Vineta
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Einige Wochen waren vergangen. Der Sommer neigte sich seinem Ende zu, und in Altenhof hatte man vollauf mit der Ernte zu thun. Der Gutsherr, der den ganzen Vormittag auf den Feldern gewesen war, um überall nachzusehen und anzuordnen, war müde und matt nach Hause gekommen und gedachte jetzt, nach dem Essen, sich der wohlverdienten Mittagsruhe hinzugeben. Während er aber die Anstalten dazu machte, blickte er mit einem Gemisch von Aerger und Bewunderung auf seinen Pflegesohn, der in seinem gewöhnlichen Reitanzuge am Fenster stand und auf das Vorführen seines Pferdes wartete.

»Also du willst wirklich in der Mittagshitze nach C. hinüber?« fragte Herr Witold. »Ich gratuliere dir zu dem zweistündigen schattenlosen Wege. Du wirst den Sonnenstich bekommen, aber du scheinst gar nicht mehr leben zu können, wenn du deiner Frau Mutter nicht mindestens drei- oder viermal in der Woche die Aufwartung machst.« Der junge Mann runzelte die Stirn. »Ich kann der Mutter doch nicht ›nein‹ sagen, wenn sie mich zu sehen wünscht. Jetzt, wo wir uns so nahe sind, hat sie am Ende das Recht, zu verlangen, daß ich sie öfter besuche.«

»Nun, sie macht auch einen tüchtigen Gebrauch davon,« meinte Witold. »Wissen möchte ich aber doch, wie sie es angefangen hat, dich zum gehorsamen Sohn zu machen. Ich habe es fast zwanzig Jahre lang umsonst versucht; sie brachte es in einem einzigen Tage fertig. Freilich das Regieren verstand sie von jeher aus dem Grunde.«

»Du weißt doch am besten, Onkel, daß ich mich nicht regieren lasse,« versetzte Waldemar in gereiztem Tone. »Die Mutter ist mir mit einer Versöhnlichkeit entgegengekommen, die ich nicht so schroff zurückweisen kann und will, wie du es thatest, solange ich noch unter deiner Vormundschaft stand –«

»Es wird dir wohl recht oft da drüben gesagt, daß du nicht mehr darunter stehst?« unterbrach ihn der Pflegevater. »Du betonst das merkwürdig oft seit den letzten Wochen. Das ist übrigens ganz und gar unnötig, mein Junge. Du hast leider von jeher immer nur gethan, was du selbst gewollt hast, hast es oft genug gegen meinen Willen gethan. Deine Mündigkeitserklärung ist eine reine Form, das heißt für mich, nicht für die Baratowski. Die werden schon wissen, was sie damit anzufangen haben und weshalb sie dich fortwährend daran erinnern.«

»Wozu die ewigen Verdächtigungen!« brauste Waldemar auf. »Soll ich auf jeden Umgang mit meinen Verwandten verzichten, einzig deshalb, weil du ihnen feind bist?«

»Ich wollte, du könntest die Zärtlichkeit deiner lieben Verwandten einmal auf die Probe stellen,« spottete Witold. »Sie kümmerten sich nicht so viel um dich, wenn du nicht zufälligerweise der Herr von Wilicza wärest. – Nun, fahre nur nicht gleich wieder auf! Wir haben uns in der letzten Zeit so oft über die Geschichte gezankt, daß ich mir heute nicht wieder den Mittagsschlaf dadurch verderben will. Dieser verwünschte Badeaufenthalt wird ja wohl auch ein Ende nehmen, und dann sind wir die ganze Gesellschaft los.«

Es trat ein kurzes Schweigen ein. Waldemar ging ungeduldig im Zimmer auf und nieder.

»Ich weiß nicht, was sie drüben in den Ställen machen. Ich habe Befehl gegeben, den Normann zu satteln, aber der Stallknecht scheint dabei eingeschlafen zu sein.« »Du hast wohl wieder einmal gewaltige Eile, fortzukommen?« fragte der Gutsherr trocken. »Ich glaube wahrhaftig, sie haben dir in C. einen Hexentrank eingegeben, daß du nirgends anderswo mehr Ruhe hast. Du kannst jetzt nie die Zeit erwarten, bis du erst im Sattel sitzest.«

Waldemar gab keine Antwort, er pfiff vor sich hin und schlug mit der Reitgerte in die Luft.

