Vineta
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In Wilicza selbst herrschte inzwischen eine dumpfe gewitterschwüle Atmosphäre, die sogar von der Dienerschaft empfunden wurde. Seit Herr Nordeck gestern abend in Begleitung der Gräfin Morynska von der Grenzförsterei zurückgekehrt war, herrschte Sturm in den oberen Regionen des Schlosses – die Anzeichen verrieten es nur zu deutlich. Die junge Gräfin hatte noch an demselben Abend eine Unterredung mit ihrer Tante gehabt, seitdem aber ihr Zimmer noch nicht wieder verlassen. Auch die Fürstin wurde wenig sichtbar, und wenn es geschah, so war ihr Aussehen derart, daß die Dienerschaft es für gut hielt, so wenig wie möglich in ihre Nähe zu kommen; sie kannte diese gerunzelte Stirn und diese fest zusammengepreßten Lippen bei der Gebieterin und wußte, daß sie nichts Gutes verkündeten. Selbst Waldemar zeigte nicht die gewohnte kalte Ruhe, die er gerade dann nach außen hin zu bewahren wußte, wenn es in seinem Innern am heftigsten stürmte. Vielleicht trug die zweimalige Abweisung die Schuld daran, welche er im Laufe des Tages von Wanda hatte erfahren müssen. Es war ihm nicht gelungen, sie wieder zu sehen seit der Minute, wo er sie, erschöpft von der Aufregung und dem Blutverlust, halb ohnmächtig in die Arme seiner Mutter gelegt. Sie weigerte sich, ihn zu sehen, und doch wußte er, daß sie nicht ernstlich krank war. Der Arzt hatte ihm wiederholt versichert, die Wunde der Gräfin sei in der That gefahrlos und werde ihr morgen schon gestatten, nach Rakowicz zurückzukehren, wenn er sich ihrem Verlangen, dies auf der Stelle zu thun, auch habe widersetzen müssen.

Es blieb dem jungen Gutsherrn freilich nicht viel Zeit, sich mit seinen eigenen Angelegenheiten zu beschäftigen, denn von außen her stürmte alles mögliche auf ihn ein. Die Leiche des Försters wurde nach Wilicza gebracht, bei welcher Gelegenheit man erst das Entweichen des gesamten Forstpersonals entdeckte. Die Försterei mußte unter andre Aufsicht gestellt und die nötigen Maßregeln zur Sicherheit und zum Schutze des einstweilen dorthin gesendeten Inspektors Fellner getroffen werden. Alles hatte Waldemar selbst zu leiten und anzuordnen. Schließlich kam noch Assessor Hubert und quälte ihn mit Vernehmungen, Protokollen und Ratschlägen so lange, bis er die Geduld verlor und zu dem bewährten Mittel seiner Mutter griff, um sich den unbequemen Beamten abzuschütteln, aber kaum war er den Assessor und seine Verschwörungsgeschichten los, so kamen andre Anforderungen. Man hatte jetzt auch in L. erfahren, wie es drüben bei den Insurgenten stand und daß die nächsten Tage aller Wahrscheinlichkeit nach Kämpfe in unmittelbarer Nähe der Grenze bringen würden. Infolgedessen war der Befehl ergangen, die Grenzbesatzung bedeutend zu verstärken, um auf alle Fälle das diesseitige Gebiet zu schützen und vor Verletzungen zu bewahren.

Eine starke Militärabteilung zog durch Wilicza, und während die Mannschaften auf einige Stunden im Dorfe Halt machten, sprachen die Offiziere, die den Gutsherrn persönlich kannten, im Schlosse ein. Die Fürstin blieb natürlich unsichtbar, wie sie es stets den Gästen ihres Sohnes gegenüber war, seit dieser sich offen gegen sie und die Ihrigen erklärt hatte, und so mußte Waldemar denn allein die Ankömmlinge empfangen; ob er in der Stimmung dazu war, danach fragte niemand. Es galt den Fremden eine ruhige, unbewegte Stirn zu zeigen, damit sie nicht noch mehr von der Familientragödie erfuhren, als sie ohnedies schon wußten. Sie kannten ja die Rolle, welche der Bruder und der Oheim des Schloßherrn in dem Aufstande spielten, die Stellung des Sohnes der Mutter gegenüber; das alles war ja Tagesgespräch in L., und Waldemar empfand schwer genug die Rücksicht, mit der man sich bemühte, in seiner Gegenwart jede Hindeutung darauf zu vermeiden und den ganzen Aufstand nur insofern zu berühren, als man eben nur die neuesten militärischen Maßregeln auf deutscher Seite besprach, die dadurch hervorgerufen wurden. Endlich, spät am Nachmittag, zog das Detachement ab, um noch vor Einbruch der Dunkelheit die angewiesenen Posten an der Grenze zu erreichen. Und nun kam zuletzt noch Doktor Fabian, der nunmehrige Bräutigam und künftige Professor, mit seiner doppelten Neuigkeit, für die er doch auch bei seinem ehemaligen Zögling Teilnahme und Interesse beanspruchte, und zwang diesen, sich um fremdes Glück zu kümmern, wo er das seinige rettungslos in Trümmer gehen sah – es gehörte in der That eine so stählerne Natur wie die Nordecks dazu, um dem allem mit dem Anscheine äußerer Ruhe standzuhalten.

Es war am zweiten Tage nach jenem Ereignisse auf der Försterei, zu noch sehr früher Stunde. Die Fürstin war allein in ihrem Salon; man sah es ihrem Gesicht an, daß von einer Nachtruhe bei ihr nicht viel die Rede gewesen war. Der graue Nebelmorgen draußen vermochte es nicht, das hohe düstere Gemach vollständig zu erhellen; der größte Teil desselben blieb in Schatten gehüllt, nur das Kaminfeuer warf seinen unruhig flackernden Schein auf den Teppich und auf die Gestalt der Fürstin, die in unmittelbarer Nähe saß.

In finsteres Nachsinnen verloren, stützte sie den Kopf in die Hand. Was sie vorgestern abend erfahren hatte, das wühlte und arbeitete immer noch in ihrem Innern; die Frau, die es sonst so ausgezeichnet verstand, sich auf den Boden der Thatsachen zu stellen und mit denselben zu rechnen, konnte diesmal nicht damit fertig werden, Also es war umsonst gewesen. Die Schonungslosigkeit, mit der sie ihrer Nichte damals das eigene Innere enthüllte, um ihr eine Waffe gegen die entstehende Leidenschaft in die Hand zu geben, die monatelang so streng und unverbrüchlich festgehaltene Trennung, die letzte Unterredung in Rakowicz – alles umsonst! Vor einem einzigen Momente, vor einer Gefahr, die Waldemar bedrohte, sank das alles zusammen. Wanda hatte ihrer Tante noch an demselben Abend das Geschehene mitgeteilt. Die junge Gräfin war viel zu stolz, viel zu sehr in ihren nationalen Vorurteilen befangen, um sich nicht mit aller Energie von dem Verdachte zu reinigen, sie habe wirklich das gethan, was die Fürstin »Verrat« nannte. Sie erklärte der Tante, daß sie keine Warnung gesandt, keinen Argwohn erweckt habe, daß sie erst im letzten Augenblicke, als es hinsichtlich der Försterei nichts mehr zu verbergen und zu retten gab, dazwischen getreten sei. Wie das geschehen war, und was sie gethan hatte, um Waldemar zu retten, konnte sie freilich auch nicht verbergen – die Wunde an ihrem Arme sprach deutlich genug.

Der Eintritt ihres Sohnes weckte die Fürstin aus den quälenden Gedanken, die in ihrem Innern auf und nieder wogten. Sie wußte es, woher er kam. Pawlick hatte ihr gemeldet, Herr Nordeck habe es heute morgen zum drittenmal versucht, Einlaß bei der Gräfin Morynska zu erlangen, und diesmal auch wirklich seinen Willen durchgesetzt. Er kam langsam näher und blieb seiner Mutter gegenüber stehen.

