Vineta
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Es war in den Vormittagsstunden eines kühlen, aber sonnigen Maitages, als der Administrator von L. zurückkehrte, wo er seine Kinder abgeholt hatte. Herr und Frau Professor Fabian befanden sich bei ihm im Wagen. Dem Professor schien die neue akademische Würde recht gut zu bekommen und die Ehemannswürde ebenfalls. Er sah wohler und heiterer aus als je. Seine junge Frau hatte mit Rücksicht auf die Stellung ihres Gatten eine gewisse Feierlichkeit angenommen, die sie möglichst zu behaupten strebte, und die einen komischen Gegensatz zu ihrer jugendlich frischen Erscheinung bildete. Zum Glücke fiel sie sehr oft aus ihrer Rolle und war dann ganz und gar wieder Gretchen Frank, in diesem Augenblicke aber herrschte die Frau Professorin vor, die mit sehr viel Haltung neben ihrem Vater saß und ihm von ihrem Leben in J. erzählte.

»Ja, Papa, der Aufenthalt bei dir wird uns eine rechte Erholung sein,« sagte sie und fuhr sich mit dem Taschentuche über das blühende Gesicht, das nichts weniger als erholungsbedürftig aussah. »Wir von der Universität werden ja fortwährend von allen nur möglichen Interessen in Anspruch genommen und müssen überall unsre Stellung vertreten. Wir Germanisten stehen ja überhaupt im Vordergrunde der wissenschaftlichen Bewegung.«

»Du scheinst mir allerdings sehr im Vordergrunde zu stehen,« meinte der Administrator, der mit einiger Verwunderung zuhörte. »Sage einmal, Kind, wer sitzt denn eigentlich auf dem Lehrstuhle in J.? Du oder dein Mann?«

»Die Frau gehört zum Manne; also kommt das auf eins heraus,« erklärte Gretchen. »Ohne mich hätte Emil die Professur überhaupt gar nicht annehmen können, so bedeutend er auch als Gelehrter ist. Professor Weber sagte ihm noch vorgestern in meiner Gegenwart: ›Herr Kollege, Sie sind ein Schatz für unsre Universität, aber für das praktische Leben taugen Sie ganz und gar nicht; darin wissen Sie sich nicht zurechtzufinden; es ist nur ein Glück, daß Ihre junge Frau Sie darin so energisch vertritt.‹; Er hat auch vollkommen recht – nicht wahr, Emil? Ohne mich wärst du in gesellschaftlicher Hinsicht verloren.«

»Ganz und gar!« bestätigte der Professor gläubig und mit einem Blicke dankbarer Zärtlichkeit auf seine Gattin.

»Horst du, Papa, er sieht es ein,« wandte sich diese an ihren Vater. »Emil ist einer von den wenigen Männern, die es begreifen, was sie an ihrer Frau haben. Hubert hätte das nie gethan – Apropos, wie geht es denn eigentlich dem Assessor? Ist er noch immer nicht Regierungsrat?«

»Nein, noch immer nicht! Und aus Groll darüber hat er seine Entlassung genommen. Mit dem Beginne des nächsten Monats verläßt er den Staatsdienst.«

»Welch ein Verlust für die Ministersessel unsres Landes!« spottete Gretchen. »Er hatte einen davon bereits für die Zukunft mit Beschlag belegt und probierte regelmäßig die Ministerhaltung, wenn er in unserm Wohnzimmer saß. Plagt ihn noch immer die fixe Idee, überall Verschwörer und Hochverräter zu entdecken?«

Frank lachte. »Das weiß ich wirklich nicht, denn ich habe ihn seit deiner Verlobung kaum gesehen und nicht ein einziges Mal gesprochen. Seitdem hat er mein Haus in Acht und Bann gethan, nicht ganz mit Unrecht. Du hättest ihm die Nachricht auch wohl schonender mitteilen können. Wenn er jetzt nach Wilicza kommt, was nicht oft geschieht, so steigt er unten im Dorfe ab, ohne den Gutshof zu betreten. Ich bin der Verhandlungen mit ihm überhoben, seit Herr Nordeck die Polizeiverwaltung selbst in Händen hat. Uebrigens kann der Assessor jetzt für einen reichen Mann gelten; er war ja der Haupterbe des Professors Schwarz, der vor einigen Monaten gestorben ist.«

»Wahrscheinlich am Gallenfieber,« ergänzte die Frau Professorin.

»Gretchen!« mahnte ihr Gatte, halb bittend, halb vorwurfsvoll.

»Mein Gott, er hatte doch nun einmal ein so galliges Temperament. Er war darin gerade so extrem, wie du es in deiner Langmut bist. Stelle dir vor, Papa, Emil hat gleich nach seiner Berufung nach J. an den Professor geschrieben, einen Brief voll Demut und Liebenswürdigkeit, in welchem er sich förmlich entschuldigte, sein Nachfolger geworden zu sein, und feierlich seine Unschuld an dem ganzen Universitätsstreite versicherte. Der Brief ist natürlich nie beantwortet worden; trotzdem fühlt sich mein Herr Gemahl jetzt, wo diese unliebenswürdige Berühmtheit endlich aus der Welt geschieden ist, veranlaßt, ihm einen großartigen Nachruf zu widmen, und beklagt darin den Verlust für die Wissenschaft, als wäre der Verstorbene sein innigster Freund gewesen.«

»Ich that es aus voller Ueberzeugung,« sagte Fabian in seiner sanften, ernsten Weise. »Der schroffe Charakter des Professors hat nur zu oft die Anerkennung beeinträchtigt, die man ihm schuldig war. Ich fühlte mich verpflichtet, daran zu erinnern, was die Wissenschaft in ihm verloren hat. Mag sein persönliches Auftreten gewesen sein, wie es wolle, er war eine bedeutende Kraft.«

Gretchen warf verächtlich die Lippen auf. »Meinetwegen! Aber jetzt zu der Hauptsache! Herr Nordeck ist also nicht in Wilicza?«

»Nein,« versetzte der Administrator einsilbig, »Er ist verreist.«

»Ja, das wissen wir; er schrieb meinem Manne schon vor längerer Zeit, daß er einen Ausflug nach Altenhof zu machen beabsichtige und wahrscheinlich einige Wochen dort bleiben werde. Jetzt, wo er alle Hände voll in Wilicza zu thun hat – das ist doch seltsam!«

»Waldemar hat Altenhof ja stets als seine eigentliche Heimat betrachtet,« wandte der Professor ein. »Er konnte sich deshalb auch nie entschließen, das Gut zu verkaufen, das ihm Herr Witold im Testament vermachte. Es ist nur natürlich, daß er die Stätte seiner Jugendzeit einmal wieder aufsucht.«

Gretchen machte eine sehr ungläubige Miene, »Du solltest deinen ehemaligen Zögling doch besser kennen! Der hängt sicher keinen sentimentalen Jugenderinnerungen nach, während er mitten in der Riesenarbeit ist, seine slavischen Güter zu germanisieren. Dahinter steckt etwas andres, wahrscheinlich seine Liebe zu der Gräfin Morynska, die er sich endlich einmal aus dem Sinne schlagen will, und das wäre auch das beste. Diese Polinnen sind bisweilen ganz unvernünftig in ihrem nationalen Fanatismus, und Gräfin Wanda ist es nun vollends. Dem Manne, den sie liebt, ihre Hand nicht reichen zu wollen, nur weil er ein Deutscher ist! Ich hätte meinen Emil genommen, und wenn er zu den Hottentotten gehört hätte! Aber nun grämt er sich Tag für Tag über das vermeintliche Unglück seines lieben Waldemars und bildet sich in vollem Ernste ein, dieser habe ein Herz wie andre Menschen, was ich entschieden nicht glaube.«

»Gretchen!« sagte der Professor zum zweitenmal, diesmal mit einem Versuche streng auszusehen, der ihm aber vollständig mißglückte. »Entschieden nicht!« wiederholte die junge Frau. »Wenn jemand Herzenskummer hat, so zeigt er das doch auf irgend eine Weise. Herr Nordeck wirtschaftet ja in Wilicza herum, daß ganz L. die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, und als er bei unsrer Hochzeit meinen Brautführer machte, war ihm auch nicht das geringste anzusehen.«

