Vineta
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Der Winter war mit seiner vollen Strenge hereingebrochen. Die dichte Schneehülle deckte Wald und Feld; eine schwere Eisdecke hemmte den Lauf des Flusses, und über die erstarrte Erde brausten die Winterstürme mit eisigem Hauch.

Sie hatten diesmal noch einen andern Sturm wachgerufen, der schlimmer tobte als die Elemente. Jenseits der Grenze war der lang gefürchtete Aufstand endlich ausgebrochen. Das ganze Nachbarland loderte in voller Empörung, und jeder Tag brachte neue Schreckensnachrichten von drüben her. Auf diesseitigem Gebiete war noch alles ruhig, und es hatte auch den Anschein, als ob diese Ruhe aufrecht erhalten bleiben sollte, aber friedlich war die Stimmung in den Grenzbezirken keineswegs, wo tausend Beziehungen und Verbindungen hinüber und herüber gingen, wo kaum eine polnische Familie lebte, die nicht wenigstens einen Angehörigen drüben in den Reihen der Kämpfenden hatte.

Am schwersten hatte Wilicza unter dieser Stimmung zu leiden; schon seine Lage machte es zu einem der wichtigsten, aber auch gefährlichsten Vorposten der ganzen Provinz. Es spielte nicht umsonst eine so wichtige Rolle in den Plänen der Morynski und Baratowski. Die Nordeckschen Güter bildeten die bequemste Verbindung mit dem Aufstande und den sichersten Rückhalt für etwaige Kämpfe dicht an der Grenze; die tiefen Waldungen machten es trotz Posten und Patrouillen unmöglich, die angeordnete strenge Bewachung in ihrem ganzen Umfange aufrecht zu erhalten. Es hatte sich freilich vieles geändert, seit der junge Gutsherr sich damals, kurz vor der Abreise Morynskis und Leos, so entschieden auf die Seite seiner Landsleute gestellt hatte, aber mit jener Stunde begann auch der stumme erbitterte Kampf zwischen ihm und seiner Mutter, der noch heute nicht zu Ende war. Die Fürstin hielt Wort. Sie wich ihm nicht auf dem Boden, auf den sie gleichfalls ein Recht zu haben glaubte, und Waldemar sah jetzt wirklich ein, was es hieß, seine Güter jahrelang in ihren Händen gelassen zu haben. Wenn seine einstige Vernachlässigung und Gleichgültigkeit dagegen gebüßt werden sollten, so büßte er sie jetzt.

Er hatte es erzwungen, daß sein Schloß nicht länger der Sitz von Parteibestrebungen war; für sein Gebiet konnte er das Gleiche nicht erzwingen, denn das war ihm systematisch entfremdet worden. Die unumschränkte Herrschaft, welche die Fürstin so lange ausgeübt, die vollständige Verdrängung des deutschen Elementes aus der Verwaltung, die Besetzung jedes nur irgendwie bedeutsamen Beamtenpostens mit polnischen Vertretern – das alles trug nun seine Früchte. Nordeck stand in der That wie verraten und verkauft auf seinem eigenen Grund und Boden. Ihm gab man den Namen des Herrn, und seine Mutter sah man als die eigentliche Herrin an. Wenn sie sich auch hütete, offen als solche aufzutreten, ihre Befehle gelangten doch in die Hände der Untergebenen und wurden unverzüglich befolgt, gegen die Waldemars aber stand Wilicza in geheimer, aber fest geschlossener Opposition. Was nur möglich war an Intriguen und Ausflüchten, das wurde gegen ihn ins Werk gesetzt; was nur geschehen konnte, um seine Befehle zu durchkreuzen, seine Maßnahmen zu verwirren, das geschah, aber stets in einer Weise, welche die Verantwortung wie die Strafe ausschloß. Niemand verweigerte ihm direkt den Gehorsam und doch wußte er, daß Kampf und Ungehorsam die Parole war, die täglich gegen ihn ausgegeben wurde. Wo er sich an der einen Stelle Unterwerfung erzwang, da hob die Widersetzlichkeit an zehn andern ihr Haupt empor, und wenn er heute seinem Willen Geltung verschaffte, so trat ihm morgen schon ein neues Hindernis entgegen. Mit Entlassungen konnte er nicht vorgehen – sie hätten dem ganzen Beamtenpersonale gelten müssen, und teils banden ihn ihre Kontrakte in dieser Hinsicht, teils fehlte ihm jeder Ersatz. In einer solchen Zeit konnte überhaupt jeder Gewaltakt verhängnisvoll werden.