»Du kommst von Wanda?« fragte sie.

»Ja.«

Die Fürstin sah in sein Gesicht, das in diesem Momente von dem aufflackernden Feuer hell beleuchtet wurde. Es stand ein Zug herben, aber verbissenen Schmerzes darin.

»Also hast du es wirklich erzwungen, trotz ihrer wiederholten Weigerung. Freilich, was erzwängst du nicht! Wenigstens wird die Unterredung dich überzeugt haben, daß es nicht mein Verbot war, das dir Wandas Thür verschloß, wie du mit solcher Bestimmtheit annahmst. Es war ihr eigener Wille, dich nicht zu sehen; du hast ihn wenig genug geachtet.«

»Ich werde nach dem, was Wanda gestern um meinetwillen gewagt hat, doch wenigstens das Recht haben, sie zu sehen und zu sprechen; sprechen mußte ich sie. O, sei ganz ruhig!« fuhr er mit ausbrechender Bitterkeit fort, als die Fürstin etwas erwidern wollte. »Deine Nichte hat vollständig deinen Erwartungen entsprochen und das möglichste gethan, mir jede Hoffnung zu rauben. Sie glaubt allerdings nur ihrem eigenen Willen zu folgen, wo sie sich blindlings dem deinigen unterwirft. Es waren deine Worte, deine Anschauungen, die ich aus ihrem Munde hören mußte. Ich allein hätte es vielleicht von ihr erreicht, erzwungen, wie ich diese Unterredung erzwang, aber ich vergaß, daß sie seit vorgestern abend unausgesetzt, deinem Einflusse preisgegeben war. Du hast ihr das Wort, das sie noch als ein halbes Kind, von euch überredet und gedrängt, meinem Bruder gab, als ein unwiderrufliches Gelübde hingestellt, das zu brechen Todsünde wäre, hast sie so in eure nationalen Vorurteile hineingehetzt –«

»Waldemar!« unterbrach ihn die Mutter drohend.

»In das Vorurteil,« wiederholte er mit Nachdruck, »daß es ein Verrat an ihrer Familie und ihrem Volk wäre, wenn sie einwilligte, mir anzugehören, weil ich zufällig ein Deutscher bin und die Verhältnisse mich zwangen, feindselig gegen euch aufzutreten. Nun, du hast es erreicht; sie würde jetzt eher sterben, als auch nur die Hand zu ihrer Befreiung rühren, oder mir Erlaubnis geben, das zu thun, und das danke ich dir allein.«

»Ich habe Wanda allerdings an ihre Pflicht erinnert,« entgegnete die Fürstin kalt. »Es bedurfte dessen kaum mehr; sie war schon allein zur Besinnung gekommen, und ich hoffe, das ist jetzt auch bei dir der Fall. Daß deine einstige Knabenneigung nicht erloschen, daß sie im Gegenteil zur Leidenschaft herangewachsen war, wußte ich seit dem Tage, wo du dich hier mir gegenüber als Feind erklärtest. In welchem Maße diese Leidenschaft erwidert wird, weiß ich erst seit vorgestern. Es wäre nutzlos, euch Vorwürfe über das Geschehene zu machen – es wird dadurch nicht ungeschehen gemacht, aber ihr fühlt wohl selbst, was ihr jetzt euch und Leo schuldig seid – die unbedingteste Trennung! Wanda hat das bereits eingesehen, und auch du mußt dich dem fügen.«

»Muß ich?« fragte Waldemar. »Du weißt, Mutter, Fügsamkeit ist meine Tugend nicht, und am wenigsten da, wo mein ganzes Lebensglück auf dem Spiele steht.«

Die Fürstin sah mit dem Ausdrucke schreckensvoller Ueberraschung empor. »Was heißt das? Willst du etwa versuchen, deinem Bruder die Braut zu rauben, nachdem du ihm bereits ihre Liebe geraubt hast?«

»Die hat Leo nie besessen. Wanda kannte sich und ihr Herz noch nicht, als sie seiner Neigung, als sie deinen und ihres Vaters Wünschen und den Familienplänen nachgab, Ihre Liebe besitze ich, und nun ich diese Gewißheit habe, werde ich auch zu behaupten wissen, was mein ist!«

»Nicht so unbeugsam, Waldemar!« sagte die Fürstin fast mit Hohn. »Hast du schon bedacht, was dein Bruder dir auf eine solche Zumutung antworten wird?«

»Ich würde meine Braut freigeben, wenn sie mir erklärte, daß ihre Liebe einem andern gehöre,« erwiderte der junge Mann fest. »Unbedingt und entschieden freigeben, gleichviel, was ich dabei empfände. Leo wird das nun allerdings nicht thun, wie ich ihn kenne. Er wird außer sich geraten, Wanda bis zur Verzweiflung quälen und sich und uns eine Reihe der furchtbarsten Scenen bereiten.«

»Willst du ihm Vorschriften für seine Mäßigung machen, du, der du ihn bis auf den Tod beleidigst?« fiel die Mutter ein. »Freilich, Leo ist ja fern; er steht im Kampfe für die heiligsten Güter seines Volkes, und während er stündlich das Leben dafür einsetzt, ahnt er nicht, daß sein Bruder zu Hause, hinter seinem Rücken –«

Sie hielt inne, denn Waldemars Hand legte sich schwer auf die ihrige. »Mutter,« sagte er mit einer Stimme, welche die Fürstin warnte, denn dieser dumpfe gepreßte Ton ging bei ihm stets einem Ausbruche voraus. »Laß die Beschuldigungen, an die du selbst nicht glaubst! Du weißt besser als jeder andre, wie Wanda und ich gegen diese Leidenschaft gekämpft haben, weißt, welcher Moment es war, der uns endlich das Siegel von den Lippen nahm. Hinter Leos Rücken! Auf meinem Zimmer liegt der Brief, den ich an ihn schrieb, ehe ich zu Wanda ging; meine Unterredung mit ihr ändert darin nichts. Wissen muß er es, daß das Wort ›Liebe‹ zwischen uns gefallen ist; wir würden es beide nicht ertragen, ihm das zu verhehlen. Ich wollte den Brief dir übergeben. Du allein weißt mit Sicherheit, wo Leo jetzt zu finden ist, und kannst das Schreiben in seine Hände gelangen lassen.« »Um keinen Preis!« rief die Fürstin heftig. »Ich kenne zu gut das Blut meines Sohnes, um ihm eine solche Folter aufzuerlegen. Fern zu bleiben, vielleicht noch monatelang, während seine ganze Eifersucht entfesselt ist und er sich hier in seinem Teuersten bedroht weiß – das geht über seine Kräfte. Und doch muß er ausharren, doch darf er seinen Posten nicht verlassen, ehe nicht alles dort entschieden ist. Nein, nein, davon kann keine Rede sein. Ich habe Wanda bereits das Wort abgenommen, zu schweigen, und auch du wirst mir das versprechen. Sie kehrt heute noch nach Rakowicz zurück und geht, sobald sie völlig hergestellt ist, zu unsern Verwandten nach M., um dort so lange zu bleiben, bis Leo zurückgekehrt ist und seine Rechte persönlich wahren kann.«

»Ich weiß es,« entgegnete Waldemar finster. »Sie selbst hat es mir gesagt. Sie kann ja jetzt nicht Meilen genug zwischen uns legen. Was die Liebe, was die Verzweiflung nur eingeben kann, das habe ich bei ihr versucht – es war vergebens; sie setzt mir immer dieses unwiderrufliche Nein entgegen. – Sei's denn, bis zu Leos Rückkehr! Vielleicht hast du recht – es ist besser, wir machen das Auge in Auge ab, und mir ist diese Art jedenfalls die liebste. Ich bin jeden Augenblick bereit, ihm Rede zu stehen. Was dann zwischen uns geschieht, ist freilich eine andre Frage.«

