf mit ihr zu entgehen? Wenn John Allingham ein Mann dieses Schlages war, dann –

Jetzt bogen sie in einen Kreuzweg ein, der aufwärts in einen andern Wald führte. Die Schatten großer Fichten und Eichen verliehen ihm das Aussehen eines Tempels, in dessen hohes Gewölbe sie einzufahren schienen. Gertrud sah nichts, und der regungslos vor ihr sitzende Automat schien ebenfalls nichts zu sehen – wenigstens nicht das andre Auto, das bergab auf sie zuglitt. Es gab einen Zusammenstoß und einen Krach, und alle zusammen stürzten sie auf die Erde.

Gertrud Van Deusen war innerhalb ihres Gefängnisses unverletzt geblieben, aber ihr Chauffeur war wenigstens aus seiner stoischen Ruhe aufgeschreckt worden.

Er arbeitete sich selbst unter dem Wagen hervor und beeilte sich, die Türe zu öffnen.

»Sind Sie verletzt?« fragte er, zum ersten Male während der Fahrt von zwanzig Meilen den Mund öffnend.

»Ich weiß es nicht – glaube aber nickt. Jedenfalls lassen Sie mich jetzt aussteigen,« erwiderte sie.

Er zog sie heraus, und endlich fühlte sie wieder Grund unter den Füßen. Plötzlich vernahm man ein Stöhnen.

»Was ist das?« rief sie. »Da muß irgendwo ein Mensch verwundet sein! Wir müssen sofort zu ihm! Beeilen Sie sich!«

Mittlerweile war der Führer des andern Kraftwagens unter diesem hervorgekrochen und stand wieder auf seinen Füßen. »Es ist Allingham,« sagte er in ganz entsetztem Ton, »er liegt unter –«

»Dann ziehen Sie ihn sofort hervor – schnell!« schrie Gertrud. Ihre Ruhe und Geistesgegenwart wirkte auf die zwei Männer, und sie machten sich daran, den armen Dulder zu befreien. Aber es war Gertrud Van Deusen, die sie anleitete und schließlich den Verunglückten unter dem zertrümmerten Wagen hervorzog, während die beiden Chauffeure die Last über ihm emporhoben.

Es war John Allingham – völlig bewußtlos.


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