»Ich habe es dir schon einmal gesagt, daß die Verschlossenheit ein Hauptzug in Waldemars Charakter ist,« erklärte Fabian, »Er könnte zu Grunde gehen an dieser Leidenschaft; fremden Augen würde er sie nie zeigen.«

»Ein Mensch, dem man die unglückliche Liebe nicht einmal ansieht, hat kein tiefes Gefühl,« beharrte Gretchen. »Dir sah man sie auf zehn Schritt an. Du gingst in den letzten Wochen vor unsrer Verlobung, als du noch glaubtest, daß ich den Assessor heiraten würde, mit einem Jammergesichte umher. Ich hatte tiefes Mitleid mit dir, aber du warst in deiner Schüchternheit ja zu keiner Erklärung zu bringen.«

Der Administrator hatte sich an dem letzten Gespräche gar nicht beteiligt, sondern angelegentlich auf die Bäume am Wege geblickt. Der Weg, der eine kurze Strecke am Rande des Flusses hinführte, begann hier sehr schlecht zu werden. Die Beschädigungen, welche das jüngste Hochwasser angerichtet, waren noch nicht wieder ausgebessert, und die Fahrt über den halb zerrissenen und unterwühlten Uferdamm konnte immerhin für bedenklich gelten. Frank behauptete zwar, die Sache habe keine Gefahr, er habe die Stelle erst auf der Hinfahrt passiert, aber Gretchen traute der Versicherung nicht recht. Sie zog es vor, auszusteigen und die kurze Strecke bis zur nahegelegenen Brücke zu Fuß zu gehen. Die beiden Herren folgten ihrem Beispiele; alle drei schlugen den höher gelegenen Fußpfad ein, während der Wagen unten auf dem Uferdamme langsam nachfuhr.

Sie waren nicht die einzigen Bedenklichen; von der Brücke her kam ein andrer Wagen, dessen Insasse die gleichen Befürchtungen zu hegen schien. Er ließ halten und stieg ebenfalls aus, gerade in dem Augenblicke, wo Frank mit den Seinigen anlangte, und diese fanden sich urplötzlich dem Herrn Assessor Hubert gegenüber.

Die unerwartete Begegnung rief auf beiden Seiten eine peinliche Verlegenheit hervor. Man hatte sich nicht wieder gesprochen seit jenem Tage, wo der Assessor, wütend über die eben geschlossene Verlobung, aus dem Hause stürzte, und der Administrator ihm, in der Meinung, er habe den Verstand verloren, seinen Inspektor nachschickte. Man war aber doch zu lange befreundet gewesen, um jetzt so völlig fremd aneinander vorüberzugehen – das fühlten beide Teile. Frank war der erste, der, sich faßte und das beste Auskunftsmittel ergriff; er trat, als sei nichts geschehen, auf den Assessor zu, bot ihm in der alten freundschaftlichen Weise die Hand und sprach sein Vergnügen aus, ihn endlich einmal wieder zu sehen.

Der Assessor stand in steifer Haltung da, schwarz gekleidet vom Kopfe bis zu den Füßen. Er trug einen schwarzen Kreppflor um den Hut, einen zweiten um den Arm. Die Berühmtheit der Familie wurde gebührend betrauert, aber die Erbschaft schien doch einigen Balsam in das Herz des trauernden Neffen geträufelt zu haben, denn er sah nichts weniger als verzweifelt aus. Es lag heute überhaupt ein eigener Ausdruck in seinem Gesicht, eine erhabene Selbstzufriedenheit, eine stille Größe; er schien in der Stimmung, aller Welt zu verzeihen, mit aller Welt Frieden zu machen, und so ergriff er denn auch nach kurzem Zögern die dargebotene Hand und erwiderte einige höfliche Worte.

Der Professor und Gretchen traten jetzt auch heran. Hubert warf einen Blick düsteren Vorwurfs auf die junge Frau, die in ihrem Reisehütchen mit dem wehenden Schleier allerdings reizend genug aussah, um in dem Herzen ihres früheren Anbeters ein schmerzliches Gefühl zu wecken, und verneigte sich vor ihr, dann aber wandte er sich zu Fabian.

»Herr Professor,« sagte er feierlich. »Sie haben den großen Verlust mitempfunden, den unsre Familie und mit ihr die gesamte Wissenschaft erlitten hat. Der Brief, den Sie meinem Onkel schrieben, überzeugte ihn freilich längst, daß Sie unschuldig waren an der gegen ihn ins Werk gesetzten Intrigue, daß Sie wenigstens seine großen Verdienste neidlos anerkannten. Er hat mir selbst diese Ueberzeugung ausgesprochen und Ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen. Der schöne Nachruf, den Sie ihm widmeten, gibt Ihnen das ehrenvollste Zeugnis und ist den Hinterbliebenen ein Trost gewesen. Ich danke Ihnen im Namen der Familie.«

Fabian drückte herzlich die aus freien Stücken dargereichte Hand des Sprechenden. Die Feindschaft seines Vorgängers und der Groll des Assessors hatten schwer auf seiner Seele gelegen, so unschuldig er auch an der beiden widerfahrenen Kränkung gewesen war. Er kondolierte dem betrübten Neffen mit aufrichtiger Teilnahme.

»Ja, wir haben auf der Universität den Verlust des Professors Schwarz auch tief beklagt,« fügte Gretchen, und war gewissenlos genug, eine ausführliche Beileidsbezeigung über den Tod des Mannes hinzuzufügen, den sie gründlich verabscheut hatte, ohne ihn zu kennen, und dem sie seine Kritik der »Geschichte des Germanentums« noch im Grabe nicht vergeben konnte.

»Und Sie haben wirklich Ihre Entlassung genommen?« fragte jetzt der Administrator, zu einem andern Thema übergehend. »Sie verlassen den Staatsdienst, Herr Assessor?«

»In acht Tagen,« bestätigte Hubert. »Aber hinsichtlich des Titels, den Sie mir geben, Herr Frank, möchte ich mir doch eine kleine Korrektur erlauben. Ich« – er machte wieder eine Kunstpause, weit länger, als sie damals seiner Liebeserklärung voranging, und sah die Anwesenden der Reihe nach an, als wolle er sie auf etwas Großes vorbereiten, dann atmete er tief auf und vollendete, während ein Lächeln unendlicher Wonne sein Antlitz verklärte – »ich bin seit gestern Regierungsrat.«

»Gott sei Dank, endlich!« sagte Gretchen halblaut, während ihr Gatte sie erschrocken am Arme zupfte, um sie von weiteren Unvorsichtigkeiten abzuhalten. Zum Glücke hatte Hubert den Ausruf nicht gehört; er empfing mit einer Würde, welche der Größe des Momentes entsprach, die Gratulation Franks und gleich darauf die Glückwünsche des Ehepaars. Jetzt freilich war seine versöhnliche Stimmung erklärt. Der neue Regierungsrat stand hoch über allen Beleidigungen, die der ehemalige Assessor erfahren. Er verzieh allen, sogar dem Staate, der ihn so lange verkannt hatte.

»Die Beförderung ändert freilich nichts an meinem Entschlüsse,« nahm er wieder das Wort, und es fiel ihm nicht entfernt ein, daß er sie einzig und allein diesem Entschlüsse verdankte. »Der Staat erkennt es bisweilen zu spät, was er an seinen Dienern hat, aber der Würfel ist jetzt einmal gefallen. Ich versehe natürlich noch die Pflichten meiner früheren Stellung, und man hat mir noch in der letzten Woche meiner Amtstätigkeit einen wichtigen Auftrag anvertraut. Ich bin im Begriffe, nach W. zu reisen.«

»Ueber die Grenze?« fragte Fabian erstaunt.