»Die Fürstin geht doch hoffentlich wieder nach Paris zurück?« fragte Witold auf einmal.

»Das weiß ich nicht. Es ist noch nicht beschlossen, wo Leo seine Studien vollenden soll. Die Mutter wird sich wahrscheinlich durch die Rücksicht auf ihn in ihrem künftigen Aufenthalt bestimmen lassen.«

»Ich wollte, er studierte in Konstantinopel,« sprach Herr Witold ärgerlich, »und seine Frau Mutter ließe sich aus Rücksicht für ihn bestimmen, auch mit ins Türkenland zu gehen, dann kämen sie wenigstens so bald nicht wieder. Dieser junge Baratowski muß ja übrigens ein wahres Ungeheuer von Gelehrsamkeit werden. Du sprichst fortwährend von seinen ›Studien‹.«

»Leo hat auch viel mehr gelernt als ich,« sagte Waldemar grollend, »und er ist doch volle vier Jahre jünger.«

»Seine Mutter wird ihn wohl tüchtig zum Lernen angehalten haben. Der hat sicher nur einen einzigen Hofmeister gehabt, während dir sechs davongelaufen sind und der siebente nur mit Not und Mühe bei dir aushält.«

»Und warum bin ich nicht zum Lernen angehalten worden?« fragte der junge Nordeck plötzlich, indem er trotzig die Arme übereinander schlug und dicht vor seinen Pflegevater hintrat. Dieser sah ihn mit starrer Verwunderung an.

»Ich glaube, der Junge will mir Vorwürfe machen, weil ich ihm in allen Stücken den Willen gethan habe,« rief er erzürnt.

»Nein,« entgegnete Waldemar kurz. »Du hast es gut gemeint, Onkel, aber du weißt nicht, wie mir zu Mute ist, wenn ich sehe, daß Leo mir in allen Stücken voraus ist, wenn ich fortwährend von der Notwendigkeit seiner weiteren Ausbildung höre, und dabei stehe und – aber das soll ein Ende nehmen. Ich gehe auch auf die Universität.«

Herr Witold hätte vor Schreck beinahe das Sofakissen fallen lassen, das er sich eben zurechtlegen wollte.

»Auf die Universität?« wiederholte er.

»Gewiß, Doktor Fabian spricht ja schon seit Monaten davon.«

»Und du hast dich seit Monaten entschieden geweigert.«

»Das war früher – jetzt denke ich anders darüber. Leo soll schon im nächsten Jahre zur Universität, und wenn er mit achtzehn Jahren reif dafür ist, so ist es für mich wahrhaftig die höchste Zeit. Ich will nicht immer und ewig hinter meinem jüngeren Bruder zurückstehen. Morgen spreche ich mit Doktor Fabian. – Und jetzt werde ich einmal selbst nach den Ställen hinübergehen und sehen, ob der Normann endlich gesattelt ist. Mir reißt die Geduld bei dem langen Warten.«

Er hatte bei den letzten Worten seinen Hut vom Tische genommen und stürmte nun in voller Ungeduld hinaus. Herr Witold blieb auf dem Sofa sitzen, er hielt das Kissen noch in der Hand, aber er dachte nicht mehr daran, es sich zurechtzulegen; mit der Mittagsruhe schien es vorläufig vorbei zu sein.

»Was ist mit dem Jungen vorgegangen? – Doktor, was haben sie mit dem Jungen angefangen?« rief er zornig dem ganz harmlos eintretenden Doktor Fabian entgegen.

»Ich?« fragte dieser erschrocken. »Nichts, Herr Witold. Waldemar kam ja soeben von Ihnen.«

»Ach, ich meine ja gar nicht Sie,« sagte der Gutsherr ärgerlich. »Ich sprach von der Baratowskischen Gesellschaft. Seit die den Waldemar in Händen hat, ist er gar nicht mehr zu regieren. Denken Sie nur, er will auf die Universität.«

»Wirklich?« rief der Doktor erfreut.

