Christoph Martin Wieland
Göttergespräche
Christoph Martin Wieland

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Jupiter. Bedenke, was bei einer solchen Revolution dem Drang der Umstände, der Verschiedenheit der Vorstellungsarten, und dem ewigen Streite, worin Privatvorteile und gemeines Bestes mit einander verwickelt sind, zugerechnet werden muß! Bedenke, daß auch die redlichsten und weisesten Menschen nur Menschen sind! Man wollte anfangs nur so weit gehen als die Not erforderte, und wurde durch die unaufhaltbaren Wogen der Zufälle weiter fortgerissen. Ohne eine Revolution konnte dem Staate nicht geholfen werden; eine Revolution aber war nur durch überwiegende Gewalt möglich. Wenn ein Staat nur noch durch die Fesseln, die man seinen Bürgern angelegt hat, zusammen hängt: so wird er freilich aufgelöst, so bald diese Fesseln zerbrochen werden. Ist es mit einer Regierung so weit gekommen, daß sie sich nur noch durch Mißbräuche erhält, und alle ihre Stärke nur von ihnen zieht: so muß notwendig auf die Abstellung dieser Mißbräuche ein Augenblick von Stockung erfolgen; und das kann, nach Beschaffenheit der Menschen und der Umstände, ein sehr langer Augenblick sein. Aber wenn ein so aufgeklärtes, so edler Gesinnungen, so warmer Menschengefühle fähiges Volk, wie das Französische, nur einmal den großen Punkt gewonnen hat, frei zu sein: so verlaßt euch darauf, es wird die Kräfte, die es nun ungehindert gebrauchen darf, endlich zu seinem wirklichen Besten gebrauchen lernen. Alles will gelernt sein, sogar das Leben. Recht zu leben wissen, ist eine schwere Kunst; die Menschen recht zu regieren wissen, die schwerste unter allen. Ich selbst (unter uns gesagt) habe das beste, was ich davon weiß, erst durch Fehlermachen gelernt; und ich zweifle sehr, daß es den Westfranken anders gehen werde.

Numa. Eine Gesetzgebung für ein frei gewordnes Volk, das durch lange Kultur so weit von der ursprünglichen Einfalt der Natur entfernt worden ist, daß Vorurteile nichts mehr über seinen Kopf, religiöse Gefühle wenig oder nichts mehr auf sein Gemüt vermögen, ist eine schwere Aufgabe, deren Auflösung jetzt zum ersten Male versucht wird. Der Gesetzgeber ermangelt dabei aller der Vorteile, die ich von der Roheit der Romuliden, und von der treuherzigen Einfalt meiner Sabiner zog. Die Überzeugung, welche seine Gesetze mit sich führen müssen, – »daß ein jeder sein möglichstes Privatinteresse nicht anders, als mit den Aufopferungen, die das allgemeine von ihm fordert, erzielen könne«, – diese Überzeugung muß Alles tun. Aber um auf sie rechnen zu können, müßte man nicht nur gewiß sein, daß sie allgemein und vollkommen sei, sondern auch, daß die Bürger sich immer in demjenigen Zustande befinden werden, worin die Vernunft über alle Leidenschaften und sinnlichen Reize das Übergewicht hat; eine Voraussetzung, die in der Anwendung sehr unrichtige Resultate geben wird. Zwar hört es sich einem Redner sehr angenehm zu, der – von der göttlichen Schönheit der Tugend, und von der heroischen Größe des Mannes, der kein Opfer für sein Vaterland zu kostbar findet, bloß für andere lebt und immer für andre zu sterben bereit ist – mit Gefühl und Begeisterung spricht: aber kein verständiger Gesetzgeber wird die Verfassung eines Staats auf sein Vertrauen in die Weisheit und Tugend seiner Bürger gründen.

Jupiter. Wie würdest du es also anfangen, Numa, wenn du auf die Erde zurückkehren müßtest, um den Westfranken Gesetze zu geben?

Numa. Ich würde mir den Auftrag, wo möglich, verbitten, Jupiter; wofern dies aber nicht anginge, mich nicht verbunden halten, das Urbild der vollkommensten Gesetzgebung für sie vom Himmel zu stehlen, sondern genug getan zu haben glauben, wenn ich ihnen (wie Solon den Athenern) die besten Gesetze gäbe, deren sie gegenwärtig fähig wären.

Jupiter. Du würdest also, wie es scheint, einen ganz andern Weg einschlagen, als die Philosophen und Physiokraten, die jetzt im Besitze des Gesetzgebens in Frankreich sind?