»Allerdings! Ich habe Rücksprache mit den dortigen Behörden zu nehmen wegen Ergreifung und Auslieferung eines Hochverräters.«

Gretchen warf ihrem Mann einen Blick zu, der deutlich sagte: da fängt er schon wieder an! Auch der Regierungsrat hilft nicht dagegen. Frank aber war auf einmal aufmerksam geworden, verbarg das jedoch unter dem gleichgültigsten Tone, mit dem er die Worte hinwarf:

»Ich denke, der Aufstand ist zu Ende?«

»Aber die Verschwörungen dauern fort,« rief Hubert eifrig. »Davon haben wir jetzt wieder ein Beispiel. Sie wissen es wohl noch nicht, daß der Führer, die Seele der ganzen Revolution, Graf Morynski, entkommen ist?«

Fabian und seine Frau fuhren in lebhaftester Ueberraschung auf, während der Administrator ruhig sagte: »Es ist wohl nicht möglich.«

Der neue Regierungsrat zuckte die Achseln. »Es ist leider kein Geheimnis mehr; man spricht bereits in L. davon. Wilicza und Rakowicz bilden ja dort nach wie vor das Hauptinteresse. Wilicza freilich steht außer Frage, seit Herr Nordeck es so energisch regiert, aber in Rakowicz residiert die Fürstin Baratowska, und ich bleibe dabei, diese Frau ist eine Gefahr für die ganze Provinz; es wird nicht Ruhe, solange sie auf unserm Boden lebt. Gott weiß, wen sie jetzt wieder zur Befreiung ihres Bruders angestiftet hat! Ein Tollkopf ohnegleichen ist es gewesen, der sein Leben für nichts achtete. Die zur Deportation verurteilten Gefangenen werden aufs schärfste bewacht. Trotzdem haben die Helfershelfer sich mit dem Grafen in Verbindung gesetzt und ihm die sämtlichen Mittel zur Flucht in die Hände gespielt. Sie sind bis in das Innere der Festung, bis an die Mauer des Gefängnisses selbst vorgedrungen; man hat sichere Spuren gefunden, daß der Flüchtling dort erwartet wurde, und dann haben sie ihn mitten durch die Posten und Wachen hindurch, mitten durch all die Wälle und Ringmauern entführt, wie – das ist noch heute ein Rätsel. Das halbe Wächterpersonal muß bestochen gewesen sein; die ganze Festung ist in Aufruhr über die unglaubliche Tollkühnheit des Unternehmens. Seit zwei Tagen wird die ganze Umgegend durchstreift, aber noch hat man nicht die geringste Spur entdeckt.«

Fabian hatte anfangs nur mit lebhafter Teilnahme zugehört, als aber wiederholt von der Kühnheit des Unternehmens die Rede war, begann er unruhig zu werden. Eine unbestimmte Ahnung tauchte in ihm auf; er wollte eine hastige Frage thun, begegnete aber noch zu rechter Zeit den warnenden Augen seines Schwiegervaters, Es stand ein entschiedenes Verbot in dem Blicke. Der Professor schwieg, aber er erschrak bis in das innerste Herz hinein.

Gretchen hatte die stumme Verständigung zwischen den beiden nicht bemerkt und folgte unbefangen der Erzählung Huberts, der jetzt fortfuhr:

»Weit können die Flüchtlinge nicht gelangt sein, denn die Flucht wurde entdeckt, fast unmittelbar nachdem der Graf fort war. Die Grenze hat er noch nicht passiert – das steht fest, aber ebenso unzweifelhaft ist es, daß er versuchen wird, deutsches Gebiet zu erreichen, weil hier die Gefahr minder groß ist. Wahrscheinlich wendet er sich zuerst nach Rakowicz. Wilicza ist ja jetzt, Gott sei Dank, solchen verräterischen Umtrieben verschlossen, obgleich Herr Nordeck im Augenblick nicht dort ist.«

»Nein,« sagte der Administrator mit großer Bestimmtheit, »er ist in Altenhof.«

»Ich weiß es; er teilte es dem Herrn Präsidenten selbst mit, als er sich von ihm verabschiedete. Die Abwesenheit erspart ihm viel – es würde doch sehr peinlich für ihn sein, seinen Oheim ergriffen und ausgeliefert zu sehen, wie es ohne Zweifel geschieht.«

»Wie, Sie werden ihn ausliefern?« rief Gretchen heftig.

Hubert sah sie erstaunt an. »Natürlich! Er ist ja ein Verbrecher, ein Hochverräter. Die befreundete Regierung wird darauf bestehen.«

Die junge Frau sah erst ihren Gatten und dann den Vater an; sie begriff es nicht, daß keiner von beiden in ihre Entrüstung einstimmte, aber der Administrator sah gleichgültig vor sich hin, und Fabian sprach keine Silbe. Doch das tapfere Gretchen ließ sich nicht so leicht einschüchtern. Sie erging sich in einer nicht besonders schmeichelhaften Beurteilung der »befreundeten Regierung« und auch die eigene mußte sich einige sehr anzügliche Bemerkungen gefallen lassen. Hubert hörte ganz entsetzt zu. Er dankte zum erstenmal Gott, daß er die junge Dame nicht zur Regierungsrätin gemacht hatte; sie zeigte ihm soeben, daß sie ganz und gar nicht zur Frau eines loyalen Beamten paßte; sie trug auch so eine hochverräterische Ader in sich.

»Ich an Ihrer Stelle hätte den Auftrag abgelehnt,« schloß sie endlich. »So kurz vor Ihrem Scheiden konnten Sie das ja. Ich würde meine Amtsthätigkeit nicht damit schließen, einen armen, halbtot gehetzten Gefangenen seinen Peinigern wieder in die Hände zu liefern.«

»Ich bin Regierungsrat,« versetzte Hubert, den Titel feierlichst betonend, »und thue meine Pflicht. Mein Staat befiehlt – ich gehorche. – Aber ich sehe, daß mein Wagen glücklich die bedenkliche Stelle passiert hat. Leben Sie wohl, meine Herrschaften! Mich ruft die Pflicht.« Er grüßte und entfernte sich.

»Hast du es gehört, Emil?« fragte die junge Frau, als sie wieder im Wagen saßen. »Er ist Regierungsrat geworden, acht Tage vor seiner Entlassung, damit er in der neuen Stellung nicht etwa noch eine neue Albernheit begeht. Nun, mit dem bloßen Titel kann er ja doch in Zukunft keinen Schaden mehr anrichten.«

Sie verbreitete sich noch ausführlich darüber und über die Neuigkeit von der Flucht des Grafen Morynski, erhielt aber nur kurze und zerstreute Antworten. Vater und Gatte waren seit jener Begegnung auffallend einsilbig geworden, und es war ein Glück, daß man bereits das Gebiet von Wilicza erreicht hatte, denn die Unterhaltung wollte nicht wieder in Gang kommen.

Die Frau Professorin fand im Laufe des Tages noch manche Gelegenheit, sich zu wundern und auch zu ärgern. Vor allen Dingen begriff sie ihren Vater nicht. Er freute sich doch zweifellos über die Ankunft seiner Kinder; er hatte sie beim Willkommen mit solcher Herzlichkeit in die Arme geschlossen, und doch schien es ihr, als sei ihm diese Ankunft, die sie ihm gestern erst durch ein Telegramm angezeigt hatten, nicht ganz recht, als hätte er gewünscht, sie aufgeschoben zu sehen. Er behauptete, mit Geschäften überhäuft zu sein, und hatte in der That fortwährend zu thun. Gleich nach der Ankunft nahm er seinen Schwiegersohn mit sich in sein Zimmer und blieb fast eine Stunde dort mit ihm allein.

Gretchens Entrüstung wuchs, als sie weder zu dieser geheimen Konferenz zugezogen wurde, noch von ihrem Manne etwas darüber erfahren konnte. Sie fing an, sich aufs Beobachten zu legen, und da fiel ihr denn allerdings manches auf. Einzelne Wahrnehmungen, die sie schon während der Fahrt gemacht, tauchten wieder auf; sie kombinierte äußerst geschickt und kam endlich zu einem Resultat, das für sie ganz unzweifelhaft war.

Nach Tische befand sich das Ehepaar allein im Wohnzimmer; der Professor ging ganz gegen seine Gewohnheit auf und nieder. Er bemühte sich vergebens, eine innere Unruhe zu verbergen, und war so tief in Gedanken versunken, daß er gar nicht die Schweigsamkeit seiner sonst so lebhaften Frau bemerkte. Gretchen saß auf dem Sofa und beobachtete ihn eine ganze Weile. Endlich schritt sie zum Angriff.

»Emil,« begann sie mit einer Feierlichkeit, die der Huberts nichts nachgab. »Ich werde hier empörend behandelt.«

Fabian sah erschrocken auf. »Du? Mein Gott, von wem?«

»Von meinem Papa, und was das allerschlimmste ist, auch von meinem eigenen Mann.«

Der Professor stand bereits neben seiner Frau und ergriff ihre Hand, die sie ihm mit sehr ungnädiger Miene entzog.

