Vineta
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In dem Wohngemache der Fürstin befanden sich Graf Morynski und Leo, Sie hatten durch Pawlick bereits Waldemars Ankunft erfahren, aber die erste Zusammenkunft zwischen Mutter und Sohn nicht stören wollen. Der Graf sah nur etwas verwundert auf, als Wanda, die er auf ihrem Zimmer glaubte, gleichfalls mit eintrat, aber er unterdrückte die Frage, die ihm auf den Lippen schwebte; der junge Nordeck fesselte für den Augenblick sein ganzes Interesse.

Die Fürstin nahm die Hand ihres jüngeren Sohnes und führte ihn zu dem älteren. »Ihr habt euch bisher nicht gekannt,« sagte sie bedeutsam, »und erst heute ist es mir vergönnt, der langen Trennung zwischen euch ein Ende zu machen. Leo bringt dir die volle Geschwisterliebe entgegen, Waldemar. Laß mich hoffen, daß er auch in dir einen Bruder findet.«

Waldemar maß mit einem raschen Blicke den vor ihm stehenden Bruder, aber der Blick hatte nichts Feindseliges mehr. Die Schönheit des jungen Fürsten nahm ihn unwillkürlich gefangen; das sah man, vielleicht war er auch weicher gestimmt durch das Vorhergegangene, und als Leo, noch halb in scheuer Zurückhaltung, ihm die Hand hinstreckte, ergriff er sie lebhaft.

Graf Morynski trat jetzt auch heran, um dem Sohne seiner Schwester einige Höflichkeiten zu sagen, die dieser ziemlich einsilbig beantwortete. Die Unterhaltung, die sich aus Rücksicht für Waldemar ausschließlich in deutscher Sprache bewegte, würde gezwungen und matt gewesen sein, hätte die Fürstin es nicht verstanden, sie mit einer wahren Meisterschaft zu leiten. Sie vermied jede naheliegende Klippe, jede verletzende Erinnerung; sie wußte den Bruder, ihre Söhne und Wanda nacheinander in das Gespräch zu ziehen und für eine halbe Stunde wirklich den Anschein zu erwecken, als herrsche die vollkommenste Harmonie zwischen den Familiengliedern.

Leo stand dicht neben dem Sessel Waldemars, und nichts war geeigneter, den Kontrast zwischen den Brüdern schärfer hervorzuheben, als diese Nähe. Auch der junge Fürst hatte erst kürzlich die Knabenjahre hinter sich gelassen; auch er war noch nicht zum Manne gereift, aber wie anders zeigte sich der Übergang hier! Waldemar hatte nie abstoßender ausgesehen als neben dieser schlanken elastischen Jünglingsgestalt mit dem vollendeten Ebenmaß in jeder Linie, mit der leichten Sicherheit in Haltung und Bewegungen und dem idealistisch schönen Kopfe. Der junge Nordeck mit seinen scharfen, eckigen Formen, mit den unregelmäßigen Zügen und den finsteren Augen unter dem blonden Haargewirr rechtfertigte nur zu sehr die Empfindung, mit welcher der Blick der Mutter auf beiden ruhte, auf ihrem Lieblinge, ihrem schönen lebensvollen Jüngsten, und jenem andern, der gleichfalls ihr Sohn hieß und mit dem sie doch nicht ein einziger Zug des Äußeren, nicht eine einzige Regung des Herzens verband. Es war heute etwas in der Art Waldemars, das ihn noch unvorteilhafter erscheinen ließ als gewöhnlich. Das Schroffe, Herrische, das sonst in seinem Wesen lag, so wenig anziehend es war, es paßte doch zu der ganzen Erscheinung, und gab ihr mindestens etwas Charakteristisches. Er hatte es während der ganzen Unterredung mit der Mutter bewahrt; erst seit dem Augenblicke, wo die junge Gräfin Morynska eintrat, war es verschwunden. Zum erstenmal in seinem Leben schien er sich scheu und befangen zu fühlen, zum erstenmal schien er den Einfluß einer Umgebung zu empfinden, die ihm in jeder Beziehung überlegen war, und das raubte ihm mit dem Trotze auch die Sicherheit. Er war gekommen, um etwas Feindseligem zu begegnen, und dies gab ihm eine gewisse rauhe Überlegenheit. Jetzt gab er den Kampf auf, aber die Überlegenheit mit ihm; er war unbeholfen, zerstreut, und der verwunderte Blick Morynskis schien bisweilen zu fragen, ob denn dies wirklich der Waldemar sei, über den man so viel Abschreckendes gehört. Das Zusammensein hatte etwa eine halbe Stunde gewährt, als Pawlick mit der Meldung erschien, daß der Tisch bereit sei.