Die Fürstin erhob sich und trat zu ihrem Sohne. »Waldemar, gib diese unsinnige Hoffnung auf! Ich sage dir, Wanda würde nie die Deine, auch wenn sie frei wäre. Es steht zu vieles, zu unübersteigliches zwischen euch. Du täuschest dich, wenn du auf eine Sinnesänderung bei ihr rechnest. Was du nationale Vorurteile nennst, das ist für sie das Lebensblut, mit dem sie genährt ist seit ihrer frühesten Jugend, das sie nicht lassen kann, ohne das Leben selbst zu lassen. Mag sie dich lieben, die Tochter der Morynski, die Braut des Fürsten Baratowski weiß, was Pflicht und Ehre von ihr fordern, und wüßte sie es nicht, so sind wir da, sie daran zu erinnern, ich, ihr Vater, vor allen Dingen Leo selber.«

Ein verächtliches Lächeln spielte um die Lippen des jungen Mannes, als er erwiderte: »Und glaubst du denn wirklich, daß einer von euch mich hindern würde, wenn ich Wandas Ja hätte? Daß sie sich mir versagt, daß sie mir verbietet, für sie und um sie zu kämpfen, das ist's, was mir vorhin bei ihr die Fassung raubte. Aber gleichviel! Wer wie ich nie im Leben Liebe erfahren hat, und wem sie sich dann plötzlich so ganz, so beglückend aufthut, wie in jener Stunde, der verzichtet und entsagt nicht so leicht. Der Preis ist mir denn doch zu hoch, als daß ich den Kampf nicht versuchen sollte. Wo ich alles zu gewinnen habe, da setze ich auch alles ein, und wenn sich noch zehnfach größere Hindernisse zwischen uns auftürmten – Wanda wird mein.«

Es lag eine unbeugsame Energie in diesen Worten. Der rote Feuerschein vom Kamine her beleuchtete Waldemars Züge, die in diesem Augenblicke wie aus Erz gegossen erschienen. Die Fürstin mußte es wieder einmal anerkennen, daß es ihr Sohn war, der da vor ihr stand mit der verhängnisvollen blauen Linie an der Stirn, mit jenem Blicke und jener Haltung, »als sähe man die Mutter selbst«. Sie hatte sich bisher vergebens gemüht, das Unerhörte, Unmögliche zu begreifen, daß Waldemar, der kalte, finstere, abstoßende Waldemar ihrem Leo vorgezogen wurde, daß er Sieger blieb gegen den schönen ritterlichen Bruder, wo es sich um die Liebe eines Weibes handelte – in diesem Augenblicke begriff sie es.

»Hast du vergessen, wer dein Gegner ist?« fragte sie mit ernstem Nachdruck. »Bruder gegen Bruder! Soll ich die feindselige, vielleicht blutige Begegnung zwischen meinen Söhnen mit ansehen? Denkt ihr gar nicht an die Angst der Mutter?«

»Deine Söhne!« wiederholte Waldemar. »Wo es sich um die Angst und die Zärtlichkeit der Mutter handelt, ist doch wohl nur von einem Sohne die Rede. Du vergibst es mir nicht, daß ich mich in das Glück deines Lieblings eingedrängt habe, und ich kenne eine Lösung, die dir wenig Thränen kosten würde. Aber sei ruhig! Was ich thun kann, einen schlimmen Ausgang zu hindern, das geschieht; sorge nur, daß Leo mir die Möglichkeit läßt, in ihm den Bruder zu sehen! Du hast eine unumschränkte Gewalt über ihn; auf dich wird er hören. Du weißt, ich habe es gelernt, meiner Natur Zügel anzulegen, aber meine Selbstbeherrschung geht nur bis zu einer gewissen Grenze; reißt Leo mich darüber hinaus, so stehe ich für nichts mehr ein. Er versteht es wenig, fremde Ehre zu schonen, wo er sich beleidigt glaubt.«

Sie wurden unterbrochen. Man meldete dem Schloßherrn, draußen stehe ein Unteroffizier des Detachements, das gestern durch Wilicza gezogen war, und verlange ihn dringend und sofort zu sprechen. Waldemar ging hinaus. Er war es seit den letzten Tagen gewohnt, daß diese äußeren Störungen sich gerade dann eindrängten, wenn man am wenigsten in der Stimmung war, ihnen Rechnung zu tragen.

Im Vorzimmer stand der Gemeldete. Er brachte einen Gruß des kommandierenden Offiziers und eine Bitte desselben. Das Detachement stand, gleich nachdem es seinen neuen Posten bezogen, der Notwendigkeit gegenüber, einzuschreiten. Während der Nacht hatte drüben ein heftiger Kampf stattgefunden, der mit einer Niederlage der Insurgenten endigte; sie flohen in größter Unordnung, hitzig verfolgt von den Siegern. Ein Teil der Flüchtlinge hatte sich durch den Uebertritt auf das diesseitige Gebiet gerettet. Sie waren von einer Patrouille angehalten und entwaffnet worden und sollten nach L. gebracht werden. Es befanden sich aber einige Schwerverwundete darunter, von denen man fürchtete, daß sie den Transport nicht aushalten würden; der Offizier bat um vorläufige Aufnahme derselben in dem nahen Wilicza, Der Wagen mit den Kranken befand sich bereits unten im Dorfe. Waldemar war augenblicklich bereit, der Aufforderung nachzukommen, und ließ drüben auf dem Gutshofe die nötigen Anstalten zur Unterkunft der Verwundeten treffen. Er ging selbst in Begleitung des Unteroffiziers hinüber.

Die Fürstin war inzwischen allein zurückgeblieben. Sie hatte die Nachricht nicht gehört und von der Meldung, die ihren Sohn abrief, keine Notiz genommen – es waren ganz andre Gedanken, die sie beschäftigten.

Was nun? Diese Frage erhob sich immer wieder wie ein drohendes Gespenst, das sich nicht bannen läßt; hinausgeschoben konnte die Entscheidung wohl werden, aber damit wurde sie nicht aufgehoben. Die Fürstin kannte ihre Söhne hinreichend, um zu wissen, was zu erwarten stand, wenn sie sich als Feinde begegneten, und Todfeinde mußten sie von dem Augenblicke an werden, wo Leo die Wahrheit entdeckte. Er, dessen Eifersucht schon bei einem ersten unbestimmten Verdachte aufflammte, daß sie ihn fast seiner Pflicht abwendig machte, wenn er jetzt erfuhr, daß der Bruder ihm in der That die Liebe seiner Braut geraubt hatte, wenn Waldemars nur äußerlich gebändigte Wildheit bei dem Streite mit ihrer alten Macht hervorbrach – die Mutter bebte zurück vor dem Abgrunde, der sich mit diesem Gedanken vor ihr aufthat. Sie mußte, daß sie dann machtlos sein würde, auch ihrem Jüngstgeborenen gegenüber, daß in diesem Punkte ihre Gewalt über ihn zu Ende war. Waldemar wie Leo hatten das Blut ihrer Väter in den Adern, und welche Kontraste Nordeck und Fürst Baratowski auch sonst gewesen sein mochten, in einem waren sie gleich, in der Unmöglichkeit, die einmal aufgereizten Leidenschaften zu zügeln.

Die Thür des Nebengemaches wurde geöffnet. Vielleicht kehrte Waldemar zurück; er war ja mitten aus der Unterredung abgerufen worden, aber der Schritt war schneller, unruhiger als der seinige. Jetzt rauschten die Falten der Portiere, die von dem Eintretenden hastig beiseite geschoben wurde, und mit einem Schrei des Schreckens und der Freude fuhr die Fürstin von ihrem Sitz empor.