»Geradezu empörend!« wiederholte sie. »Ihr zeigt mir kein Vertrauen; ihr habt Geheimnisse vor mir; ihr behandelt mich wie ein unmündiges Kind, mich, eine verheiratete Frau, die Gattin eines Professors der Universität zu J. – es ist himmelschreiend.«

»Liebes Gretchen –« sagte Fabian zaghaft und stockte dann plötzlich.

»Was hat dir Papa vorhin gesagt, als du in seinem Zimmer warst?« inquirierte Gretchen. »Weshalb hast du es mir nicht anvertraut? Was sind das überhaupt für Geheimnisse zwischen euch beiden? Leugne nicht, Emil! Ihr habt Geheimnisse miteinander.«

Der Professor leugnete keineswegs; er blickte zu Boden und sah äußerst gedrückt aus – seine Gattin sandte ihm einen strafenden Blick zu.

»Nun, dann werde ich es dir sagen. In Wilicza besteht wieder einmal ein Komplott, eine Verschwörung, wie Hubert sagen würde, und Papa ist diesmal auch beteiligt, und dich hat er gleichfalls mit hineingezogen. Die ganze Geschichte hängt mit der Befreiung des Grafen Morynski zusammen –«

»Kind, um Gottes willen schweig!« rief Fabian erschrocken, aber Gretchen kehrte sich durchaus nicht an das Verbot; sie sprach ungestört weiter:

»Und Herr Nordeck ist schwerlich in Altenhof, sonst würdest du dich nicht so ängstigen. Was geht dich Graf Morynski und seine Flucht an? Aber dein geliebter Waldemar ist auch mit dabei, und deshalb zitterst du so. Er wird es wohl gewesen sein, der den Grafen entführt hat – das sieht ihm ganz ähnlich.«

Der Professor war völlig starr vor Erstaunen über die Kombinationsgabe seiner Frau; er fand, daß sie unglaublich klug sei, entsetzte sich aber doch einigermaßen, als sie ihm die Geheimnisse, die er undurchdringlich glaubte, an den Fingern herzählte.

»Und mir sagt man kein Wort davon,« fuhr Gretchen in steigender Gereiztheit fort, »obgleich man doch weiß, daß ich ein Geheimnis bewahren kann, obgleich ich damals ganz allein das Schloß rettete, indem ich den Assessor nach Janowo schickte. Die Fürstin und Gräfin Wanda werden wohl alles wissen; freilich die Polinnen wissen das immer – die sind die Vertrauten ihrer Väter und Gatten; die läßt man an der Politik, sogar an den Verschwörungen teilnehmen, aber wir armen deutschen Frauen werden von unsern Männern stets zurückgesetzt und unterdrückt; uns erniedrigt man durch beleidigendes Mißtrauen und behandelt uns wie Sklavinnen –« und die Frau Professorin fing im Gefühl ihrer Sklaverei und Erniedrigung laut zu schluchzen an. Ihr Gatte geriet fast außer sich:

»Gretchen, mein liebes Gretchen, so weine doch nicht! Du weißt ja, daß ich keine Geheimnisse vor dir habe, sobald es sich um mich allein handelt, aber diesmal betrifft es andre, und ich habe mein Wort gegeben, unbedingt zu schweigen, auch gegen dich.«

»Wie kann man einem Mann das Wort abnehmen, seiner Frau etwas zu verschweigen!« rief Gretchen immer noch schluchzend. »Das hat keine Geltung; das darf niemand von ihm fordern.«

»Ich habe es doch aber nun einmal gegeben,« sagte Fabian verzweiflungsvoll. »So beruhige dich doch! Ich kann es nicht ertragen, dich in Thränen zu sehen; ich –«

»Nun, das ist ja eine allerliebste Pantoffelwirtschaft!« fuhr der Administrator dazwischen, der unbemerkt eingetreten war und die Scene mit angesehen hatte. »Meine Frau Tochter scheint sich – hinsichtlich der Unterdrückung und Sklaverei doch in der Person geirrt zu haben. Und du läßt dir das gefallen, Emil? Nimm es mir nicht übel – du magst ein tüchtiger Gelehrter sein, aber als Ehemann spielst du eine traurige Rolle.«

Er hätte seinem Schwiegersohn nicht wirksamer zu Hilfe kommen können als durch diese Worte. Gretchen hörte sie kaum, als sie sich auch sofort auf die Seite ihres Mannes stellte.

»Emil ist ein ganz ausgezeichneter Ehemann,« erklärte sie entrüstet, während ihre Thränen auf einmal versiegten, »Du brauchst ihm keinen Vorwurf zu machen, Papa; daß er seine Frau lieb hat, das ist nur in der Ordnung.«

Frank lachte. »Nur nicht so hitzig, Kind! Ich meinte es nicht böse. Uebrigens hast du dich umsonst ereifert. Wir müssen dich jetzt notgedrungen mit in das Komplott ziehen, das du ganz richtig erraten hast. Es ist soeben eine Nachricht angelangt – «

»Von Waldemar?« fiel der Professor ein.

Der Schwiegervater schüttelte den Kopf. »Nein, von Rakowicz! Herrn Nordeck kann überhaupt keine Nachricht mehr vorangehen. Entweder er kommt selbst, oder – wir müssen uns auf das Schlimmste gefaßt machen. Aber die Fürstin und ihre Nichte treffen jedenfalls im Laufe des Nachmittags ein, und sobald sie da sind, müßt ihr hinüber nach dem Schlosse. Es wird auffallen, daß die beiden Damen, die Wilicza seit einem Jahr nicht betreten haben, jetzt so unerwartet und in Abwesenheit des Gutsherrn hier anlangen, daß sie die ganze Zeit über allein im Schlosse bleiben. Eure Anwesenheit gibt der Sache einen harmloseren Anstrich und läßt an ein zufälliges Zusammentreffen glauben. Du machst der Mutter deines ehemaligen Zöglings einen Besuch, Emil, und stellst ihr Gretchen als deine Frau vor; das ist glaublich für die Dienerschaft, Die Damen wissen, um was es sich handelt. Ich selbst reite nach der Grenzförsterei und warte, wie verabredet, in der Nähe derselben mit den Pferden. – Und nun laß dir das übrige von deinem Manne auseinandersetzen, mein Kind! Ich habe keine Zeit mehr.« Damit ging er, und Gretchen setzte sich wieder auf das Sofa, um die Mitteilungen ihres Gatten entgegenzunehmen, sehr befriedigt darüber, daß man sie endlich auch wie eine Polin behandelte und an der Verschwörung teilnehmen ließ. –

Es war Abend oder vielmehr Nacht geworden. Auf dem Gutshof schlief schon alles, und auch im Schlosse hatte man die Dienerschaft möglichst früh zu Bett geschickt. Im oberen Stockwerk waren noch einige Fenster hell; der grüne Salon und die beiden anstoßenden Gemächer waren erleuchtet, und in einem der letzteren stand der Theetisch, den man hatte herrichten lassen, um den Dienern keinen Anlaß zur Verwunderung zu geben. Das Abendessen blieb natürlich eine bloße Form. Weder die Fürstin noch Wanda waren zu bewegen, auch nur das Geringste zu sich zu nehmen, und jetzt wurde auch Professor Fabian rebellisch und weigerte sich, Thee zu trinken. Er behauptete, auch nicht einen Tropfen davon hinunterbringen zu können, wie ihn seine Frau auch von der Notwendigkeit einer Stärkung zu überzeugen suchte. Sie hatte ihn halb mit Gewalt an den Theetisch gebracht und hielt ihm dort eine leise, aber eindringliche Strafpredigt.

»Aengstige dich nicht so, Emil! Du wirst mir sonst noch krank vor Aufregung, wie die beiden Damen da drinnen. Gräfin Wanda sieht aus wie eine Leiche, und vor dem Gesicht der Fürstin könnte ich mich beinahe fürchten. Dabei spricht keine von ihnen ein Wort. Ich halte es nicht länger aus, diese stumme Todesangst mit anzusehen, und auch ihnen ist es eine Erleichterung, wenn sie einmal ohne Zeugen sind. Wir wollen sie auf eine halbe Stunde allein lassen.«

Fabian stimmte bei, schob aber die ihm aufgenötigte Theetasse weit von sich.