Durch diese Antwort wurde Herr Witold nur noch mehr erbost. »Darüber freuen Sie sich wohl ganz außerordentlich?« grollte er. »Es macht Ihnen wohl sehr großes Vergnügen, daß Sie von hier wegkommen und ich dann mutterseelenallein in Altenhof sitze?«

»Sie wissen ja, daß ich den Universitätsbesuch stets befürwortet habe,« verteidigte sich der Erzieher. »Ich habe leider nie Gehör gefunden, und wenn es wirklich die Frau Fürstin ist, die Waldemar endlich dazu vermocht hat, so kann ich ihren Einfluß nur für einen segensreichen halten.«

»Hol der Kuckuck den segensreichen Einfluß!« rief der Gutsherr, indem er das unglückliche Sofakissen mitten in das Zimmer schleuderte. »Wir werden schon sehen, was dahinter steckt. Irgend etwas ist mit dem Jungen passiert. Er läuft herum, als ob er am hellen lichten Tage träumte, kümmert sich um nichts mehr und gibt, wenn man ihn fragt, ganz verkehrte Antworten. Wenn er auf die Jagd geht, kommt er mit leeren Händen zurück, er, der sonst immer trifft, und jetzt hat er es auf einmal mit dem Studieren bekommen und ist nicht wieder davon abzubringen. – Ich muß heraus haben, was diese Veränderung bewirkt hat, und Sie sollen mir dabei helfen, Doktor, Sie müssen nächstens mit nach C.«

»Um des Himmels willen nicht!« protestierte Doktor Fabian. »Was soll ich dort?«

»Aufpassen!« sagte der Gutsherr wichtig. »Und mir dann Nachricht bringen. Da drüben passiert etwas, das lasse ich mir nicht nehmen. Ich selbst kann nicht hinüber, denn ich stehe mit der Fürstin sozusagen auf dem Kriegsfuße, und wenn wir beide zusammengeraten, gibt es Lärm. Ich kann ihre Bosheiten nicht ertragen und sie nicht meine Grobheiten, aber Sie, Doktor, sind neutral in der Sache; Sie sind der rechte Mann.«

Der Doktor wehrte sich mit allen Kräften gegen die ihm gestellte Zumutung. »Aber ich verstehe mich ganz und gar nicht auf dergleichen,« klagte er. »Sie kennen ja meine Aengstlichkeit, meine Zerstreutheit im Verkehr mit Fremden, und nun vollends der Frau Fürstin gegenüber. Auch wird Waldemar nie zugeben, daß ich ihn begleite –«

»Hilft Ihnen alles nichts!« unterbrach ihn Witold diktatorisch. »Sie müssen nach C. Sie sind der einzige Mensch, zu dem ich Vertrauen habe, Doktor. Sie werden mich doch nicht im Stiche lassen?«

Und nun stürmte er mit einer solchen Menge von Bitten, Vorwürfen und Vorstellungen auf den armen Doktor ein, daß dieser, halb betäubt, sich endlich gefangen gab und alles versprach, was man von ihm verlangte.

Da ließen sich Hufschläge draußen auf dem Hofe vernehmen. Waldemar saß bereits zu Pferde; er gab dem Tiere die Zügel, und ohne auch nur einen Blick nach den Fenstern zurückzuwerfen, sprengte er davon.

»Da jagt er hin,« sagte Witold, halb grollend und halb schon wieder voll Bewunderung über seinen Pflegesohn. »Sehen Sie nur, wie der Junge zu Pferde sitzt, wie aus Erz gegossen! Und es ist doch wahrhaftig keine Kleinigkeit, den Normann zu bändigen.«

»Waldemar hat eine eigene Vorliebe, stets nur junge, wilde Pferde zu reiten,« meinte der Doktor ängstlich. »Ich begreife nicht, weshalb er sich gerade den Normann zum Liebling ausersehen hat. Es ist das unbändigste und widerspenstigste Tier im ganzen Stalle.«

»Ebendeshalb!« lachte der Gutsherr. »Sie wissen ja, er muß etwas zu bezwingen und zu bändigen haben, sonst macht ihm die Sache keinen Spaß. Aber nun kommen Sie, Doktor! Wir wollen Ihre Mission überlegen; Sie müssen die Sache diplomatisch anfangen.«