»Leo, du wirst es wohl heute deinem Bruder überlassen müssen, Wanda zu führen,« sagte die Fürstin, indem sie aufstand und den Arm ihres Bruders nahm. Sie schritt mit ihm voran nach dem Speisezimmer.

»Nun?« fragte der Graf halblaut auf polnisch. »Wie steht es? Wie endigte die Unterredung?«

Die Fürstin lächelte nur; sie warf noch einen flüchtigen Blick auf Waldemar zurück, der eben im Begriff war, sich Wanda zu nähern, dann entgegnete sie gleichfalls in polnischer Sprache: »Sei ohne Sorge! Er wird sich fügen – ich versichere es dir.« –

Erst gegen Abend kehrte der junge Nordeck nach Altenhof zurück, und Leo, der den Bruder bis zum Ausgange der Villa begleitet hatte, trat wieder in das Empfangszimmer. Die Fürstin und Graf Morynski waren nicht mehr dort, nur Wanda stand noch auf dem Balkon, um dem Fortreitenden nachzusehen.

»Mein Gott, welch ein Ungetüm ist dieser Waldemar!« rief die junge Gräfin ihrem Vetter entgegen. »Wie ist es dir nur möglich gewesen, Leo, die ganze Zeit über ernst zu bleiben? Sieh her, ich habe mein Taschentuch ganz zerknittert, um das Lachen dahinter zu verstecken, aber jetzt kann ich es nicht mehr bewältigen; ich ersticke sonst,« und Wanda warf sich auf einen der Balkonsessel und überließ sich einem so stürmischen Ausbruch von Heiterkeit, daß man sah, welche Mühe es ihr gekostet hatte, ihn bis jetzt zurückzuhalten.

»Wir waren ja auf Waldemars eigentümliches Wesen vorbereitet,« meinte Leo halb entschuldigend. »Nach allem, was wir über ihn in Erfahrung gebracht, habe ich ihn mir, die Wahrheit zu sagen, noch schroffer und abstoßender gedacht.«

»O, du sahst ihn heute auch nur im Salongewande,« spottete Wanda. »Wer wie ich das Glück hatte, ihn in seiner ganzen Ursprünglichkeit zu bewundern, der kann sich dem überwältigenden Eindruck nicht entziehen, den die erste Erscheinung dieses Wilden macht. Ich denke noch mit Schrecken an unser Zusammentreffen im Walde.«

»Du bist mir noch die Erzählung dieses Zusammentreffens schuldig,« fiel Leo ein. »Es war also Waldemar, der dich vorgestern nach dem Buchenholm führte – so viel habe ich aus eurem Gespräche entnommen, aber ich begreife nicht, weshalb du ein solches Geheimnis aus der Sache machtest.«

»Das geschah nur, um dich zu ärgern,« versetzte die junge Dame sehr aufrichtig, »Du wurdest so gereizt, als ich von der interessanten Begegnung mit einem Fremden sprach; du setztest natürlich voraus, daß irgend ein Kavalier mich begleitet hätte, und ich ließ dich in dem Glauben. Jetzt, Leo,« – sie kämpfte wieder mit einem neuen Anfall von Heiterkeit – »jetzt siehst du doch wohl ein, daß die Sache keine Gefahr hatte.«

»Ja, das sehe ich ein,« stimmte der junge Fürst lachend bei. »Aber Waldemar scheint doch eine kavaliermäßige Regung gehabt zu haben, da er sich herabließ, deinen Führer zu machen,«

»Möglich, aber ich werde mein Leben lang an diese Führung denken. Stelle dir vor, Leo, ich hatte auf einmal den Waldpfad verloren, den ich doch schon öfter gegangen war, und den ich ganz genau zu kennen meinte. Bei jedem Versuche, ihn wieder aufzufinden, geriet ich nur immer tiefer in den Wald und fand mich schließlich in ganz unbekannten Umgebungen. Ich wußte nicht einmal mehr die Richtung, in welcher der Buchenholm oder die See lagen, denn es regte sich kein Windhauch, und auch nicht das leiseste Brausen der Wellen drang zu mir herüber. Ganz ratlos stand ich da und war eben im Begriff, umzukehren, als etwas mit einem Ungestüm, als ob eine ganze Treibjagd daherbrause, durch die Gebüsche brach. Urplötzlich stand eine Gestalt vor mir, die ich wirklich für nichts andres halten konnte, als für den Waldgeist in höchsteigener Person. Er schien direkt aus dem Sumpfe zu kommen, denn er war bis über die Kniee hinauf voll Morast. Ein erlegtes Reh hatte er über die Schulter geworfen, ohne sich darum zu kümmern, daß das herabrieselnde Blut des Tieres seinen ganzen Jagdrock befleckte. Die ungeheure gelbe Löwenmähne, die er statt der Haare trägt, war von den Zweigen arg mitgenommen und fiel ihm über das Gesicht, herab. So stand er da, die Flinte in der Hand, einen knurrenden, zähnefletschenden Jagdhund neben sich – ich frage dich, ob es möglich war, dieses Waldungetüm für einen Menschen und Jäger anzusehen?«