»Ich begreife gar nicht, weshalb ihr euch alle so verzweifelt anstellt,« fuhr Gretchen fort. »Wenn Herr Nordeck erklärt hat, daß er noch vor Mitternacht mit dem Grafen hier sein werde, so ist er hier, und wenn sie an der Grenze ein ganzes Regiment aufgestellt hatten, um ihn einzufangen. Der setzt alles durch. Es muß doch etwas an dem Aberglauben seiner Wiliczaer sein, die ihn für kugelfest halten. Da ist er wieder mitten durch Gefahren gegangen, bei deren bloßer Erzählung sich uns schon das Haar sträubt, und keine einzige berührt ihn auch nur. Er wird auch glücklich die Grenze passieren.«

»Das gebe Gott!« seufzte Fabian. »Wenn nur dieser Hubert nicht gerade heute in W. wäre! Er würde Waldemar und den Grafen in jeder Verkleidung erkennen, wenn er ihnen begegnete!«

»Hubert hat sein Leben lang nur Dummheiten gemacht,« sagte Gretchen verächtlich, »Er wird in der letzten Woche seiner Amtsthätigkeit nicht noch etwas Kluges anstiften. Das wäre wider seine Natur. Aber in einem hat er doch recht. Kann man wohl den Fuß in dieses Wilicza setzen, ohne gleich wieder mitten in einer Verschwörung zu sein? Das muß wohl hier so in der Luft liegen, denn sonst begreife ich nicht, wie wir Deutsche uns sämtlich zwingen lassen, zu Gunsten dieser Polen zu konspirieren, Herr Nordeck, Papa, sogar wir beide. Nun, hoffentlich ist dies das letzte Komplott, das in Wilicza angestiftet wird.«

Die Fürstin und Wanda waren in dem anstoßenden Salon zurückgeblieben. Hier wie in sämtlichen Zimmern der ersteren war nichts verändert worden, seit sie dieselben vor einem Jahre verlassen hatte. Dennoch hatten die Räume den Anstrich des Oeden, Unbewohnten; man fühlte, daß die Herrin ihnen so lange fern geblieben war.

Im tiefen Schatten saß die Fürstin, unbeweglich und starr vor sich hin blickend. Es war derselbe Platz, an dem sie an jenem Morgen gesessen hatte, als Leos unseliges Kommen die furchtbare Katastrophe auf ihn und die Seinigen herabrief. Die Mutter rang schwer mit den Erinnerungen, die von allen Seiten auf sie einstürmten, als sie wieder den Ort betrat, der für sie so verhängnisvoll geworden war. Was war aus jenen stolzen Plänen, aus jenen Hoffnungen und Entwürfen geworden, die einst hier ihren Mittelpunkt fanden! Sie lagen alle in Trümmern. Bronislaws Rettung war noch das einzige, was man dem Schicksal abringen konnte, aber diese Rettung war erst zur Hälfte vollbracht, und vielleicht in diesem Augenblick bezahlten er und Waldemar den Versuch, sie zu vollenden, mit dem Leben. Wanda stand in der Nische des großen Mittelfensters und blickte so angestrengt hinaus, als könnten ihre Augen die Dunkelheit durchdringen, die draußen herrschte. Sie hatte das Fenster geöffnet, aber sie fühlte es nicht, daß die Nachtluft scharf hereindrang, wußte nicht, daß sie zusammenschauerte unter dem kalten Hauch. Für die Gräfin Morynska hatte diese Stunde keine Erinnerung an die Vergangenheit mit ihren gescheiterten Plänen und Hoffnungen. Für sie drängte sich alles zusammen in dem einzigen Gedanken der Erwartung, der Todesangst. Sie zitterte ja nicht mehr für den Vater allein, es galt jetzt auch Waldemar, und das Herz behauptete trotz alledem seine Rechte – es galt zumeist ihm.

Es war eine kühle stürmische Nacht, die von keinem Mondesstrahl erhellt wurde. Der Himmel, leicht bedeckt, ließ nur hin und wieder einen Stern aufblinken, der bald hinter den Wolken verschwand. In der Umgebung des Schlosses herrschte die tiefste Ruhe; der Park lag dunkel und schweigend da, und in den Pausen, wo der Wind ruhte, hörte man jedes fallende Blatt.

Plötzlich fuhr Wanda auf, und ein halb unterdrückter Ausruf entrang sich ihren Lippen, In der nächsten Minute stand die Fürstin an ihrer Seite.

»Was ist's? Bemerktest du etwas?«

»Nein, aber ich glaubte in der Ferne Hufschlag zu hören.«

»Täuschung! Du hast ihn schon oft zu hören geglaubt – es ist nichts.«

Trotzdem folgte die Fürstin dem Beispiel ihrer Nichte, die sich weit aus dem Fenster beugte. Die beiden Frauen verharrten in atemlosem Lauschen. Es kam allerdings ein Laut herüber, aber er klang fern und undeutlich, und jetzt erhob sich der Wind von neuem und verwehte ihn ganz. Wohl zehn Minuten vergingen in qualvollstem Harren – da endlich vernahm man in einer der Seitenalleen des Parkes, da wo dieser einen Ausgang nach dem Wald hin hatte, Schritte, die sich offenbar vorsichtig dem Schlosse näherten, und jetzt unterschied die aufs äußerste angestrengte Sehkraft auch mitten in der Dunkelheit, daß zwei Gestalten aus den Bäumen hervortraten.

Fabian kam in das Zimmer gestürzt. Er hatte von seinem Fenster aus die gleiche Beobachtung gemacht.

»Sie sind da,« flüsterte er, seiner kaum mehr mächtig. »Sie kommen die Seitentreppe herauf. Die kleine Pforte nach dem Park ist offen: ich habe erst vor einer halben Stunde nachgesehen.«

Wanda wollte den Ankommenden entgegenstürzen, aber Gretchen, die ihrem Mann gefolgt war, hielt sie zurück.

»Bleiben Sie, Gräfin Morynska!« bat sie. »Sie sind nicht allein im Schlosse, nur hier in Ihren Zimmern ist Sicherheit.«

Die Fürstin sprach kein Wort, aber sie ergriff die Hand ihrer Nichte, um sie gleichfalls zurückzuhalten. Die Folter der Erwartung dauerte nicht mehr lange. Nur noch wenige Minuten – dann flog die Thür auf. Graf Morynski stand auf der Schwelle; hinter ihm zeigte sich die hohe Gestalt Waldemars, und fast in derselben Sekunde lag Wanda in den Armen ihres Vaters.

Fabian und Gretchen hatten Takt genug, sich bei diesem ersten Wiedersehen zurückzuziehen. Sie fühlten, daß sie hier doch nur Fremde waren, aber auch Waldemar schien sich zu den Fremden zu rechnen, denn anstatt einzutreten, schloß er die Thür hinter dem Grafen und blieb im Nebenzimmer, wo er seinem ehemaligen Lehrer die Hand reichte.

»Da sind wir glücklich,« sagte er mit einem tiefen Atemzug. »Die Hauptgefahr wenigstens ist überstanden. Wir sind auf deutschem Boden.«

Fabian umschloß mit beiden Händen die dargebotene Rechte. »In welches Wagnis haben Sie sich wieder gestürzt, Waldemar! Wenn Sie entdeckt worden wären!«

Waldemar lächelte. »Ja, das ›Wenn‹ muß man bei solchen Unternehmungen von vornherein ausschließen. Wer über den Abgrund will, darf nicht an den Schwindel denken, sonst ist er verloren. Ich habe die Möglichkeiten nur insofern in Betracht gezogen, als es galt, ihnen vorzubeugen. Im übrigen habe ich fest auf mein Ziel geschaut, ohne rechts oder links zu blicken. Sie sehen, das hat geholfen.«

Er warf den Mantel ab und zog aus der Brusttasche einen Revolver, den er auf den Tisch legte. Gretchen, die in der Nähe stand, wich einen Schritt zurück.

»Erschrecken Sie nicht, Frau Professorin!« beruhigte sie Nordeck. »Die Waffe ist nicht gebraucht worden; die Sache ist ohne jedes Blutvergießen abgegangen, obgleich es anfangs nicht den Anschein hatte, aber wir fanden einen unerwarteten Helfer in der Not, den Assessor Hubert.«

»Den neuen Regierungsrat?« fiel die junge Frau erstaunt ein.