Numa. Ich würde mich wenigstens hüten, kein eingeführtes Gesetz eher abzuschaffen, bis ich gewiß wäre, daß ich es auch nicht einen einzigen Tag länger nötig haben könnte. Ich würde mich hüten, den rohesten Teil des Volks (der doch immer die meisten und derbsten Fäuste hat) von alten Pflichten zu entbinden, eh ich mich hinlänglich versichert hätte, daß sie sich den neuen, die ich ihnen dafür auflegte, willig und unverzüglich unterwerfen würden. Ich würde, wenn ich notwendig voraus sehen müßte, daß meine Gesetzgebung einer ansehnlichen und mächtigen Partei nicht angenehm sein könne, mich sehr hüten, diese Partei noch absichtlich ohne alle Not zu erbittern; sondern sie vielmehr auf alle nur ersinnliche Weise zu gewinnen, und für die Aufopferungen, die sie dem Staate machen müßte, zu entschädigen suchen. Ich würde nicht Alles auf einmal tun wollen, sondern eine Verbesserung nach und nach die andere herbei führen lassen; und während ich mich bloß mit den unaufschieblichsten beschäftigte, zufrieden sein, zu den andern, die ich der Zeit und der künftigen Erfahrung überließe, den Grund gelegt, oder den Weg gebahnt zu haben. Und hauptsächlich würde ich mir selbst zum unverbrüchlichen Gesetze machen, keine Gesetze – in der Trunkenheit zu geben.

Merkur. Der ehrwürdige Numa scheint mir da, mit der unschuldigsten Miene von der Welt, eine scharfe Satire auf meine Freunde hier unten gemacht zu haben.

Numa. Eine Satire? Hab ich nicht schon gestanden, daß ich das Werk, dem sie sich unterzogen haben, für das schwerste halte, dessen Götter oder Menschen sich unterfangen können? Kann man ohne Unbilligkeit fordern, daß ihr erster Versuch fehlerlos sein soll?

Merkur. Diejenigen, denen dieser Versuch Ansehen, Vermögen, oder gar den Kopf kostet, sind freilich geneigt zu glauben, daß sie die Fehler, die dabei begangen werden, etwas teuer bezahlen müssen.

Numa. Dafür sind es auch nicht immer die Weisesten, welche die Mehrheit der Stimmen machen. Und kann ihnen dies zum Vorwurf gereichen? Hat es jemals eine freie Nation gegeben, die sich dieses Vorteils rühmen konnte?

Jupiter. Nicht daß ich wüßte! Wir wollen also, weil doch unter dem Mond und über dem Mond nichts ganz vollkommen ist, von den wackern Männern da unten keine Wunder erwarten, und uns übrigens freuen, daß alles (trotz dem Regenwetter und dem bösen Willen der Aristokraten) so ruhig und fröhlich abgelaufen ist. Die Konstitution wäre also beschworen, und es käme nun bloß noch darauf an, ein ehrliches Mittelchen ausfündig zu machen, wie fünf- oder sechstausend Millionen Livres Schulden bezahlt, die ungeheuern Verbindlichkeiten, womit die neuen Gesetzgeber die Nation bereits belastet haben, erfüllt, und überdies noch die Einkünfte, die der Staat zu seinen ordentlichen und zufälligen Ausgaben nötig hat, aufgebracht werden können, ohne dem Volke mehr aufzulegen als es zu tragen Lust hat? – Was meinst du, Heinrich? sollte nicht die Auflösung eines solchen Problems deinem Sully, eben so gut als dem ehrlichen Necker, schlaflose Nächte gemacht haben?

Merkur. Ich fürchte, die armen Westfranken werden sich um einen Finanzminister umsehen müssen, der, wie König Midas, die Gabe habe, alles was er anrührt in Gold zu verwandeln.

Heinrich IV. Ohne die unerschöpflichen Hülfsquellen, womit die Natur das Land und die Einwohner begabt hat, würde ihnen auch ein solcher Goldmacher wenig helfen; mit jenen hingegen werden sich fünfundzwanzig Millionen Menschen auch ohne diesen aus der Verlegenheit zu ziehen wissen! Zumal da noch eine sehr ergiebige Quelle übrig ist, an welche noch niemand gedacht zu haben scheint.

Merkur. Oder vielleicht nicht denken wollte? Denn ich glaube sie zu erraten.

Heinrich IV. Man hat die Klerisei aus ihren Gütern heraus geworfen, und auf sehr mäßige Besoldungen gesetzt; man hat den Adelstand nicht nur zu großen Aufopferungen genötiget, sondern sogar aller mit dem Blute seiner Vorfahren erkauften Vorzüge beraubt; – und die Kapitalisten, die in den letzten funfzig Jahren unermeßliche Reichtümer auf Unkosten der Nation zusammen spekuliert haben, sollten allein ruhige Zuschauer der Not des Vaterlandes abgeben dürfen, und für seine Rettung nichts aufopfern müssen? Dann wäre das, was man dem Adel und der Priesterschaft genommen hat, nicht Opfer, sondern Raub! Einer so groben Versündigung gegen die festgestellte Gleichheit der Rechte und Pflichten können sich die Gesetzgeber nicht schuldig machen; oder wenn sie dessen fähig wären, wie könnte die Nation dazu stille schweigen? Laßt die reichen Gläubiger des Staats – nach Abzug dessen, was sie mit ihren auf das bloße Unentbehrliche eingeschränkten Mitbürgern auf gleichen Fuß setzt – nur die Hälfte ihrer Forderung nachlassen; so ist Frankreich gerettet, und ich kann noch hoffen, die Zeit zu sehen, da ein jeder Bauer des Sonntags sein Huhn in seinem Topfe haben wird!