»Leo! Du hier!«

Fürst Baratowski lag in den Armen seiner Mutter. Er erwiderte die Umarmung wohl, aber er hatte kein Wort des Grußes. Schweigend und heftig preßte er sie an sich; die Bewegung verriet nichts von der Freude des Wiedersehens.

»Woher kommst du?« fragte die Fürstin, bei der schon im nächsten Augenblicke die Besinnung und damit auch die Besorgnis die Oberhand gewann. »So plötzlich, so unerwartet! Und wie kannst du so unvorsichtig sein, bei hellem Tage in das Schloß zu kommen? Du weißt ja, daß dir hier überall die Verhaftung droht. Die Patrouillen streifen durch unser ganzes Gebiet. Warum wartest du nicht bis zum Eintritte der Dunkelheit?«

Leo richtete sich aus ihren Armen empor. »Ich habe lange genug gewartet. Seit gestern abend bin ich fort – die ganze Nacht habe ich wie auf der Folter gelegen; es war unmöglich, die Grenze zu passieren – ich mußte mich verborgen halten. Endlich beim Tagesgrauen gelang es mir hinüber zu kommen und die Wälder von Wilicza zu erreichen – und dann kostete es neue Anstrengung, bis ich das Schloß gewann.«

Er stieß das alles aufgeregt und abgebrochen hervor. Die Mutter sah erst jetzt, wie bleich und verstört er aussah. Sie zog ihn fast gewaltsam auf einen Sessel nieder.

»Erhole dich! Du bist zu Tode erschöpft von dem Wagnis. Welche Tollkühnheit, Leben und Freiheit aufs Spiel zu setzen um eines kurzen Wiedersehens willen! Du mußtest dir doch sagen, daß bei uns die Angst um dich jede Freude überwiegt. Ich begreife überhaupt nicht, wie Bronislaw dich fortlassen konnte. Ihr seid ja mitten im Kampfe.«

»Nein, nein,« fiel Leo ein. »In den nächsten vierundzwanzig Stunden geschieht nichts. Wir sind genau unterrichtet über die Stellungen des Feindes. Uebermorgen, morgen vielleicht kommt es zur Entscheidung; bis dahin ist Ruhe. Wenn ein Kampf bevorstände, würde ich nicht hier sein, so aber mußte ich nach Wilicza, und hätte es mir auch Leben und Freiheit gekostet.«

Die Fürstin sah ihn unruhig an. »Leo, du hast doch Urlaub von deinem Oheim?« fragte sie plötzlich, wie von einem unbestimmten Verdacht ergriffen.

»Ja – ja!« stieß der junge Fürst heraus, aber er vermied es die Mutter dabei anzusehen. »Ich sage dir ja, daß alles gesichert, alles vorgesehen ist. Ich stehe mit meinem Kommando in den Waldungen von A. in völlig gedeckter Stellung. Mein Adjutant hat einstweilen den Oberbefehl, bis ich zurückkomme.«

»Und Bronislaw?«

»Der Onkel hat die Hauptmacht bei W. zusammengezogen, ganz dicht an der Grenze. Ich decke ihm mit den Meinigen den Rücken. Aber nun laß mich, Mutter, frage nicht weiter! – Wo ist Waldemar?«

»Dein Bruder?« fragte die Fürstin, befremdet und erschreckt zugleich, denn sie begann den Zusammenhang zu ahnen. »Kommst du etwa seinetwegen?«

»Waldemar suche ich,« brach jetzt Leo mit furchtbarem Ungestüm aus. »Ihn allein und sonst keinen! Er ist nicht im Schlosse, sagte Pawlick, aber Wanda ist hier. Also hat er sie wirklich nach Wilicza gebracht, wie eine eroberte Beute, wie sein Eigentum, und sie hat das geschehen lassen? Aber ich werde ihm zeigen, wem Wanda gehört, ihm – und ihr.«

»Um Gottes willen, du weißt – ?«

»Was auf der Grenzförsterei geschehen ist, ja, das weiß ich. Osieckis Leute stießen gestern zu mir; sie brachten mir Bericht über das, was sie mit angesehen. Begreifst du nun, daß ich um jeden Preis nach Wilicza mußte?«

»Das habe ich gefürchtet,« sagte die Fürstin leise.

Leo war aufgesprungen und stand nun mit flammenden Augen vor ihr. »Und du hast das geduldet, Mutter, hast es mit angesehen, wie meine Liebe, meine Rechte mit Füßen getreten wurden, du, die sonst jeden beherrscht und zum Gehorsam bringt? Zwingt denn dieser Waldemar alles nieder!? Gibt es niemand mehr, der es wagt, sich ihm in den Weg zu stellen? Ich Thor, der ich mich damals beim Abschiede zurückhalten ließ, ihn zur Rede zu stellen und Wanda aus seiner Nähe fortzureißen, daß eine fernere Begegnung zwischen ihnen unmöglich war! Aber« – hier ging seine Stimme in den bittersten Hohn über – »mein Verdacht beleidigte sie ja, und du und der Onkel rechneten mir meine ›blinde Eifersucht‹ als ein Verbrechen an. Seht ihr es nun mit eigenen Augen? Während ich auf Leben und Tod für die Freiheit und Rettung des Vaterlandes kämpfe, da setzt meine Braut ihr Leben ein für den, der sich offen zu unsern Unterdrückern bekennt, der uns hier in Wilicza den Fuß auf den Nacken gesetzt hat, wie es nur je die Tyrannen da drüben gethan haben, da verrät sie mich, vergißt sie Vaterland, Volk, Familie, alles, um ihn vor der Gefahr zu schützen, die ihn bedroht. Vielleicht versucht sie das auch mir gegenüber, aber sie mag sich wahren! Ich frage jetzt nichts mehr danach, wer von uns zu Grunde geht, er oder ich, oder sie mit uns beiden.«

Die Fürstin faßte wie beschwörend seine Hände. »Ruhig, Leo! Ich bitte dich, ich fordere es von dir. Stürme deinem Bruder nicht mit diesem wilden Haß entgegen; höre mich erst an!«

Leo riß sich los. »Ich habe schon zu viel gehört, genug, um mich zur Raserei zu bringen. Wanda hat sich in seine Arme geworfen, als ihn Osieckis Kugel suchte, sie hat ihn mit ihrem eigenen Körper gedeckt, ihre Brust zu seinem Schilde gemacht, und ich soll noch zweifeln an dem Verrate? Wo ist Waldemar? Er wird doch endlich zu finden sein?«

Die Mutter versuchte vergebens, ihn zu beruhigen – er hörte nicht auf sie, und während sie noch überlegte, auf welche Weise es möglich sei, die verhängnisvolle Begegnung zu verhindern, geschah das Aergste, was überhaupt geschehen konnte: Waldemar kam zurück.

Er trat rasch ein und war im Begriffe, auf die Fürstin zuzugehen, als er Leo erblickte. Es war mehr als Ueberraschung, es war ein tödlicher Schreck, der sich bei diesem Anblicke in den Zügen des älteren Bruders malte. Erbleichend maß er den jüngeren vom Kopfe bis zu den Füßen, dann flammte es in seinem Auge auf wie Zorn und Verachtung, und langsam sagte er:

»Also hier bist du zu finden?«

Leos Gesicht verriet eine Art wilder Genugthuung, als er endlich den Gegenstand seines Hasses vor sich sah. »Du hast mich wohl nicht erwartet?« fragte er.

Waldemar erwiderte nichts. Ihm, dem Besonneneren, stieg sofort der Gedanke an die Gefahr auf, der sich Leo hier aussetzte; er wendete sich um, schloß die Thür des Nebenzimmers ab und kehrte dann wieder zurück.