»So, er ist Regierungsrat geworden? Nun kann er die neue Würde drüben in Polen geltend machen. Wir sind mit seinem Wagen und seinen Legitimationspapieren über die Grenze gefahren.«

Der Professor und seine Frau ließen gleichzeitig einen Ausruf der Ueberraschung hören.

»Freiwillig hat er uns diese Gefälligkeit allerdings nicht erwiesen,« fuhr Nordeck fort. »Im Gegenteil, er wird nicht verfehlen uns Straßenräuber zu nennen, aber Not kennt kein Gebot. Für uns standen Freiheit und Leben auf dem Spiel, da galt kein langes Besinnen. – Wir langten heute mittag in dem Wirtshause eines polnischen Dorfes an, das nur zwei Stunden von der Grenze entfernt liegt. Daß man uns auf der Spur war, wußten wir und wollten um jeden Preis hinüber auf deutsches Gebiet, aber der Wirt warnte uns, die Flucht vor Einbruch der Dunkelheit fortzusetzen, es sei unmöglich, man fahnde in der ganzen Umgegend auf uns. Der Mann war ein Pole. Seine beiden Söhne hatten bei der Insurrektion unter dem Grafen Morynski gedient; die ganze Familie hätte ihr Leben für den ehemaligen Chef gelassen. Der Warnung war unbedingt zu trauen – wir blieben also. Es war gegen Abend, und unsre Pferde standen bereits gesattelt im Stall, als der Assessor Hubert, der von W. zurückkam, plötzlich im Dorf erschien. Sein Wagen hatte irgend eine Beschädigung erhalten, die schleunigst ausgebessert werden sollte; er hatte ihn in der Dorfschmiede gelassen und kam nun in das Wirtshaus, hauptsächlich um sich zu erkundigen, ob keine Spur von uns aufzufinden sei. Sein polnischer Kutscher mußte ihm, da er der Landessprache unkundig war, als Dolmetscher dienen. Er hatte ihn deshalb auch nicht bei dem Wagen gelassen, sondern mitgenommen. Der Wirt behauptete natürlich, von nichts zu wissen. Wir waren im oberen Stock verborgen und hörten ganz deutlich, wie der Assessor unten im Hausflur in seiner beliebten Art von flüchtigen Hochverrätern deklamierte, denen man auf der Spur sei. Dabei war er so freundlich, uns zu verraten, daß wir in der That verfolgt wurden, daß man den Weg kannte, den wir genommen hatten; er wußte sogar, daß wir unser zwei und zu Pferde seien. Jetzt gab es keine Wahl mehr. Wir mußten fort, so schnell wie möglich. Die unmittelbare Nähe der Gefahr gab mir einen glücklichen Gedanken ein. Ich ließ dem Wirt durch seine Frau schnell die nötigen Weisungen zukommen, und er begriff sie auf der Stelle. Dem Assessor wurde gemeldet, daß sein Wagen vor Ablauf einer Stunde nicht herzustellen sei; er war sehr ungehalten darüber, bequemte sich aber doch, so lange im Wirtshause zu bleiben und das angebotene Abendessen einzunehmen. Inzwischen gingen wir zur Hinterthür hinaus und nach der Dorfschmiede. Der Sohn des Wirtes hatte bereits dafür gesorgt, daß der Wagen im Stande war. Ich stieg ein; mein Oheim« – es war das erste Mal, daß Waldemar diese Bezeichnung von dem Grafen Morynski gebrauchte – »mein Oheim, der auf der ganzen Flucht für meinen Diener galt, und auch die Kleidung eines solchen trug, nahm die Zügel, und so fuhren wir auf der andern Seite des Dorfes hinaus.

»Im Wagen machte ich noch einen unschätzbaren Fund. Auf dem Rücksitz lag der Paletot des Assessors mit seiner Brieftasche und seinen sämtlichen Papieren, die dieser umsichtige Beamte ganz einfach hier zurückgelassen oder vergessen hatte, ein neuer Beweis seiner glänzenden Befähigung für den Staatsdienst. Von seinem Passe konnte ich mit meiner Hünengestalt leider keinen Gebrauch machen, dagegen fand sich unter den andern Papieren manches Nützliche für uns. So zum Beispiel eine Ermächtigung des Polizeidepartements von L., den flüchtigen Grafen Morynski auch auf deutschem Boden zu ergreifen, ein Schreiben, das den Assessor zur Rücksprache über diese Angelegenheit bei den Behörden in W. legitimierte, endlich noch verschiedene Notizen dieser Behörden über die wahrscheinliche Richtung, die wir genommen, und über die bereits getroffenen Maßregeln zu unsrer Ergreifung. Leider waren wir gewissenlos genug, die gegen uns gerichteten Dokumente für uns zu benutzen. Der Assessor hatte im Wirtshause erzählt, daß er heute morgen über A. gekommen sei; dort hätte man jedenfalls den Wagen wiedererkannt und den Wechsel der Insassen bemerkt. Wir machten also einen Umweg bis zur nächsten Grenzstation und fuhren dort ganz offen als Herr Regierungsrat Hubert nebst Kutscher vor. Ich zeigte die Papiere vor und verlangte schleunigst durchgelassen zu werden, da ich den Flüchtigen auf der Spur sei und die größte Eile not thue. Das half augenblicklich. Niemand fragte nach unsern Pässen. Wir wurden für hinreichend legitimiert erachtet und passierten glücklich die Grenze. Eine Viertelstunde diesseits ließen wir den Wagen, der uns nur verraten hätte, auf der Landstraße in der Nähe eines Dorfes zurück, wo er jedenfalls gefunden werden muß, und erreichten zu Fuß die Waldungen von Wilicza. Bei der Grenzförsterei fanden wir verabredetermaßen den Administrator mit den Pferden, ritten in voller Carriere hierher – und da sind wir.«

Gretchen, die eifrig zugehört hatte, war sehr ergötzt über den Streich, den man ihrem ehemaligen Bewerber gespielt hatte, Fabians Gutmütigkeit aber ließ eine Schadenfreude nicht aufkommen. Er fragte im Gegenteil in besorgtem Ton:

»Und der arme Hubert?«

»Er sitzt ohne Wagen und ohne Legitimation drüben in Polen,« versetzte Waldemar trocken, »und kann von Glück sagen, wenn er nicht selbst noch als Hochverräter angesehen wird. Unmöglich wäre das nicht. Wenn unsre Verfolger wirklich im Wirtshause eintreffen, so finden sie dort die beiden Fremden nebst zwei gesattelten Pferden, und der Wirt wird sich hüten, einen etwaigen Irrtum aufzuklären, der unsre ungestörte Flucht sichert. Der Kutscher, der in jedem Zug den Polen verrät, und überdies von imposanter Figur ist, kann zur Not für einen verkleideten Edelmann gelten, der Regierungsrat für seinen Befreier und Mitverschworenen, Legitimieren kann sich der letztere nicht; die Sprache versteht er auch nicht, und unsre Nachbarn pflegen bei solchen Verhaftungen weder viel Umstände zu machen, noch sich streng an die Formen zu halten. Vielleicht genießt der Herr Regierungsrat jetzt selbst das Vergnügen, das er uns bei unsrer Ankunft in Wilicza zugedacht hatte; als verdächtiges Subjekt geschlossen nach der nächsten Stadt transportiert zu werden.«

»Das wäre ein unvergleichlicher Schluß seiner Amtstätigkeit,« spottete Gretchen, ohne sich an den ernsten Blick ihres Gatten zu kehren.