So wurde der junge Gutsherr in eine Stellung gedrängt, die für eine Natur wie die seinige die schwerste war, weil sie der Thatkraft keinen Raum gönnte, weil sie nur ruhiges besonnenes Ausharren erforderte, und gerade darauf hatte die Fürstin ihren Plan gebaut. Waldemar sollte allmählich in dem Kampfe ermatten, den er ihr angeboten; er sollte erkennen lernen, daß er schließlich doch nichts in einer Sache vermochte, in der ganz Wilicza zu ihr und gegen ihn stand. Er sollte in seinem Unmute darüber die Zügel wieder fahren lassen, die er ihr so gewaltsam aus der Hand genommen, Geduld war ja niemals seine Sache gewesen. Aber sie täuschte sich auch diesmal in ihrem Sohne, wie sie sich von jeher in ihm getäuscht hatte – er zeigte ihr jetzt die zähe Energie, den unbeugsamen Willen, den sie gewohnt war, als ihre ausschließliche Charaktereigenschaft in Anspruch zu nehmen. Nicht einen Schritt wich er all den Hindernissen und Widerwärtigkeiten, die sich vor ihm auftürmten; eine nach der andern warf er sie zu Boden. Sein Auge und seine Hand waren überall, und wo man es wirklich einmal wagte, ihm den Gehorsam zu versagen, da ließ er den Gebieter in einer Weise fühlen, daß die ersten Versuche auch die letzten blieben. Das trug ihm freilich die Zuneigung seiner Untergebenen nicht ein. Wenn man früher nur den Deutschen in ihm gehaßt hatte, so haßte man jetzt Waldemar Nordeck persönlich, aber man war bereits dahin gelangt, ihn zu fürchten, und bequemte sich auch allmählich, ihm zu gehorchen. Unter diesen Umständen war die Furcht das einzige, was noch den Gehorsam erzwang.

Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn wurde auf diese Weise immer unhaltbarer, wenn es sich auch äußerlich noch auf dem Fuße höflicher Kälte behauptete. Jene erste Erklärung zwischen ihnen war auch die einzige geblieben. Sie waren beide keine Freunde von unnützen Worten und fühlten, daß von keiner Versöhnung und Verständigung die Rede sein konnte, wo sich die Charaktere und Grundsätze so schroff gegenüber standen wie hier. Waldemar versuchte es nie, die Fürstin zur Rede zu stellen; er wußte, daß sie ihm auch nicht das geringste von dem zugeben würde, was doch unleugbar von ihr ausging, und sie ihrerseits that nie eine Frage in dieser Hinsicht. So blieb das Zusammenleben wenigstens möglich und nach außen hin leidlich; was es für Stacheln in sich barg, das freilich wußten nur die beiden allein. Waldemar zog sich in eine noch größere Abgeschlossenheit zurück als früher. Er sah die Mutter höchstens bei Tische, oft auch da nicht einmal, die Fürstin dagegen war sehr oft in Rakowicz bei ihrer Nichte und blieb meist längere Zeit dort. Wanda hatte Wort gehalten und Wilicza nicht wieder betreten, wahrend Waldemar auf seinen Ausflügen sogar das Gebiet von Rakowicz vermied.

Mehr als drei Monate waren seit der Abreise des Grafen Morynski und seines Neffen vergangen. Man wußte allgemein, daß sie sich inmitten des Aufstandes befanden, bei welchem der Graf eine bedeutende Rolle spielte, während der junge Fürst Baratowski unter dem Oberbefehl seines Oheims ein Kommando führte. Trotz der Entfernung und der Hindernisse standen beide in ununterbrochenem Verkehr mit den Ihrigen. Die Fürstin sowohl wie Wanda hatten stets genaue und ausführliche Nachricht von allem, was drüben geschah, und sandten ebenso häufig ihre Botschaften hinüber. Die Bereitwilligkeit, mit der sich in den Grenzbezirken jedermann zu Botendiensten hergab, spottete aller Schwierigkeiten.