»Du hast dich wohl außerordentlich gefürchtet?« spottete Leo.

Wanda hob mit einer sehr entschiedenen Bewegung den Kopf. »Gefürchtet? Ich? Du solltest doch wissen, daß ich nicht furchtsam bin! Eine andre wäre wahrscheinlich davongelaufen, ich aber hielt stand und fragte nach dem Wege zum Buchenholm. Aber obgleich ich die Frage wiederholte, wurde mir keine Antwort; statt dessen stand das Gespenst wie an den Boden festgewachsen und starrte mich mit seinen großen wilden Augen an, ohne einen Laut von sich zu geben. Jetzt wurde mir die Sache doch etwas unheimlich, und ich wandte mich zum Gehen; da war es auf einmal mit zwei Schritten an meiner Seite, wies nach rechts hinüber und gab die unzweifelhafte Absicht kund, mich zu führen.«

»Aber doch nicht bloß pantomimisch?« warf Leo ein, »Waldemar wird doch mit dir gesprochen haben.«

»O ja, er sprach; das heißt: er beehrte mich im ganzen mit sechs oder sieben Worten – mehr waren es sicher nicht. In der ersten Minute unsres Zusammenseins vernahm ich so etwas, wie: ›Wir müssen rechts hinüber!‹ und in der letzten: ›Da ist der Buchenholm.‹ Während der halben Stunde, die dazwischen lag, herrschte ein imponierendes Schweigen, das ich nicht zu brechen wagte. Und was war das für ein Weg, den wir einschlugen! Erst gingen wir mitten in das Dickicht hinein, mein liebenswürdiger Führer voran, wie ein Bär alles Gesträuch niedertretend und durchbrechend. Ich glaube, er hat den halben Wald ruiniert, um mir einigermaßen den Weg zu bahnen. Dann kamen wir durch eine Lichtung, darauf an einen Sumpf; ich dachte, wir würden geradeswegs hineinlaufen, aber wunderbarerweise blieben wir am Rande. Und während der ganzen Zeit fiel auch nicht ein einziges Wort zwischen uns, aber der seltsame Begleiter wich nicht von meiner Seite, und so oft ich aufblickte, begegnete ich seinen Augen, die mir mit jeder Minute unheimlicher wurden. Ich neigte mich jetzt entschieden der Ansicht zu, er sei direkt aus irgend einem Hünengrabe emporgestiegen, um sich das erste beste Menschenkind als Opfer auszusuchen und es zu einem der alten Heidenaltäre hinzuschleppen, wo es sein Leben lassen müsse. Da, gerade als ich im Begriffe war, mich auf mein nahes Ende vorzubereiten, sah ich auf einmal die blaue See durch die Bäume schimmern und erkannte die Umgebungen des Buchenholms. Mein Kavalier aus der Urzeit blieb stehen, starrte mich nochmals an, als wolle er mich gleich auf der Stelle verschlingen, und schien es kaum zu hören, daß ich ihm dankte. In der nächsten Minute war ich am Strande, wo ich bereits dein Boot erblickte. – Denke dir mein Erstaunen, als ich heute eintrete und meinen Waldgeist, mein Hünengespenst, das ich längst in Gott weiß welche Höhlen der Erde versunken glaubte, im Empfangszimmer der Tante erblickte, und das besagte Gespenst mir schließlich als Vetter Waldemar vorgestellt wird! Es ist wahr, er gab sich heute durchaus im Salonstil; er führte mich sogar zu Tische, aber mein Himmel, wie stellte er sich dabei an! Ich glaube, es war das erste Mal in seinem Leben, daß er einer Dame den Arm bot. Hast du gesehen, wie er sich verbeugte, wie er sich bei Tische benahm? Nimm es mir nicht übel, Leo, aber dein neuer Herr Bruder gehört ganz entschieden in die Wildnis, und zwar in die allerentlegenste. Da hat er doch wenigstens noch etwas Furchtbares an sich, wenn er aber unter zivilisierten Menschen auftaucht, gibt er höchstens zu Lachkrämpfen Anlaß. Und das soll der künftige Herr von Wilicza sein!«

Leo teilte im Grunde ganz diese Meinung, dennoch sah er sich veranlaßt, die Partei seines Bruders zu nehmen. Er fühlte, wie unendlich er selbst diesem in Erscheinung und Haltung überlegen war, und das machte es ihm leicht, Großmut zu üben.