»Nein,« entgegnete er, die Frage erst jetzt beantwortend, »und auch die Mutter hat dich schwerlich erwartet.«

»Ich wollte dir Glück wünschen zu deiner Heldenthat auf der Grenzförsterei, denn so wirst du es ja wohl nennen,« fuhr der junge Fürst mit unverstelltem Hohne fort. »Du hast den Förster niedergeschossen und den übrigen allesamt die Spitze geboten. Die Feiglinge wagten es nicht, dich anzurühren.«

»Sie gingen noch in derselben Nacht über die Grenze,« sagte Waldemar. »Sind sie etwa zu dir gestoßen?«

»Ja.«

»Das dachte ich mir. – Seit wann bist du fort von deinem Kommando?«

»Willst du etwa ein Verhör mit mir anstellen?« fuhr Leo auf. »Ich bin gekommen, dich zur Rechenschaft zu ziehen. Komm! Wir haben allein miteinander zu reden.«

»Ihr bleibt!« gebot die Fürstin. »Ich lasse euch nicht allein bei dieser Begegnung. Wenn sie denn doch einmal stattfinden muß, so sei es in meiner Gegenwart! Vielleicht vergeßt ihr dann nicht so ganz, daß ihr Brüder seid!«

»Bruder oder nicht!« rief Leo außer sich. »An mir hat er den schmählichsten Verrat geübt. Er wußte, daß Wanda meine Braut war, und er hat sich nicht gescheut, sie und ihre Liebe an sich zu reißen. So handelt nur ein Verräter, ein Ehr –«

Die Mutter wollte ihm wehren, aber umsonst – das Wort »Ehrloser« fiel von seinen Lippen, und Waldemar zuckte zusammen, als habe ihn eine Kugel getroffen. Die Fürstin erbleichte. Es war nicht die bis zur Raserei gesteigerte Leidenschaft ihres jüngsten Sohnes, die sie so erschreckte, sondern der Ausdruck in dem Gesichte des ältesten, als dieser sich jetzt emporrichtete. Ihn riß sie zurück; ihn fürchtete sie, obgleich er waffenlos war, während Leo den Degen an der Seite trug, und mit der vollen Autorität der Mutter zwischen beide tretend, rief sie gebietend:

»Waldemar – Leo – Mäßigung! Ich befehle es euch!«

Wenn die Fürstin Baratowska befahl, mit diesem Tone und dieser Haltung befahl, so hatte sie sich noch immer Gehör erzwungen. Auch ihre Söhne gehorchten unwillkürlich. Leo ließ die Hand sinken, die er schon am Degengriff hatte, und Waldemar hielt inne. Er rang wieder furchtbar mit seinem Ungestüm, aber die Worte der Mutter hatten ihn zur Besinnung gebracht, und mehr bedurfte es jetzt nicht, um ihn sich selber zurückzugeben.

»Leo, jetzt ist es genug mit den Beleidigungen,« sagte er rauh. »Noch ein Wort, ein einziges, und es bleibt uns wirklich keine andre Entscheidung, als die Waffe übrig. Wenn du gestern noch das Recht hattest, mich anzuklagen, heute ist es verwirkt. Ich liebe Wanda mehr, als du ahnst, denn du hast nicht, wie ich, jahrelang im Kampfe mit dieser Leidenschaft gelegen, dich nicht durch Haß und Trennung und Todesgefahr hindurchgerungen zum Bewußtsein, daß sie stärker ist als du. Aber selbst um Wandas willen hätte ich nicht Pflicht und Ehre hingegeben. Ich wäre nicht von dem Posten gewichen, der mir übergeben ist, hätte nicht heimlich die mir anvertraute Schar verlassen und den Eid gebrochen, mit dem ich meinem Führer Gehorsam zugeschworen. Das alles hast du gethan – die Mutter mag es entscheiden, wer von uns das schmachvolle Wort verdient, das du mir zuschleuderst.«

»Was ist das, Leo?« rief die Fürstin emporschreckend. »Du bist doch hier mit Wissen und Willen deines Oheims? Du hattest doch ausdrückliche Erlaubnis von ihm, nach Wilicza zu gehen? Antworte!«

In dem bisher so bleichen Gesichte des jungen Fürsten schlug es jetzt wie eine Flamme auf; er wagte es nicht, dem Auge der Mutter zu begegnen, und wandte sich statt dessen mit jäh aufloderndem Trotze zu seinem Bruder.

»Was weißt du von meinen Pflichten, was kümmern sie dich? Du hältst es ja mit unsern Feinden. Ich habe meinen Platz im Kampfe so lange behauptet und werde zur Stelle sein, sobald es notthut. Aber ebendeshalb eilt die Sache zwischen uns. Ich habe nicht viel Zeit, mit dir abzurechnen; ich muß zurück zu den Meinigen, noch heute, schon in den nächsten Stunden.«

»Du kommst zu spät,« sagte Waldemar kalt. »Du findest sie nicht mehr.«

Leo faßte augenscheinlich den Sinn dieser Worte nicht. Er sah den Bruder an, als rede dieser zu ihm in einer fremden Sprache.

»Seit wann hast du dein Kommando verlassen?« fragte Waldemar noch einmal, aber diesmal mit so furchtbarem Ernste, daß der Bruder ihm halb unwillkürlich Antwort gab. »Seit – gestern abend.«

»Und in der Nacht hat der Ueberfall stattgefunden. Deine Schar ist aufgelöst, vernichtet.«

Ein Aufschrei brach von den Lippen des jungen Fürsten. Er stürzte auf den Sprechenden zu. »Das ist nicht möglich; das kann nicht sein. Du lügst; du willst mich nur schrecken mit der Nachricht, willst mich damit zur Entfernung zwingen.«

»Nein, es kann nicht sein,« fiel jetzt auch die Fürstin mit bebenden Lippen ein. »Du kannst noch keine Nachrichten haben, Waldemar, von dem, was sich drüben während der Nacht ereignete; ich hätte sie früher als du haben müssen. Du täuschest uns – greife nicht zu solchen Mitteln.«

Waldemar sah einige Sekunden lang schweigend die Mutter an, die ihn eher der Lüge beschuldigte, ehe sie an ein Vergehen seines Bruders glaubte; vielleicht war es dies, was seine Stimme so eisig und mitleidlos machte, als er jetzt sagte:

»Dem Fürsten Baratowski war ein wichtiger Posten übergeben worden, mit dem strengsten Befehle, nicht davon zu weichen. Er deckte mit seiner Schar seinem Oheim den Rücken. Fürst Baratowski fehlte auf diesem Posten, als der nächtliche Angriff erfolgte; der Führer fehlte, und die übrigen zeigten sich dem Ueberfalle nicht gewachsen. Sie setzten sich völlig planlos zur Wehre – es gab ein Blutbad. Einige zwanzig Mann retteten sich durch den Uebertritt auf unser Gebiet und fielen unsern Patrouillen in die Hände; drei der Flüchtlinge liegen schwer verwundet drüben im Gutshofe. Aus ihrem Mund erfuhr ich das Geschehene – der Rest ist zersprengt oder vernichtet.«

»Und mein Bruder?« fragte die Fürstin anscheinend ruhig, aber es lag etwas Schreckliches in dieser Ruhe. »Und das Morynskische Corps? Was ist aus ihnen geworden?«

»Ich weiß es nicht,« versetzte Waldemar. »Es heißt, die Sieger hätten die Richtung nach W. genommen. Was dort geschehen ist, darüber fehlen noch die Nachrichten.«

Er schwieg. Es folgte eine furchtbare Stille. Leo hatte das Gesicht in beide Hände verborgen; aus seiner Brust drang ein dumpfes Stöhnen hervor. Die Fürstin stand aufrecht, das Auge unverwandt auf ihn gerichtet – sie rang nach Atem.