Jupiter. Diese Zeit mag wohl, seit euere Bauern keine Abgaben mehr bezahlen, schon gekommen sein; die Frage ist nur, wie lange sie dauern wird, und wie indessen den armen Bürgern, die kein Landeigentum haben, zu helfen sei. – Merkur! siehe doch wer der Schatten ist, der sich vorhin, als der König schwor, plötzlich mit Unwillen wegwandte, und in diesem Augenblick auf dem Platze Vendome neben Ludewigs XIV. Bildsäule steht, und mit ohnmächtigem Fuße die Erde stampft. – An seiner Gestalt, und an dem Ehrfurcht gebietenden Anstand eines tragischen Tyrannen, der ihm zur Natur geworden zu sein scheint, sollte man ihn für Ludewig XIV. selbst halten.

Merkur. Er ist es auch.

Jupiter. Geh und bring ihn hierher!

Sankt Ludewig. Für einen König, der sich so gern mit der Sonne vergleichen ließ, sieht er ziemlich finster aus.

Jupiter. Er hinterließ seinen Nachfolgern große Beispiele – zur Nacheiferung und zur Warnung. Wenn sie nicht weiser dadurch geworden sind, so ist es wenigstens nicht seine Schuld.

Ludewig XIV. indem er langsam herbei schwebt, vor sich. Daß ich mich selbst überleben mußte, um das königliche Ansehen, das durch mich den Zenit seiner Höhe erreicht hatte, so tief in den Staub gedrückt zu sehen!

Jupiter lächelnd. Darf man fragen, majestätischer Schatten, warum du vorhin so unmutig auf die Erde stampftest, als du deine Augen auf das Fußgestell deiner Bildsäule fallen ließest?

Ludewig XIV. Wenn du Der bist, der du zu sein scheinst, wie konntest du einen gelaßnen Zuschauer bei einem Schauspiel abgeben, das alle Könige zur Rache auffordert? Aber vermutlich hat sich der Dämon der Demokratie auch des Olymps bemächtiget, und auch Jupiter ist dahin gebracht, zu allem, was seine Untertanen wollen, Ja zu sagen.

Jupiter. Du bist nicht bei guter Laune, König Ludewig, sonst würde mir ein so höflicher Mann, als du immer gewesen bist, die Antwort nicht schuldig geblieben sein.

Ludewig XIV. Wie? Ich sollte mir noch bewußt sein wer ich war, und sollte den Französischen Namen, vor welchem ich den ganzen Erdboden zittern lehrte, in einem einzigen Jahrhundert so tief herab gewürdiget sehen, ohne vor Scham und Unwillen zu glühen? – Was fehlte dieser einst so glorreichen Nation, nachdem sie alles Ansehen von außen, alle Würde von innen verloren hat, und durch Aufhebung des Unterschiedes der Stände den Kaffern und Kaliforniern gleich gemacht worden ist, was fehlte ihr noch, um sie bis zu ihrem ersten vierbeinigen Stande zu erniedrigen, um ihre völlige Rückkehr in die Wälder zu beschleunigen, als daß die Barbaren ihre frevelhaften Hände auch nach den Meisterstücken der Kunst ausstreckten, und, durch Wegschaffung der vier gefesselten Figuren zu den Füßen meiner Bildsäule, das prächtigste Denkmal meiner Siege zu verstümmeln sich erfrechten?

Jupiter. Gib dich zufrieden, König Ludewig! Sie sind immer noch sehr artig gewesen, daß sie wenigstens deine eigene stehen ließen. Was den Frevel betrifft, den sie an den verhaßten Bildern der Sklaverei, die zu deinen Füßen lagen, begangen haben, und den du für ein Zeichen von so böser Vorbedeutung ansiehst: so kann ich dir zum Troste melden, daß sie dafür das Marsfeld in einen Circus verwandeln werden, der den herrlichsten Werken, wodurch die alten Cäsarn ihres Namens Gedächtnis stifteten, an Größe und Pracht der Ausführung den Vorzug streitig machen wird. – Zu den übrigen. Es ist nun Zeit zurückzukehren, meine Kinder. Du, Heinrich, begleitest uns. Deine Tugenden und Verdienste hätten dir schon lange einen Platz im Olymp verschaffen sollen. Von dem neuen Rom konnte sich freilich der Liebhaber der schönen Gabriele keine Apotheose versprechen: aber das soll dich nicht hindern mein Tafelgenoß zu sein, und bei uns unter deines gleichen zu leben! Denn du wirst da noch mehrere finden, von welchen gleich dieser ehrwürdige Sabiner einer ist, er deutet auf Numa, die ihren Platz unter den Göttern nicht dem wenig zuverlässigen Urteile der Menschen, sondern bloß dem unsrigen und sich selbst zu danken haben. Wer sollte ein Gott zu sein verdienen, wenn es nicht diejenigen verdienten, die den Menschen am meisten Gutes getan haben? – Gehab dich wohl, wenn du kannst, Ludewig der Große! Ihr übrigen folget mir.


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