Es war um die Mittagsstunde eines ziemlich kalten Tages, als Assessor Hubert und Doktor Fabian vom Dorfe herkamen, wo sie einander begegnet waren. Der Herr Assessor steckte in dreifacher Umhüllung; er wußte noch von Janowo her, was eine Erkältung bedeutete. Auch der Doktor hatte den Mantelkragen schützend in die Höhe geschlagen. Das strenge Klima schien ihm nicht zuzusagen; er sah bleicher als sonst und angegriffen aus. Hubert dagegen schaute äußerst wohlgemut darein. Die augenblicklichen Verhältnisse an der Grenze führten ihn sehr oft nach Wilicza oder in dessen Umgegend. Auch jetzt hatte er wieder eine Untersuchung zu führen, die ihn einige Tage in der Nähe festhielt. Er hatte sich wie gewöhnlich im Hause des Administrators einquartiert, und sein vergnügtes Aussehen zeigte, daß er sich sehr wohl dabei befand.

»Es ist großartig,« sagte er in seinem feierlichen Amtstone. »Unbedingt großartig ist es, wie Herr Nordeck sich jetzt benimmt. Wir von der Regierung wissen das am besten zu schätzen. Der Präsident meint, dieses verwünschte Wilicza hätte auch hier bei uns schon längst das Beispiel zur Revolte gegeben, wenn sich sein Herr nicht wie ein Wall und eine Mauer dagegen stemmte. Man bewundert ihn in ganz L., und dies um so mehr, als man nie ahnte, daß er sich jemals von dieser Seite zeigen werde.«

Doktor Fabian seufzte. »Ich wollte, er verdiente diese Bewunderung weniger. Gerade seine Energie zieht ihm hier täglich einen größeren Haß zu. Ich zittere jedesmal, wenn Waldemar allein ausreitet, und er ist nie zu bewegen, auch nur die geringste Vorsichtsmaßregel zu beobachten.«

»Ja freilich,« meinte der Assessor bedenklich. »Dem Volk in Wilicza ist alles zuzutrauen, sogar ein Schuß aus dem Hinterhalt. Ich glaube, das einzige, was Herrn Nordeck bisher noch geschützt hat, ist der Umstand, daß er trotz alledem der Sohn der Fürstin Baratowska ist, aber wer weiß, wie lange der nationale Fanatismus das noch respektiert. Was muß das jetzt überhaupt für ein Leben bei Ihnen im Schlosse sein! Niemand begreift es, daß die Fürstin noch bleibt – man weiß es ja, daß sie mit Leib und Seele, Polin ist. Es hat wohl schon furchtbare Scenen zwischen ihr und dem Sohne gegeben – nicht wahr?«

»Bitte, Herr Assessor – das sind Familienangelegenheiten,« lehnte Fabian ab.

»Ich begreife die Rücksicht,« sagte Hubert, der vor Begierde brannte, irgend etwas zu erfahren, was er bei seiner Rückkehr in L. erzählen konnte, wo man sich jetzt mehr als je mit dem Gutsherrn von Wilicza und seiner Mutter beschäftigte. »Aber Sie wissen gar nicht, was für schreckliche Geschichten man sich in der Stadt darüber erzählt. Herr Nordeck soll damals, als er sich so entschieden für uns erklärte, eine ganze Verschwörung auseinandergesprengt haben, die in den Kellergewölben seines Schlosses zusammenkam und bei der Graf Morynski und Fürst Baratowski den Vorsitz führten. Als die Fürstin sich dazwischen werfen wollte, soll ihr der Sohn die Pistole auf die Brust gesetzt und sie ihm ihren Fluch entgegengeschleudert haben, und dann sind sie beide –«

»Wie kann man in L. solche alberne Märchen glauben!« rief der Doktor unwillig. »Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß auch nicht eine einzige dieser Scenen zwischen Waldemar und seiner Mutter stattgefunden hat. Sie sind beide nicht danach geartet; im Gegenteil, sie stehen sehr – höflich miteinander.«