»Und nun genug von diesem Hubert!« brach Waldemar ab. »Ich sehe Sie doch noch, wenn ich zurückkomme? Für diese Nacht bin ich freilich nur inkognito im Schlosse; ich kehre erst in den nächsten Tagen offiziell von Altenhof zurück, wo man mich die ganze Zeit über glaubte. Doch nun muß ich die Mutter und meine – meine Cousine begrüßen. Der erste Sturm des Wiedersehens wird jetzt wohl vorüber sein.«

Er öffnete die Thür und trat in das anstoßende Gemach, wo sich die Seinigen befanden. Graf Morynski saß in einem Sessel. Er hielt noch immer seine Tochter in den Armen, die vor ihm auf den Knieen lag und das Haupt an seine Schulter lehnte. Der Graf hatte sehr gealtert in der letzten Zeit. Die dreizehn Monate der Haft schienen ebensoviele Jahre für ihn gewesen zu sein. Haar und Bart waren weiß geworden, und sein Antlitz zeigte unauslöschliche Spuren der Leiden, die Kerker, Krankheit und vor allem das Schicksal seines Volkes über ihn verhängt hatten. Es war ein energischer, lebenskräftiger Mann gewesen, der vor kaum einem Jahr hier in Wilicza Abschied nahm – jetzt kehrte ein Greis zurück, dessen äußere Erscheinung schon seine Gebrochenheit verriet.

Die Fürstin, welche neben dem Bruder stand, merkte zuerst den Eintritt ihres Sohnes und ging ihm entgegen.

»Kommst du endlich, Waldemar?« sagte sie im Tone des Vorwurfs. »Wir glaubten schon, du wolltest dich uns ganz entziehen.«

»Ich wollte euer erstes Wiedersehen nicht stören,« erwiderte er zögernd.

»Bestehst du noch immer darauf, ein Fremder für uns zu sein? Du bist es lange genug gewesen. Mein Sohn,« – die Fürstin streckte ihm plötzlich in tiefster Bewegung beide Arme entgegen – »ich danke dir.«

Waldemar lag in den Armen der Mutter, zum erstenmal wieder seit seiner Kinderzeit, und in dieser langen, innigen Umarmung versanken die Jahre der Entfremdung und Bitterkeit, versank alles, was sich je kalt und feindselig zwischen sie gestellt hatte. Auch hier war eine unsichtbare und doch so unheilvolle Schranke niedergerissen. Sie hatte lange genug zwei Menschen getrennt, die durch die heiligsten Bande des Blutes einander angehörten. Der Sohn hatte sich endlich die Liebe seiner Mutter erobert. Der Graf erhob sich jetzt auch und bot seinem Vetter die Hand. »Danke ihm immerhin, Jadwiga!« sagte er. »Ihr wißt noch nicht, was er alles für mich gewagt hat.«

»Das Wagnis war nicht so groß, wie es schien,« lehnte Waldemar ab. »Ich hatte mir zuvor die Wege geebnet. Wo Gefängnisse sind, ist auch Bestechung möglich. Ohne diesen goldenen Schlüssel wäre ich nie bis ins Innere der Festung gedrungen, und noch weniger wären wir beide wieder hinaus gelangt.«

Wanda stand neben ihrem Vater, dessen Arme sie noch immer festhielt, als fürchte sie, er könne ihr wieder entrissen werden. Sie allein hatte noch kein Wort des Dankes gesprochen, nur ihr Blick war Waldemar entgegengeflogen, als sie sich bei seinem Eintritt umwandte, und dieser Blick mußte ihm wohl mehr gesagt haben, als alle Worte. Er schien zufrieden damit und machte keinen Versuch, sich ihr direkt zu nähern.

»Noch ist die Gefahr nicht ganz überstanden,« wandte er sich wieder an den Grafen. »Wir haben es ja leider schwarz auf weiß in Händen, daß Ihnen auch hier die Verhaftung und Auslieferung droht. Für den Augenblick freilich sind Sie sicher in Wilicza. Frank hat versprochen, uns als Wachtposten zu dienen, und Sie bedürfen auch dringend einige Stunden der Ruhe, aber morgen früh müssen wir weiter nach S.«

»Ihr wollt also nicht den direkten Weg nach Frankreich oder England nehmen?« fragte die Fürstin.

»Nein, das dauert zu lange, und gerade auf diesem Weg wird man uns vermuten; wir müssen versuchen, so schnell wie möglich die See zu erreichen. S. ist der nächste Hafen und morgen abend können wir bereits dort sein. Ich habe alles vorbereitet; schon seit vier Wochen liegt ein englisches Schiff dort, über das ich mir die alleinige Verfügung gesichert habe, und das jeden Augenblick bereit ist, in See zu gehen. Es bringt Sie vorläufig nach England, mein Oheim. Von dort aus stehen Ihnen ja Frankreich, die Schweiz, Italien offen, gleichviel, wo Sie Ihren Aufenthalt wählen. Einmal auf hoher See, sind Sie gerettet.«

»Und du, Waldemar?« – der Graf gab seinem ältesten Neffen auch das Du, das er so lange nur dem jüngeren zugestanden. »Wirst du deine Kühnheit nicht noch büßen müssen? Wer weiß, ob das Geheimnis meiner Flucht streng bewahrt bleiben, wird – es wissen zu viele darum.«

Waldemar lächelte flüchtig. »Ich habe allerdings diesmal meine Natur verleugnen und an allen Ecken und Enden Vertraute haben müssen; es ließ sich nicht anders durchführen. Zum Glück sind es sämtlich Mitschuldige – sie können nichts verraten, ohne sich selbst preiszugeben. Die Befreiung wird man aber unbedingt meiner Mutter zuschreiben, und wenn in Zukunft wirklich einmal Vermutungen und Gerüchte über die Wahrheit auftauchen, nun so leben wir ja auf deutschem Boden. Hier ist Graf Morynski weder angeklagt, noch verurteilt worden, und hier wird seine Befreiung also auch nicht als Verbrechen gelten. Man wird es begreifen, daß ich, trotz allem, was uns politisch trennt, die Hand zur Rettung meines Oheims bot, wenn man erfährt, daß er auch – mein Vater geworden ist.«

In dem Antlitz Morynskis zuckte etwas auf bei dieser Mahnung, was er vergebens zu unterdrücken versuchte, ein Schmerz, dessen er nicht Herr zu werden vermochte. Er wußte ja längst um diese Liebe, die ihm wie seiner Schwester so lange als ein Unglück, ja beinahe als ein Verbrechen erschienen war. Auch er hatte sie mit allen Mitteln bekämpft, die ihm nur zu Gebot standen, und noch in der letzten Zeit versucht, Wanda davon loszureißen; er hatte es geduldet, daß sie sich entschloß, mit ihm in ein fast sicheres Verderben zu gehen, nur um diese Verbindung zu hindern. Es war ein schweres Opfer, das er den nationalen Vorurteilen, dem alten Nationalhaß abrang, der so lange die Richtschnur seines Lebens gewesen war, aber er sah auf den Mann, dessen Hand ihn aus dem Kerker geführt, der Leben und Freiheit daran gesetzt hatte, um ihm beides zurückzugeben – dann beugte er sich zu seiner Tochter nieder.

»Wanda!« sagte er leise.

Wanda blickte zu ihm auf. Das Antlitz des Vaters war ihr nie so düster, so gramvoll erschienen, wie in dieser Minute. Sie war ja darauf vorbereitet gewesen, ihn verändert zu finden, aber so furchtbar hatte sie sich diese Veränderung nicht gedacht, und als sie jetzt in seinen Augen las, was ihm die Einwilligung kostete, da trat jeder eigene Wunsch zurück, und die Zärtlichkeit der Tochter flammte auf.

»Jetzt noch nicht, Waldemar!« flehte sie mit bebender Stimme. »Du siehst, was mein Vater gelitten hat und noch leidet. Du kannst nicht fordern, daß ich mich im Augenblick des Wiedersehens schon wieder von ihm trenne. Laß mich noch einige Zeit an seiner Seite, nur ein Jahr noch! Du hast ihn vor dem Furchtbarsten bewahrt, aber er muß doch immer in die Fremde, in die Verbannung hinaus – soll ich ihn krank und allein gehen lassen?«

Waldemar schwieg. Er fand nicht den Mut, Wanda an das Wort zu erinnern, das sie ihm bei ihrem letzten Zusammensein ausgesprochen; die gebrochene Gestalt des Grafen verbot jeden Trotz und sprach zugleich mächtig für die Bitte seiner Tochter, aber in dem jungen Mann bäumte sich jetzt der ganze Egoismus der Liebe empor. Er hatte so vieles gewagt, um die Geliebte zu besitzen, und nun ertrug er es nicht, daß man ihm den Preis noch länger versagte. Finster, mit zusammengepreßten Lippen sah er zu Boden, als plötzlich die Fürstin dazwischen trat.