Damit ergriff er den Doktor beim Arme und zog ihn zum Sofa. Der arme Fabian folgte geduldig. Er hatte sich in alles ergeben und sagte nur halblaut mit kläglichem Ausdrucke: »Ich ein Diplomat, Herr Witold? daß Gott erbarm!« –

Die Baratowskische Familie hatte von jeher nur wenig Anteil an dem Badeleben von C. genommen, und seit der letzten Zeit zog sie sich noch mehr als sonst davon zurück. Waldemar fand sie bei seinen jetzt so häufigen Besuchen stets unter sich. Graf Morynski war schon nach wenigen Tagen wieder abgereist; es war allerdings seine Absicht gewesen, seine Tochter sogleich mit sich zu nehmen, aber die Fürstin fand, daß ein längerer Aufenthalt an der See für Wandas Gesundheit ganz unbedingt notwendig sei und wußte ihren Bruder zu bestimmen, daß er in die verlängerte Trennung willigte. Er hatte sich dem Wunsche der Schwester gefügt und war vorläufig allein nach Rakowicz zurückgekehrt, wo geschäftliche Angelegenheiten seine Gegenwart erforderten.

Der junge Nordeck hatte trotz der Mittagshitze den Ritt in stürmischer Eile zurückgelegt und trat jetzt in das Zimmer der Fürstin, die er an ihrem Schreibtische fand. Wäre Leo so glühend erhitzt bei ihr eingetreten, sie hätte sicher ein Wort der Sorge oder der Ermahnung für ihn gehabt, Waldemars Aussehen blieb, wenn auch nicht unbemerkt, doch gänzlich unerwähnt. Es war eigentümlich, daß auch jetzt, wo Mutter und Sohn sich doch so häufig sahen, nicht die geringste Vertraulichkeit zwischen ihnen Wurzel fassen wollte. Die Fürstin behandelte Waldemar stets mit der äußersten Rücksicht, und er bemühte sich, sein schroffes Wesen ihr gegenüber zu mäßigen, aber es lag auch nicht die leiseste Spur von Herzlichkeit in diesem beiderseitigen Bemühen, ein gutes Einvernehmen aufrecht zu erhalten. Sie konnten nun einmal nicht über die unsichtbare Kluft hinweg, die zwischen ihnen lag, wenn eine fremde Macht sie auch für den Augenblick überbrückt hatte. Die gegenseitige Begrüßung war genau so kühl, wie beim ersten Wiedersehen, nur daß Waldemars Augen jetzt unruhig fragend im Zimmer umherschweiften.

»Du suchst Leo und Wanda?« fragte die Fürstin. »Sie sind bereits unten am Strande und wollen dich dort erwarten. Ihr habt ja wohl eine Segelfahrt miteinander verabredet?«

»Jawohl! Ich werde sie sogleich aufsuchen.« Waldemar machte eine hastige Bewegung nach der Thür, aber die Mutter legte ihre Hand auf seinen Arm.

»Zuerst möchte ich dich für einige Minuten in Anspruch nehmen. Ich habe etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.«

»Kann das nicht später geschehen?« fragte Waldemar ungeduldig. »Ich möchte doch vorher –«

»Es liegt mir daran, dich allein zu sprechen,« unterbrach ihn die Fürstin. »Du kommst noch immer zeitig genug zu der Fahrt. Ihr werdet sie wohl um eine Viertelstunde verschieben können.«

Der junge Nordeck sah bei dieser Zumutung äußerst unzufrieden aus und folgte nur mit offenbarem Widerstreben der Einladung zum Niedersitzen. Von Aufmerksamkeit schien bei ihm vorläufig keine Rede zu sein, denn sein Blick schweifte fortwährend durch das Fenster, in dessen Nähe er saß, und das nach dem Strande hinausging.

»Unser Aufenthalt in C. naht sich seinem Ende,« begann die Fürstin. »Wir werden wohl bald an die Abreise denken müssen.«

Waldemar machte eine Bewegung, die fast Schrecken verriet. »Schon jetzt? Der September verspricht ja schön zu werden; weshalb willst du ihn nicht hier verleben?«

»Das kann ich Wandas wegen nicht. Ich kann meinem Bruder nicht eine noch längere Trennung von seinem Lieblinge zumuten. Er hat schon ungern und nur auf meinen besonderen Wunsch in ihr Hierbleiben gewilligt, dafür habe ich ihm aber auch versprochen, sie selbst nach Rakowicz zu bringen.«

»Rakowicz liegt ja wohl nicht weit von Wilicza?« fragte Waldemar rasch.