»Laß uns allein, Waldemar!« sagte sie endlich tonlos, aber mit der alten Festigkeit.

Er zögerte. Die Mutter war ihm stets kalt und oft genug feindselig erschienen. Hier, an dieser Stelle, hatte sie ihm als erbitterte Gegnerin gegenüber gestanden, als der Streit um die Herrschaft in Wilicza endlich zum Ausbruche kam, aber so hatte er sie doch noch nie gesehen wie in diesem Augenblick, und ihn, den harten rücksichtslosen Nordeck, ergriff es wie Angst und Mitleid, als er das Urteil seines Bruders in jenen Zügen las.

»Mutter!« sagte er leise.

»Geh!« wiederholte sie. »Ich habe mit dem Fürsten Baratowski zu reden. Da taugt kein dritter zwischen uns. Laß uns allein!«

Waldemar gehorchte und verließ das Zimmer, aber es bäumte sich wieder heiß und schmerzlich in ihm auf, als er ging. Er wurde verbannt, wo die Mutter mit ihrem Sohne zu reden hatte. Wenn sie diesen auch jetzt ihren Zorn fühlen ließ, der ältere war und blieb ein Fremder dabei; ihn hieß man gehen – er »taugte« nicht zwischen Mutter und Bruder, mochten sie sich nun in Liebe oder Haß begegnen. Eine tiefe Bitterkeit regte sich in Nordeck, und doch fühlte er, daß diese Stunde ihn an der Mutter gerächt hatte für die versagte Zärtlichkeit, daß sie jetzt in ihrem Lieblingssohne, in ihrem Abgotte aufs schwerste gestraft war.

Waldemar schloß die Portiere hinter sich. Er blieb im Nebenzimmer, um auf alle Fälle den Eingang zu hüten, denn er kannte die Gefahr, der sich Leo aussetzte. Fürst Baratowski hatte zu offen und entscheidend an dem Aufstande teilgenommen, um nicht auch hier geächtet zu sein; auch hier drohte ihm Verurteilung und Verhaftung. Er war, unvorsichtig genug, am hellen Morgen in das Schloß gekommen; noch befand sich die Eskorte, welche die Verwundeten gebracht, im Dorfe, und jeden Augenblick konnten die Bedeckungsmannschaften mit den übrigen Flüchtlingen Wilicza passieren – es galt Vorsichtsmaßregeln zu treffen.

Waldemar stand am Fenster, so weit als möglich von der Thür entfernt. Er wollte nichts hören von der Unterredung, von der man ihn ausgeschlossen, und es war auch nicht möglich – die dicken Samtfalten der Portiere fingen jeden Laut auf. Aber die Zeit drängte. Mehr als eine halbe Stunde war verstrichen und die Unterredung da drinnen währte noch immer fort. Weder die Fürstin noch Leo schienen daran zu denken, daß mit jeder Minute die Gefahr des letzteren wuchs. Waldemar entschloß sich endlich, sie zu unterbrechen. Er trat wieder in den Salon, blieb aber befremdet stehen, denn statt der erwarteten erregten Scene fand er das tiefste Schweigen.

Die Fürstin war verschwunden und die vorhin offen stehende Thür zu ihrem Arbeitskabinett fest geschlossen. Leo befand sich allein im Zimmer. Er lag in einem Sessel, den Kopf tief eingewühlt in die Kissen, ohne sich zu regen, ohne den Eintretenden zu bemerken, wie gebrochen und vernichtet. Waldemar trat zu ihm und nannte seinen Namen.

Leo lag in einem Sessel, den Kopf tief eingewühlt in die Kissen, ohne sich zu regen und den Eintretenden zu bemerken.

»Ermanne dich!« mahnte er leise und eindringlich. »Sorge für deine Sicherheit! Wir haben jetzt hundertfache Beziehungen zu L.; ich kann das Schloß nicht vor Besuchen schützen, die dir gefährlich sind. Ziehe dich fürs erste in deine eigenen Zimmer zurück! Sie können ja nach wie vor als verschlossen gelten, und Pawlick ist zuverlässig. Komm!«

Langsam hob Leo das Gesicht empor! es war erdfahl – jeder Blutstropfen schien daraus gewichen zu sein. Er blickte den Bruder groß und starr an, ohne ihn zu verstehen. Sein Ohr fing nur mechanisch das letzte Wort auf.

»Wohin?« fragte er.

»Vor allen Dingen nur fort aus diesen Hauptgemächern, die so vielen zugänglich sind! Komm – ich bitte dich.«

Leo erhob sich ebenso mechanisch, wie er vorhin zugehört. Er sah sich im Zimmer um, so fremd als kenne er nicht die vertrauten Räume und müsse sich erst besinnen, wo er sei, nur als sein Auge auf die geschlossene Thür zum Gemach seiner Mutter fiel, zuckte er zusammen.

»Wo ist Wanda?« fragte er endlich.

»In ihrem Zimmer. Willst du sie sehen?«

Der junge Fürst machte eine abwehrende Bewegung. »Nein! Sie würde mich auch mit Abscheu, mit Verachtung zurückstoßen – ich habe genug an dem einen Mal.«

Er stützte sich schwer auf den Sessel; die sonst so helle, jugendfrische Stimme klang matt und gebrochen. Man sah es, die Scene mit der Mutter war ihm ans Leben gegangen.

»Leo,« sagte Waldemar ernst, »hättest du mich nicht so furchtbar gereizt, ich hätte dir die Nachricht nicht so schonungslos mitgeteilt. Aber du brachtest mich aufs Aeußerste mit jenem verhängnisvollen Worte.«

»Sei ruhig! Die Mutter hat es mir zurückgegeben. Ich bin ihr jetzt der Verräter, der Ehrlose. Ich habe das anhören müssen und – schweigen.«

Es lag etwas Unheimliches in dieser starren, dumpfen Ruhe des sonst so leidenschaftlich aufbrausenden Jünglings; die eine halbe Stunde schien seine ganze Natur verändert zu haben. »Folge mir!« drängte Waldemar. »Du mußt doch fürs erste noch im Schlosse bleiben.«

»Nein, ich will nach W. hinüber, sofort. Ich muß wissen, was aus meinem Oheim und den Seinigen geworden ist.«

»Um Gottes willen!« rief der Bruder entsetzt. »Du willst doch nicht den Wahnsinn begehen, jetzt am hellen Tage die Grenze zu passieren? Das wäre ja offenbarer Selbstmord.«

»Ich muß,« beharrte Leo. »Ich kenne den Ort, wo der Uebergang noch möglich ist. Habe ich heute morgen den Weg gefunden, so werde ich ihn auch zum zweitenmal finden.«

»Und ich sage dir: du kommst jetzt nicht hinüber. Seit heute morgen ist die Bewachung verstärkt auch auf unsrer Seite, und drüben steht eine dreifache Postenkette, Sie haben Befehl, jeden niederzuschießen, der die Losung nicht kennt. Und du kommst in jedem Falle zu spät. In W. ist die Entscheidung längst gefallen.«

»Gleichviel!« brach Leo aus, plötzlich aus seiner Erstarrung in die wildeste Verzweiflung übergehend. »Irgend einen Kampf wird es da drüben doch noch geben, nur einen einzigen, und mehr brauche ich nicht. Wenn du wüßtest, was die Mutter mir angethan hat mit ihren furchtbaren Worten! Sie weiß es ja, daß, wenn ich den Untergang der Meinigen verschuldete, ich auch den ganzen Fluch, die ganze Hölle dieses Bewußtseins tragen muß; sie hätte barmherzig sein müssen, und sie hat mich – – O mein Gott, es ist doch meine Mutter, und ich bin so lange ihr alles gewesen.«