»Es ist aber nicht Waldemars Schuld, daß seine Erziehung so ganz und gar vernachlässigt ist,« sagte er, »Die Mama meint, sein Vormund habe ihn systematisch verwildern lassen.«

»Kurz und gut, er ist ein Ungetüm,« entschied die junge Dame, »und ich erkläre hiermit feierlich, daß, wenn man mir noch einmal einen solchen Kavalier zumutet, ich mir ein freiwilliges Fasten auferlege und nicht bei Tische erscheine.«

Während des Gespräches war Wandas Taschentuch, mit dem sie sich Kühlung zugefächelt hatte, herabgeglitten; es lag seitwärts unter den Epheuranken, die den Balkon umgaben. Leo bemerkte es und bückte sich ritterlich danach; er mußte sich aber dabei fast auf die Kniee niederlassen. In dieser Stellung hob er das Tuch auf und überreichte es seiner Cousine, und diese brach, statt ihm zu danken, wieder in ein lautes Lachen aus.

Der junge Fürst sprang heftig auf. »Du lachst?«

»O, nicht über dich, Leo! Ich dachte mir nur soeben, wie unendlich komisch dein Bruder sich in einer solchen Stellung ausnehmen würde.«

»Waldemar? Ja freilich! Aber dieses Vergnügen wirst du schwerlich haben. Der beugt sicher niemals das Knie vor einer Dame, am wenigsten vor dir.«

»Am wenigsten vor mir?« wiederholte Wanda beleidigt. »Ah so, du meinst, ich bin noch ein solches Kind, daß es gar nicht der Mühe lohnt, vor mir niederzuknieen? Ich hätte große Lust, dich vom Gegenteil zu überzeugen.« »Wodurch?« fragte Leo lachend. »Durch Waldemars Kniefall vielleicht?«

Die junge Dame warf trotzig die Lippen auf. »Und wenn ich mir nun vornehme, ihn dahin zu bringen?«

»Nun, so versuche doch deine Macht an meinem Bruder!«

Wanda sprang auf mit dem ganzen Eifer eines Kindes, dem ein neues Spielzeug in Aussicht gestellt wird.

»Es sei! Was gilt die Wette?«

»Aber es muß ein ernstgemeinter Fußfall sein, Wanda! Keine bloße Artigkeit, wie der meinige vorhin.«

»Natürlich!« bestätigte die junge Gräfin. »Du lachst? Du hältst das wohl unter allen Umständen für unmöglich? Nun, wir werden ja sehen, wer von uns beiden gewinnt. Du sollst Waldemar vor mir auf den Knieen sehen, ehe wir abreisen. Nur eins bitte ich mir aus: du darfst ihm keinen Wink geben. Ich glaube, seine ganze Bärennatur käme zum Vorschein, erführe er, daß wir uns unterfingen, allerhöchst ihn zum Gegenstand einer Wette zu machen.«

»Ich schweige,« versicherte Leo, der, von ihrem Mutwillen fortgerissen, jetzt auf den Scherz einging. »Einem Ausbruch seiner Berserkerwut aber werden mir nicht entgehen, wenn du ihn schließlich auslachst und ihm die Wahrheit klar wird. Oder beabsichtigst du vielleicht ihm ein ›Ja‹ zu geben?«

Die beiden Kinder – denn das waren sie ja im Grunde noch mit ihren sechzehn und siebzehn Jahren – lachten und scherzten über ihren Einfall, wie eben übermütige Kinder zu thun pflegen. Sie waren so an gegenseitige Neckereien gewöhnt, daß es ihnen durchaus nicht darauf ankam, auch einmal einen dritten in den Kreis dieser Neckereien zu ziehen. Sie dachten gar nicht daran, wie wenig der schroffe Charakter Waldemars dazu geeignet war, und in welchen bitteren Ernst er das Spiel verkehren könnte, das sie sich in ihrem Mutwillen ausgesonnen.


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