»Nur eine Stunde entfernt, etwa halb so weit, wie Altenhof von hier.« Der junge Mann schwieg, er sah wieder angelegentlich durch das Fenster. Der Strand schien ihn heute außerordentlich zu interessieren.

»Da wir gerade von Wilicza sprechen,« warf die Fürstin leicht hin, »du wirst doch jetzt, nach erreichter Mündigkeit, deine Güter selbst antreten? Wann gedenkst du dorthin zu gehen?«

»Es war für nächstes Frühjahr bestimmt,« sagte Waldemar zerstreut und immer mit seinen Beobachtungen beschäftigt. »Ich wollte den Winter über noch bei dem Onkel bleiben. Das wird sich aber jetzt wohl ändern, da ich beabsichtige, auf die Universität zu gehen.«

Die Mutter neigte zustimmend das Haupt. »Das ist ein Entschluß, dem ich nur meinen vollen Beifall geben kann. Ich habe dir nie verhehlt, daß ich die vorwiegend praktische Erziehung bei deinem Vormunde zu einseitig fand. Für eine Stellung, wie die deinige, ist eine höhere Ausbildung unerläßlich.«

»Ich möchte vorher aber Wilicza gern einmal sehen,« lenkte Waldemar ein. »Ich war seit meinen Knabenjahren nicht dort, und – und du bleibst doch jedenfalls längere Zeit in Rakowicz?«

»Ich weiß es nicht,« erwiderte die Fürstin. »Für den Augenblick werde ich allerdings die Zuflucht annehmen, die mein Bruder mir und meinem Sohne bietet. Es wird sich ja zeigen, ob wir seine Großmut dauernd in Anspruch nehmen müssen.«

Der junge Nordeck sah auf. »Zuflucht – Großmut – was soll das heißen, Mutter?«

Die Lippen der Fürstin zeigten ein leises nervöses Zucken, das einzige Zeichen, wie schwer ihr der Schritt wurde, den sie zu thun im Begriffe stand, sonst schien sie völlig unbewegt, als sie antwortete:

»Ich habe der Welt bisher unsre Verhältnisse verborgen und gedenke das auch ferner zu thun. Dir kann und will ich kein Geheimnis daraus machen. Ja, ich bin gezwungen, bei meinem Bruder eine Zuflucht zu suchen. Du kennst die äußeren Ereignisse während meiner zweiten Ehe. Ich habe an der Seite meines Gemahls gestanden, als die Stürme der Revolution ihn fortrissen; ich bin ihm in die Verbannung gefolgt und habe fast zehn Jahre lang das Exil mit ihm geteilt. Unser Vermögen ist dem allem zum Opfer gefallen; schon die letzten Jahre zeigten einen unlösbaren Widerspruch zwischen den Ansprüchen unsrer Stellung und den Mitteln, die uns zu Gebote standen. Ein kurzer Ueberblick unsrer Angelegenheiten nach dem Tode des Fürsten hat mir gezeigt, daß ich auch diesen Kampf aufgeben muß – wir sind zu Ende mit unsern Hilfsquellen.«

Waldemar wollte sprechen; die Mutter hob abwehrend die Hand.

»Du begreifst, was es mich kostet, dir diese Eröffnungen zu machen, und daß ich sie dir nie gemacht hätte, wenn es sich nur um mich allein handelte, aber ich habe als Mutter meinen Sohn zu vertreten – da schwindet jede andre Rücksicht. Leo steht erst im Anfange seines Lebens und Werdens; ich fürchte nicht die Entbehrungen der Armut für ihn, aber ich fürchte ihre Demütigungen, denn ich weiß, daß er sie nicht erträgt. Dir hat das Geschick Reichtümer zugesprochen; dir steht von jetzt an die unbeschränkte Verfügung darüber zu – Waldemar, ich übergebe die Zukunft deines Bruders deinem Edelmut.«