Waldemar stand erschüttert da vor diesem Ausbruche des Schmerzes. »Ich will Wanda rufen,« sagte er endlich. »Sie wird –«

»Sie wird das gleiche thun. Du kennst nicht die Frauen unsres Volkes. Aber ebendeshalb« – es brach mitten durch die Verzweiflung des jungen Fürsten etwas wie ein düsterer Triumph –, »ebendeshalb hoffe du nichts von ihnen! Wanda wird dir nie angehören, niemals, auch über meine Leiche hinweg nicht. Und wenn sie dich liebt, und wenn sie stirbt an dieser Liebe – du bist der Feind ihres Volkes; du hilfst mit an seiner Unterdrückung: das spricht dir bei ihr das Urteil. Eine Polin wird nicht dein Weib. Und es ist gut, daß es so ist,« fuhr er tief aufatmend fort. »Ich hätte nicht ruhig sterben können, mit dem Gedanken, sie in deinen Armen zu wissen; jetzt kann ich's – sie ist dir verloren wie mir.« Er wollte forteilen, blieb aber plötzlich wie gebannt stehen. Einige Sekunden lang schien er zu schwanken, dann ging er langsam, zögernd zu der Thür, die in das Arbeitskabinett der Fürstin führte.

»Mutter!«

Drinnen blieb alles still – nichts regte sich.

»Ich wollte dir lebewohl sagen.«

Keine Antwort.

»Mutter!« Die Stimme des jungen Fürsten bebte in angstvollem, herzzerreißendem Flehen. »Laß mich nicht so von dir gehen! Wenn ich dich nicht sehen soll, so sage mir wenigstens ein Wort des Abschiedes, nur ein einziges! Es ist ja das letzte. Mutter, hörst du mich nicht?«

Er lag auf den Knieen vor der verriegelten Thür und preßte die Stirn dagegen, als müsse sie sich ihm aufthun. Es war vergebens – die Thür blieb geschlossen, und von drinnen kam kein Laut. Die Mutter hatte kein Abschiedswort für ihren Sohn, wie die Fürstin Baratowska keine Verzeihung für sein Vergehen hatte.

Leo erhob sich von den Knieen. Sein Antlitz war wieder starr wie vorhin, nur um die Lippen zuckte ein Ausdruck von so wildem bitterem Weh, wie er es wohl noch niemals in seinem Leben empfunden. Er sprach kein Wort; er nahm schweigend den Mantel auf, den er vorhin abgeworfen, legte ihn um die Schultern und ging dann der Thür zu. Der Bruder versuchte vergebens ihn zurückzuhalten. Leo drängte ihn beiseite.

»Laß mich! Sage Wanda – nein, sage ihr nichts! Sie liebt mich ja nicht; sie hat mich ja aufgegeben um deinetwillen. Leb wohl!«

Er stürmte fort. Waldemar stand einige Minuten lang völlig ratlos. Endlich schien er einen Entschluß zu fassen und schritt rasch durch das Nebengemach bis in das Vorzimmer der Fürstin. Dort stand der Haushofmeister Pawlick mit verstörter Miene. Er war sogleich, als er von der Ankunft seiner verwundeten Landsleute hörte, zu ihnen geeilt und hatte noch vor dem Schloßherrn die Schreckensnachricht erfahren. Als er damit in das Schloß zurückkehrte, noch ungewiß, wie er sie seiner Gebieterin mitteilen solle, stand auf einmal am Eingange Fürst Baratowski selbst vor ihm. Aber er ließ dem erschrockenen alten Manne keine Zeit zu irgend einer Erklärung; er warf ihm nur im Vorbeieilen die hastige Frage nach seinem Bruder, nach der Gräfin Morynska zu und verschwand dann in den Gemächern seiner Mutter. Noch wußte Pawlick nicht, ob sein junger Gebieter bereits von dem Geschehenen unterrichtet sei, oder nicht; erst die Art, wie Leo jetzt bei der Rückkehr an ihm vorbeistürmte, zeigte ihm, daß er alles wußte.

»Pawlick,« sagte Waldemar herantretend, »Sie müssen dem Fürsten Baratowski folgen, auf der Stelle. Er steht im Begriff, eine Tollkühnheit zu begehen, die ihm das Leben kosten wird, wenn er sie ausführt. Er will jetzt, bei Tage, über die Grenze.«

»Gott im Himmel!« rief der Haushofmeister entsetzt.

»Ich kann ihn nicht zurückhalten,« fuhr Nordeck fort, »und ich darf mich nicht offen an seiner Seite zeigen, das würde ihn noch mehr gefährden, und doch muß er in seiner jetzigen Stimmung irgend jemand zur Seite haben. Ich weiß, Sie reiten noch gut, trotz Ihrer Jahre, nehmen Sie ein Pferd! Der Fürst ist zu Fuß. Sie müssen ihn noch auf diesseitigem Gebiet erreichen, denn Sie kennen jedenfalls die Richtung, die er einschlägt, die Stelle, wo die geheime Verbindung mit den Insurgenten drüben noch besteht. Ich fürchte, sie ist in der Nähe der Grenzförsterei.«

Pawlick blieb die Antwort schuldig; er durfte nicht bejahen, aber es fehlte ihm in diesem Augenblick der Mut, die Wahrheit abzuleugnen. Waldemar verstand sein Schweigen.

»Und gerade dort ist die Bewachung am schärfsten,« rief er heftig. »Ich erfuhr es durch unsre Offiziere. Wie mein Bruder es heute morgen möglich gemacht hat, hindurch zu kommen, weiß ich nicht; zum zweitenmal gelingt es ihm nicht. Eilen Sie ihm nach, Pawlick! Er soll den Uebergang nicht dort versuchen, an jeder andern Stelle, nur dort nicht. Er soll warten, sich verbergen bis zur Dunkelheit, wenn es nicht anders geht in der Försterei selbst. Inspektor Fellner ist jetzt dort; er hält zu mir, aber er verrät Leo auf keinen Fall. Eilen Sie!«

Er hatte nicht nötig, anzutreiben. Die Todesangst um seinen jungen Gebieter stand deutlich genug auf dem Gesichte des alten Mannes.

»In zehn Minuten bin ich fertig,« sagte er. »Ich reite, als gälte es mein eigenes Leben.«

Er hielt Wort. Kaum zehn Minuten später ritt er aus dem Schloßhofe. Waldemar, der oben am Fenster stand, atmete auf.

»Das war das einzige, was noch übrigblieb. Vielleicht erreicht er ihn noch, und dann ist wenigstens das Schlimmste abgewendet.« – Vier, fünf Stunden waren vergangen und noch immer keine Nachricht eingetroffen. Sonst, wenn irgend etwas an der Grenze geschah, drängten sich die Botschaften. Alles, was von dort nach L. wollte, mußte Wilicza passieren und machte mit seiner Neuigkeit wenigstens auf einige Minuten unten im Dorfe Halt – heute, war die Verbindung wie abgeschnitten. Unruhig ging Waldemar in seinem Zimmer auf und nieder; er bemühte sich, Pawlicks Fernbleiben für ein gutes Zeichen zu nehmen. Jedenfalls hatte dieser Leo erreicht und blieb nun an seiner Seite, solange sich der junge Fürst noch auf diesseitigem Gebiete befand; vielleicht waren sie beide in der Försterei geborgen. Da endlich – es war schon spät am Nachmittage – erschien der Administrator; er trat eilig, ohne jede vorherige Anmeldung, bei dem jungen Gutsherrn ein.