»Ich will die Sorge um den Vater von dir nehmen, Wanda,« sagte sie. »Ich gehe mit ihm – –«

Die drei andern fuhren in höchster Ueberraschung auf. »Wie, Jadwiga?« fragte der Graf, »du wolltest mit mir gehen?«

»In die Verbannung,« vollendete die Fürstin mit fester Stimme. »Sie ist uns beiden ja nicht fremd, Bronislaw; wir haben sie lange Jahre hindurch gekostet – wir nehmen das alte Schicksal wieder auf uns.«

»Niemals!« rief Waldemar auflodernd. »Ich gebe es nicht zu, daß du mich jetzt verläßt, Mutter. Die Kluft zwischen uns ist endlich ausgefüllt; der alte Streit begraben. Dein Platz ist fortan in Wilicza bei deinem Sohne.«

»Der soeben dabei ist, seinen Gütern mit eiserner Hand den Stempel des Deutschtums aufzuprägen!« Es lag ein furchtbarer Ernst in dem Tone der Fürstin Baratowska, als sie ihn mit diesen Worten unterbrach. »Nein, Waldemar, du unterschätzest die Polin in mir, wenn du meinst, ich könnte noch ferner in Wilicza bleiben, in dem Wilicza, das jetzt unter deiner Hand auflebt. Ich habe dir spät, aber ganz die Liebe der Mutter gegeben und werde dir diese Liebe bewahren, auch wenn wir voneinander scheiden, auch in der Ferne und wenn wir uns bisweilen wiedersehen, aber an deiner Seite leben und Tag für Tag sehen, wie du alles zu Boden wirfst, was ich mühsam gebaut habe, in deinen deutschen Kreisen meine ganze Vergangenheit verleugnen und jedesmal, wenn der Gegensatz zwischen euch und uns wieder hervortritt, mich deinem Machtwort beugen, das, mein Sohn, kann ich nicht; es wäre mehr, als ich mit aller Willenskraft zu leisten vermöchte. Das würde unsre kaum geschlossene Versöhnung wieder zerreißen, würde den alten Streit, die alte Bitterkeit wieder wachrufen. Also laß mich gehen – es ist das beste für uns beide.«

»Ich habe nicht geglaubt, daß diese Bitterkeit sich selbst in diese Stunde drängen würde,« sagte Waldemar mit leisem Vorwurf.

Die Fürstin lächelte schmerzlich. »Sie gilt nicht dir; sie gilt dem Schicksal, das uns zum Untergang verurteilt hat. Ueber die Baratowski wie über die Morynski hat es den Stab gebrochen. Mit Leo ging das edle Polengeschlecht zu Grabe, das jahrhundertelang in der Geschichte unsres Volkes geglänzt hat. Auch mein Bruder ist der Letzte seines Stammes, Mit Wanda erlischt sein Name, und er erlischt jetzt in dem deinigen. Wanda ist jung; sie liebt dich; sie wird vielleicht überwinden lernen, was uns beiden unmöglich ist. Euch gehört ja das Leben und die Zukunft – wir haben nur noch die Vergangenheit.«

»Jadwiga hat recht,« nahm jetzt auch Graf Morynski das Wort. »Ich darf nicht bleiben, und sie will es nicht. Ihr hat die Verbindung mit deinem Vater kein Heil gebracht, Waldemar, und mir ist es, als könnten ein Nordeck und eine Morynska überhaupt kein Glück miteinander finden. Auch zwischen euch liegt der unselige Zwiespalt, der deinen Eltern so verhängnisvoll geworden ist, auch Wanda ist ein Kind ihres Volkes und kann das Blut dieses Volkes nicht verleugnen, so wenig wie du das deinige. Es ist ein Wagnis, das ihr mit dieser Ehe auf euch nehmt, aber ihr habt es gewollt – ich widerstrebe nicht länger.«

Es war keine frohe Verlobung, die das junge Paar feierte. Die angekündigte Trennung von der Mutter, die düstere Resignation des Vaters und seine Warnung warfen einen tiefen Schatten über die Stunde, die sonst so sonnenhell zu sein pflegt für zwei jugendliche Herzen. Es schien wirklich, als sollte dieser Leidenschaft, die sich durch so heiße Kämpfe durchgerungen, so viele Hindernisse zu Boden geworfen hatte, kein Glück beschieden sein.

»Und nun komm, Bronislaw!« sagte die Fürstin, den Arm ihres Bruders nehmend. »Du bist zu Tode erschöpft von dem scharfen Ritt und den Aufregungen der letzten Tage, du mußt bis morgen ruhen, wenn es dir möglich sein soll, die Reise fortzusetzen. Wir wollen die beiden allein lassen; sie haben noch kaum miteinander gesprochen und sie haben sich doch so viel zu sagen.«

Sie verließ mit dem Grafen das Zimmer, aber kaum hatte sich die Thür hinter, ihnen geschlossen, da wich der Schatten. Waldemar zog mit stürmischer Zärtlichkeit die endlich errungene Braut in seine Arme. – –

Fabian und seine Gattin befanden sich noch im Nebenzimmer, aber Gretchen war äußerst ungehalten und warf einen wehmütigen Blick nach dem Theetisch.

»Daß die Menschen über ihren romantischen Gefühlen doch immer vergessen, was notwendig und in der Ordnung ist!« bemerkte sie. »Die Angst und Aufregung ist doch nun vorbei und das Wiedersehen auch; sie könnten sich doch nun ruhig zu Tisch setzen, aber das fällt niemand ein. Ich habe weder die Fürstin noch den Grafen Morynski dahin bringen können, auch nur etwas zu genießen, aber Gräfin Wanda wenigstens muß eine Tasse von dem Thee nehmen, den ich eben wieder frisch bereitet habe; sie muß es unter allen Umständen. Ich werde nachsehen, ob sie mit Herrn Nordeck noch drinnen im Salon ist. Bleibe du inzwischen hier, Emil!«

Emil blieb gehorsam bei der Theemaschine sitzen, aber die Zeit wurde ihm lang dabei, denn es vergingen wohl zehn Minuten, ohne daß seine Frau zurückkehrte.

Der Professor fing an sich unbehaglich zu fühlen. Er kam sich hier so überflüssig vor; er hätte sich so gern auch irgendwie nützlich gemacht, wie Gretchen, deren praktische Natur sich nie verleugnete, und um doch wenigstens etwas zu thun, ergriff er die bereits gefüllte Theetasse und trug sie in den anstoßenden Salon. Zu seiner großen Ueberraschung fand er diesen leer und seine Frau dicht vor der jetzt geschlossenen Thür des Arbeitskabinetts der Fürstin stehen.

»Liebes Gretchen,« sagte Fabian, die Tasse so vorsichtig und ängstlich auf der Hand balancierend, als enthielte sie das kostbarste Lebenselixir. »Ich bringe den Thee; er könnte am Ende kalt werden, wenn es noch lange dauert.«

Die Frau Professorin hatte sich in einer sehr verfänglichen Stellung überraschen lassen. Sie stand nämlich gebückt, mit dem Auge am Schlüsselloch, hatte sich aber glücklicherweise noch rasch aufgerichtet, als ihr Gemahl eintrat. Jetzt ergriff sie ihn samt der Tasse und zog ihn wieder ins Nebenzimmer.

»Laß nur, Emil!« erwiderte sie. »Die Gräfin braucht keinen Thee, und es dauert noch sehr lange. Um deinen lieben Waldemar brauchst du dich auch nicht mehr zu grämen; dem geht es gar nicht schlecht da drinnen, durchaus nicht. Ich habe ihm übrigens unrecht gethan – er hat doch ein Herz. Dieser kalte starre Nordeck kann wirklich auf den Knieen liegen und in den glühendsten Worten von seiner Liebe sprechen. Ich hätte es nicht geglaubt.«

»Aber, liebes Kind, woher weißt du denn das alles?« fragte der Professor, der in seiner Unschuld und Gelehrsamkeit nie etwas mit Schlüssellöchern zu thun gehabt hatte. »Du standest ja draußen.«

Gretchen wurde feuerrot, faßte sich aber schnell und sagte mit großer Bestimmtheit:

»Das verstehst du nicht, Emil. Es ist auch gar nicht nötig – und da der Thee nun einmal da ist, so wollen wir ihn selber trinken.«


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