Es wäre für jede andre eine furchtbare Demütigung gewesen, den Sohn des Mannes, von dem sie sich mit Haß und Verachtung losgerissen, um Hilfe anzuflehen, aber diese Frau wußte die Demütigung in einer Weise zu tragen, die ihr alles Erniedrigende nahm und ihrem eigenen Stolze auch nicht den geringsten Abbruch that. Die Haltung, mit der sie vor dem Sohne stand, war nicht die einer Bittenden. Sie rief nicht ein Kindesgefühl an, eine Zärtlichkeit, die, wie sie wußte, nicht existierten. Die Mutter mit ihren Rechten trat für den Augenblick vollständig zurück, sie machte keins davon geltend, aber sie forderte von dem Gerechtigkeitsgefühle des älteren Bruders, daß er sich des jüngeren annehme, und es zeigte sich, daß sie Waldemar richtig beurteilt hatte. Er fuhr lebhaft auf:

»Und das sagst du mir erst jetzt, erst heute? Weshalb erfuhr ich nicht früher davon?«

Der Blick der Fürstin begegnete fest und ernst dem seinigen. »Was würdest du mir wohl geantwortet haben, wenn ich dir bei unserm ersten Widersehen eine solche Eröffnung gemacht hätte?«

Waldemar sah zu Boden; er erinnerte sich noch sehr gut der verletzenden Art, mit der er die Mutter damals gefragt, was sie eigentlich von ihm wolle.

»Du verkennst mich,« erwiderte er hastig. »Ich hätte trotzdem nie zugegeben, daß du mit Leo bei einem andern Hilfe suchst, als bei mir. Ich wäre Herr von Wilicza und sollte dulden, daß meine Mütter und mein Bruder in Abhängigkeit leben! – Du verkennst mich, Mutter, dieses Mißtrauen habe ich nicht verdient.« »Ich hegte es auch nicht gegen dich, mein Sohn, nur gegen den Einfluß, der dich bisher geleitet hat, und vielleicht noch leitet. Weiß ich doch nicht einmal, ob er dir gestatten wird, uns ein Asyl zu bieten.«

Das war wieder ein Stachel, der seine Wirkung nie verfehlte, und den die Mutter stets im rechten Augenblicke einzusetzen verstand. Er blieb auch heute nicht ohne Einfluß auf den jungen Mann.

»Ich glaube dir gezeigt zu haben, daß ich meine Selbständigkeit zu wahren weiß,« entgegnete er kurz. »Und nun sage mir, was ich thun soll! Ich bin zu allem bereit.«

Die Fürstin wußte, daß sie jetzt ein Wagnis unternahm, aber sie ging fest und unbeirrt auf ihr Ziel los.

»Wir können deine Hilfe nur in einer Form annehmen, wenn sie uns nicht zur Demütigung werden soll,« sagte sie. »Du bist der Herr von Wilicza – wäre es nicht das Natürlichste, wenn Mutter und Bruder deine Gäste sind?«

Waldemar stutzte. Bei dem Namen Wilicza bäumten sich der alte Argwohn und das alte Mißtrauen wieder jäh empor. All die Warnungen des Pflegevaters vor den Plänen der Mutter tauchten wieder auf; die Fürstin sah das, aber sie wußte es meisterhaft zu parieren.

»Mir wäre der Ort nur wegen der Nähe von Rakowicz erwünscht,« warf sie mit gleichgültiger Miene hin. »Ich könnte dann in unbeschränktem Verkehr mit Wanda bleiben.«

Die Nähe von Rakowicz! Der unbeschränkte Verkehr mit seinen Bewohnern! Das entschied alles. Die Wangen des jungen Mannes flammten, als er erwiderte:

»Bestimme du das ganz nach eigenem Gefallen! Ich bin damit einverstanden. Ich gehe zwar noch nicht dauernd nach Wilicza, aber ich begleite euch jedenfalls dorthin, und die Universität hat ja auch in jedem Jahre längere Ferien.«

Die Fürstin reichte ihm die Hand. »Ich danke dir, Waldemar, in meinem und Leos Namen.«