»Wirklich?« fragte der Assessor mißtrauisch. Er ließ die Geschichte von der Pistole und dem Fluche augenscheinlich nur sehr ungern fahren – sie sagte ihm weit mehr zu, als diese nüchterne Erklärung. »Aber die Verschwörung hat doch bestanden,« setzte er hinzu. »Und Herr Nordeck hat sie auseinandergesprengt; er allein gegen zweihundert Hochverräter. Ach, daß ich damals nicht hier gewesen bin! Ich war drüben in Janowo, wo ich leider gar nichts entdeckte. Fräulein Margarete ist doch sonst so klug. Ich begreife nicht, wie sie sich damals so vollständig täuschen lassen konnte. Jetzt freilich wissen wir, daß das ganze geheime Waffenlager hier in Wilicza versteckt war, wenn Herr Nordeck das auch nun und nimmermehr zugeben will.«

Der Doktor schwieg und sah sehr verlegen aus. Die Erwähnung Janowos brachte ihn noch immer aus der Fassung. Zum Glück waren sie jetzt an die Stelle gelangt, wo der Weg nach dem Schlosse abbog. Fabian verabschiedete sich von seinem Gefährten, und dieser ging allein nach dem Gutshofe.

Hier fand inzwischen eine Unterredung zwischen dem Administrator und seiner Tochter statt, die eine erregte Wendung zu nehmen drohte. Gretchen wenigstens hatte eine ganz kriegerische Stellung eingenommen. Sie stand vor ihrem Vater, die Arme trotzig übereinandergeschlagen, den Kopf mit den blonden Flechten zurückgeworfen, und stampfte sogar mit ihrem Füßchen auf den Boden, um ihren Worten Nachdruck zu geben.

»Ich sage dir, Papa, ich mag den Assessor nicht. Und wenn er noch ein halbes Jahr lang um mich herumseufzt und du ihm noch so sehr das Wort redest, ich lasse mir kein Ja abzwingen!«

»Aber, Kind, es ist ja nicht die Rede davon, dich zu zwingen,« beruhigte der Vater. »Du weißt ja, daß du ganz deinen freien Willen hast, aber die Sache muß doch endlich einmal zur Sprache kommen. Wenn du bei deinem Nein beharrst, darfst du Hubert wirklich nicht länger Hoffnung machen.«

»Ich mache ihm keine Hoffnung,« rief Gretchen, fast weinend vor Aerger. »Im Gegenteil, ich behandle ihn ganz abscheulich, aber das hilft nichts. Seit der unglücklichen Schnupfenpflege bildet er sich steif und fest ein, ich erwidere seine Gefühle. Wenn ich ihm heute einen Korb gäbe, so würde er lächelnd antworten: ›Sie irren sich, mein Fräulein; Sie lieben mich doch‹ – und morgen wäre er wieder da.« Frank nahm die Hand seiner Tochter und zog sie näher zu sich heran. »Gretchen, sei einmal vernünftig und sage mir, was du eigentlich gegen den Assessor einzuwenden hast. Er ist jung, leidlich hübsch, nicht unvermögend und kann dir eine höchst angenehme gesellschaftliche Stellung bieten. Ich gebe zu, daß er manche Lächerlichkeiten an sich hat, aber eine vernünftige Frau wird schon etwas aus ihm machen. Die Hauptsache aber ist, daß er dich bis zur Narrheit liebt, und du sahst ihn ja anfangs gar nicht mit so ungünstigen Augen an. Was hat dich denn gerade in der letzten Zeit so gegen ihn eingenommen?«

Gretchen blieb die Antwort auf diese Frage schuldig, die sie etwas in Verlegenheit zu setzen schien, aber sie faßte sich bald wieder.

»Ich liebe ihn nicht,« erklärte sie mit der größten Bestimmtheit. »Und ich will ihn nicht, und ich nehme ihn nicht.«

Dieser kategorischen Erklärung gegenüber blieb dem Vater nun freilich nichts weiter übrig, als die Achseln zu zucken, was er denn auch that.