»Herr Nordeck, ich möchte Sie bitten, nach dem Gutshofe hinüber zu kommen,« sagte er. »Ihre Anwesenheit dort ist dringend notwendig.«

Waldemar sah auf. »Was gibt es? Ist irgend etwas mit den Verwundeten vorgefallen?«

»Das nicht!« versetzte Frank ausweichend. »Aber ich möchte Sie doch ersuchen, selbst zu kommen. Wir haben Nachrichten von der Grenze erhalten. Drüben bei W. soll es nun wirklich zur Entscheidung gekommen sein; es ist heute morgen dort eine förmliche Schlacht geliefert worden – gegen das Morynskische Corps.«

»Nun, und der Ausgang?« fragte Nordeck in äußerster Spannung.

»Die Insurgenten haben eine furchtbare Niederlage erlitten. Es heißt, es sei dabei Verrat oder Ueberfall im Spiele gewesen. Sie haben sich gewehrt wie Verzweifelte mußten aber doch schließlich der Uebermacht erliegen. Was von ihnen noch lebt, das ist zersprengt und nach allen Himmelsrichtungen entflohen.«

»Und der Führer? Graf Morynski?«

Der Administrator sah schweigend zu Boden.

»Ist er tot?«

»Nein, aber schwer verwundet in den Händen des Feindes.«

»Auch das noch!« murmelte Waldemar. Er selbst hatte dem Oheim stets fern gestanden, aber Wanda! Er wußte, mit welcher glühenden, leidenschaftlichen Zärtlichkeit sie an dem Vater hing. Wäre dieser im Kampfe gefallen, sie hätte es leichter ertragen, als ihn einem solchen Lose preisgegeben zu sehen und durch wen preisgegeben! Wer hatte die Niederlage jenes Corps verschuldet, das ungewarnt, ohne jede Deckung, einem Angriffe, ausgesetzt war, gegen den es sich durch die Vorhut des Fürsten Baratowski gesichert glaubte?

Waldemar raffte seine ganze Fassung zusammen. »Woher haben Sie die Nachrichten? Sind sie zuverlässig, nicht bloß Gerüchte?«

»Der Haushofmeister Pawlick brachte sie mir,« erklärte der Administrator. »Er ist drüben–«

»Bei Ihnen? Und Ihnen bringt er die Nachricht, während er weiß, daß ich hier seit Stunden auf seine Rückkehr harre? Weshalb kommt er nicht ins Schloß?«

Franks Auge suchte wieder den Boden. »Er wagt es nicht – die Frau Fürstin, die junge Gräfin hätten am Fenster sein können; sie müssen doch erst vorbereitet werden – Pawlick ist nicht allein, Herr Nordeck.«

»Was ist geschehen?« brach Waldemar ahnend aus. »Mein Bruder – «

»Fürst Baratowski ist gefallen,« sagte der Administrator leise, »Pawlick bringt die Leiche.« –

Waldemar schwieg. Er legte nur einige Sekunden lang die Hand über die Augen, dann raffte er sich gewaltsam auf und eilte hinüber nach dem Gutshofe, Frank ihm nach. Drüben im Hause des letzteren trat ihnen Pawlick entgegen. Er blickte scheu zu seinem Herrn auf, den er, der treu ergebene Diener der Fürstin, als Feind zu betrachten gewohnt war, aber der Ausdruck Nordecks zeigte ihm, was ihm schon der heutige Morgen gezeigt hatte, daß es nur noch der Bruder seines jungen Gebieters sei, der jetzt vor ihm stand, und da brach die Fassung des alten Mannes zusammen.

»Unsre Fürstin!« jammerte er, »sie wird es nicht überleben und Gräfin Wanda auch nicht.«

»Sie haben den Fürsten also nicht mehr erreicht?« fragte Waldemar.

»Doch,« berichtete Pawlick mit halb gebrochener Stimme. »Ich holte ihn noch rechtzeitig ein und überbrachte ihm die Warnung. Er wollte nicht darauf hören, wollte trotz alledem den Uebergang versuchen; er meinte, das Waldesdickicht werde ihn schützen. Ich bat; ich lag auf den Knieen vor ihm und fragte ihn, ob er sich denn von den Grenzposten niederschießen lassen wolle, wie ein gehetztes Wild. Das half endlich. Er willigte ein, zu warten bis zum Abend. Wir überlegten eben, ob wir die Einkehr in die Försterei wagen dürften, da begegnete uns –« »Wer? Eine Patrouille?«

»Nein, der Pächter von Janowo. Von dem war kein Verrat zu besorgen; er hat von jeher zu uns gehalten. Er hatte Vorspanndienste bei den Truppen leisten müssen und kam nun zurück von der Grenze. Bei der Gelegenheit hatte er gehört, was man sich dort erzählte, drüben bei W. sei es heute zum Kampfe gekommen, und der sei noch jetzt nicht entschieden, das Morynskische Corps wehre sich verzweifelt gegen einen Ueberfall. Da war es aus mit der Vernunft und Besinnung unsres jungen Fürsten; er hatte nur den einen Gedanken noch, nach W. hinüber zu kommen und sich mit in den Kampf zu werfen. Wir konnten ihn nicht halten – er hörte auf keinen mehr. Eine halbe Stunde war er fort, da hörten wir Schüsse fallen, erst zwei rasch hintereinander, dann ein halbes Dutzend auf einmal, und dann –« Der alte Mann konnte nicht weiter reden; die Stimme versagte ihm, und ein heisser Tränenstrom stürzte aus einen Augen.

»Ich habe die Leiche mitgebracht,« sagte er nach einer Pause. »Der Herr Rittmeister, der gestern hier im Schlosse war, hat es mir ausgewirkt von denen da drüben. Mit dem Toten konnten sie ja doch nichts mehr anfangen. Aber ich wagte nicht, mit ihm ins Schloß zu kommen. Wir haben ihn einstweilen dort niedergelegt.«

Er wies nach dem gegenüberliegenden Zimmer, Waldemar gab ihm und dem Administrator einen Wink zurückzubleiben und trat allein in das bezeichnete Gemach. Grau und trübe fiel das schon im Schwinden begriffene Tageslicht herein und auf die leblos hingestreckte Gestalt des jungen Fürsten. Schweigend stand der Bruder an der Leiche. Das schöne Antlitz, das er so strahlend von Leben und Glück gesehen hatte, war jetzt starr und kalt; die flammenden dunkeln Augen waren geschlossen, und die Brust, die so hoch aufschwoll von Freiheits- und Zukunftsträumen, trug jetzt die Todeswunde. Was das heiße, wilde Blut des Jünglings verbrochen, das hatte auch das Blut gesühnt, das aus der zerschossenen Brust quoll; es rötete in unheimlich dunkeln Flecken die Kleidung. Noch vor wenig Stunden stürmten in dieser nun entseelten Hülle alle Leidenschaften der Jugend, Haß und Liebe, Eifersucht und Rachegedanken, Verzweiflung über die eigene nicht gewollte That mit ihren entsetzlichen Folgen – jetzt war das alles vorbei, erstarrt in der eisigen Ruhe des Todes. Nur eines stand noch auf dem stillen, bleichen Antlitz, stand so fest darin ausgeprägt, als sei es eingegraben für ewig, jener Zug bitteren Schmerzes, der um die Lippen des Sohnes zuckte, als seine Mutter ihm das letzte Lebewohl verweigerte, als sie ihn ohne ein Wort der Verzeihung, des Abschiedes von ihrer verschlossenen Thür gehen ließ. Alles andre sank mit dem Leben zusammen. Dieses Weh hatte Leo Baratowski mit hinübergenommen in den Todeskampf, in den letzten Schimmer des Bewußtseins – selbst der Schleier des Grabes vermochte es nicht zu decken.

Waldemar verließ das Gemach, stumm und düster, wie er es betreten hatte, aber als er den draußen Harrenden entgegentrat, sahen sie es doch, daß er den Bruder geliebt hatte.

»Bringt die Leiche hinüber ins Schloß!« befahl er. »Ich gehe voraus – zu meiner Mutter.«


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