Der Dank war wohl aufrichtig gemeint, aber es lag doch keine rechte Wärme darin, und ebenso kühl klang die Erwiderung Waldemars:

»Ich bitte dich, Mutter – du beschämst mich. Die Sache ist ja abgemacht – und jetzt darf ich doch wohl endlich nach dem Strande?« Er schien um jeden Preis einer längeren Unterhaltung entfliehen zu wollen, und die Mutter hielt ihn nicht mehr zurück; sie mußte zu gut, wem sie den soeben erfochtenen Sieg verdankte. Am Fenster stehend, sah sie, wie der junge Mann in stürmischer Eile durch die Gartenanlagen nach dem Strande schritt, und kehrte dann wieder zum Schreibtische zurück, um den vorhin begonnenen Brief an ihren Bruder zu vollenden. –

Der Brief war soeben beendigt und die Fürstin stand im Begriff, ihn zu siegeln, als Leo bei ihr eintrat. Er sah fast ebenso erhitzt aus, wie vorhin sein Bruder, aber bei ihm war es augenscheinlich innere Aufregung, die ihm das Blut in die Schläfe trieb. Mit finsterer Stirn und fest zusammengepreßten Lippen näherte er sich der Mutter, die befremdet aufsah.

»Was ist dir, Leo? Weshalb kommst du allein? Hat Waldemar dich und Wanda nicht gefunden?«

»O gewiß!« versetzte Leo in erregtem Tone. »Er kam schon vor einer Viertelstunde zu uns.«

»Und wo ist jetzt?«

»Er macht mit Wanda eine Fahrt in das Meer hinaus.«

»Allein?«

»Jawohl. Ganz allein!«

»Du weißt doch, daß ich dergleichen nicht liebe,« sagte die Fürstin unwillig. »Wenn ich dir Wanda bei solchen Gelegenheiten anvertraue, so ist das etwas andres. Ihr seid wie Geschwister zusammen aufgewachsen und daher zu der Vertraulichkeit von Geschwistern berechtigt. Waldemar steht ihr in jeder Beziehung ferner, und überhaupt – ich wünsche kein so ausschließliches Zusammensein der beiden. Die Segelfahrt war ja von euch gemeinsam verabredet worden. Weshalb bist du nicht bei ihnen geblieben?«

»Weil ich nicht immer die Rolle des Ueberflüssigen spielen will!« brach Leo aus. »Weil es mir kein Vergnügen macht, zuzusehen, wie Waldemar fortwährend an Wandas Blicken hängt, wie er thut, als ob es nichts auf der Welt gäbe, als sie allein.«

Die Fürstin drückte ihr Petschaft auf den Brief. »Ich habe dir schon einmal gesagt, Leo, was ich von diesen Eifersüchteleien halte. Fängst du schon wieder damit an?«

»Mama,« – der junge Fürst trat mit sprühenden Augen dicht an den Schreibtisch – »siehst du denn nicht, oder willst du nicht sehen, daß Waldemar deine Nichte liebt, daß er sie anbetet?«

»Und was thust du denn?« fragte die Mutter, sich ruhig in ihren Sessel zurücklehnend. »Doch wohl genau dasselbe, wenigstens bildest du es dir ein. Ihr werdet doch nicht verlangen, daß ich diese Knabenschwärmereien ernst nehmen soll? Du und Waldemar, ihr seid gerade in dem Alter, wo man notwendig ein Ideal haben muß, und Wanda ist bis jetzt das einzige junge Mädchen, dem ihr vertraulicher nahen dürft. Zum Glück ist sie noch Kind genug, das Ganze als ein Spiel anzusehen, und deshalb allein gestatte ich es.

Würde sie jemals Ernst daraus machen, dann wäre ich genötigt, einzuschreiten und eurem Verkehr engere Grenzen zu ziehen. Das wird aber, wie ich Wanda kenne, nicht geschehen; sie spielt mit euch beiden und lacht über euch beide. Also schwärmt immerhin für sie! Deinem Bruder zumal kann diese Uebung in der Ritterlichkeit nicht schaden; sie fehlt ihm leider noch gar zu sehr.«

Das Lächeln, das diese Worte begleitete, war nun freilich tief verletzend für eine jugendliche Leidenschaft; es wies sie vollständig in den Bereich der Kinderspiele. Leo schien nur mit Mühe an sich zu halten.

»Ich wollte, du sprächest einmal mit Waldemar in diesem Tone von der ›Knabenschwärmerei‹,« erwiderte er mit unterdrückter Heftigkeit. »Er würde das nicht so ruhig hinnehmen.«

»Ich würde ihm so wenig wie dir verhehlen, daß ich es für eine Jugendthorheit halte. Wenn du mir nach vier oder fünf Jahren von deiner Liebe zu Wanda sprichst, oder Waldemar es thut, dann will ich euren Empfindungen Wert beilegen; für jetzt könnt ihr noch ohne alle Gefahr die Ritter eurer Cousine spielen – vorausgesetzt, daß es nicht dabei zu Streitigkeiten zwischen euch kommt.«

»Dahin ist es bereits gekommen,« erklärte Leo. »Ich bin vorhin mit Waldemar sehr scharf zusammengeraten und habe mich ebendeshalb freiwillig von der Fahrt ausgeschlossen. Ich dulde es nicht, daß er Wandas Gespräch und Gesellschaft so ausschließlich für sich in Anspruch nimmt, ich dulde überhaupt nicht länger seine herrische Art und Weise und werde ihm das von jetzt an bei jeder Gelegenheit zeigen.«

»Das wirst du nicht thun,« fiel ihm die Mutter ins Wort. »Ich lege mehr als je Wert auf ein gutes Einvernehmen zwischen euch, denn wir werden mit Waldemar nach Wilicza gehen.«

»Nach Wilicza?« rief Leo außer sich. »Und ich soll dort sein Gast sein, soll mich ihm vielleicht unterordnen? Nun und nimmermehr thue ich das. Ich will Waldemar nichts verdanken. Und wenn es meine ganze Zukunft kosten sollte, von ihm will ich nichts annehmen.«

Die Fürstin bewahrte ihre überlegene Ruhe, aber ihre Stirn verfinsterte sich doch, als sie antwortete:

»Wenn du einer bloßen Laune wegen deine ganze Zukunft aufs Spiel setzen willst, so bin ich noch da, sie zu vertreten. Uebrigens handelt es sich hier nicht um dich und mich allein, es sind noch andre höhere Rücksichten, die mir den Aufenthalt in Wilicza wünschenswert machen, und ich bin nicht gesonnen, meine Pläne durch deine kindische Eifersucht stören zu lassen. Du weißt, daß ich dir nie etwas Erniedrigendes zumuten werde, aber du weißt auch, daß ich gewohnt bin, meinem Willen Geltung zu verschaffen. Ich sage dir, wir gehen nach Wilicza, und du wirst deinen älteren Bruder mit der Rücksicht behandeln, die ich selbst ihm erweise. Ich fordere Gehorsam, Leo.«

Der junge Fürst kannte diesen Ton hinreichend. Er wußte, daß wenn die Mutter ihn anschlug, sie ihren Willen um jeden Preis durchsetzen wollte, aber diesmal trieb ihn ein mächtiger Sporn zum Widerstände. Wenn er auch keine Erwiderung in Worten wagte, so zeigte sein Antlitz doch, daß er sehr geneigt war, der That nach zu rebellieren, und daß er sich schwerlich zu der geforderten Rücksicht für den Bruder herbeilassen werde.

»Uebrigens werde ich dafür sorgen, daß die Veranlassung zu solchen Streitigkeiten künftig wegfällt,« fuhr die Fürstin fort. »Wir reisen in acht Tagen, und wenn Wanda erst bei ihrem Vater ist, werdet ihr sie ohnehin seltener sehen. Diese einsame Meerfahrt mit Waldemar aber, die ich überhaupt nicht billige, soll unter allen Umstanden die letzte gewesen sein.«

Damit klingelte sie und befahl dem eintretenden Pawlick, den Brief fortzutragen. Er brachte dem Grafen Morynski die Nachricht der baldigen Abreise und bereitete ihn zugleich darauf vor, daß die Schwester seine Gastfreundschaft nicht in Anspruch nehmen, sondern daß die ehemalige Herrin von Wilicza in kurzem wieder dort einziehen werde. –


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