»Nun, meinetwegen!« sagte er unmutig. »Dann werde ich dem Assessor aber klaren Wein einschenken, ehe er uns diesmal verläßt. Bis zu seiner Abreise will ich damit warten; vielleicht besinnst du dich noch bis dahin.«

Die junge Dame machte eine sehr geringschätzige Miene darüber, daß der Vater ihr eine solche Schwäche zutraute. Es schien ihre Seelenruhe nicht im mindesten zu stören, daß sie soeben den Stab über das Lebensglück des armen Assessors gebrochen hatte, denn sie setzte sich gleichmütig an ihren Nähtisch, nahm ein dort liegendes Buch und begann zu lesen.

Der Administrator ging, noch immer ein wenig ärgerlich, im Zimmer auf und ab; endlich blieb er vor seiner Tochter stehen,

»Was ist denn das für ein dicker Band, den ich jetzt fortwährend in deinen Händen sehe? Eine Grammatik vermutlich. Studierst du so eifrig Französisch?«

»Nein, Papa,« sagte Gretchen. »Die Grammatik ist viel zu langweilig, als daß ich sie so oft in die Hand nehmen sollte. Ich« – sie legte feierlich die Hand auf das Buch – »ich studiere gegenwärtig die Geschichte des Germanentums.«

»Was studierst du?« fragte der Administrator, der seinen Ohren nicht traute.

»Die Geschichte des Germanentums!« wiederholte seine Tochter mit unglaublichem Selbstgefühl. »Ein ausgezeichnetes Werk, ein Werk voll der allertiefsten Gelehrsamkeit! Willst du es auch einmal lesen? Hier ist der erste Band.«

»Laß mich in Ruhe mit deinem Germanentum!« rief Frank. »Ich habe genug mit dem Slaventum zu thun. Aber wie kommst du denn zu diesem gelehrten Zeuge? Ganz sicher durch den Doktor Fabian, aber das ist gegen die Abrede. Er hat versprochen, dich im Französischen zu üben, und statt dessen bringt er dir alte Scharteken aus seiner Bibliothek, von denen du kein Wort verstehst.«

»Ich verstehe alles,« rief das junge Mädchen beleidigt. »Und es ist auch keine alte Scharteke; es ist ein ganz neues Werk, das Doktor Fabian selbst geschrieben hat. Es macht ungeheures Aufsehen in der Gelehrtenwelt, und zwei unsrer ersten wissenschaftlichen Berühmtheiten, Professor Weber und Professor Schwarz, liegen sich bereits in den Haaren darüber und über die angehende dritte, den Doktor nämlich. Aber du sollst sehen, Papa, er wird noch einmal größer, als beide zusammengenommen.«

»Schwarz?« sagte der Administrator nachsinnend. »Das ist ja der berühmte Onkel unsres Assessors an der Universität zu J. Nun, da kann Doktor Fabian von Glück sagen, wenn eine solche Autorität sich überhaupt mit seinen Werken befaßt.«

»Professor Schwarz versteht gar nichts,« erklärte Gretchen zum Entsetzen ihres Vaters und mit der Unfehlbarkeit eines akademischen Richters. »Er wird sich mit seiner Kritik des Fabianschen Buches ebenso blamieren, wie der Assessor mit der Verhaftung des Herrn Nordeck. Natürlich, es sind ja Onkel und Neffe – das liegt so in der Familie.«

Jetzt schien die Sache dem Administrator doch etwas bedenklich zu werden; er sah seine Tochter forschend an. »Du bist in diesen Universitätsgeschichten ja so bewandert wie ein Student. Du scheinst das unumschränkte Vertrauen des Doktors Fabian zu genießen,«

»Das genieße ich auch,« bestätigte Gretchen. »Aber es hat sehr viele Mühe gekostet, ihn dahin zu bringen. Er ist so schüchtern, so zurückhaltend, obwohl er doch ein so bedeutender Mensch ist. Ich habe ihm das alles erst im Laufe der Zeit und Wort für Wort abfragen müssen. Sein Buch wollte er mir anfangs gar nicht geben, aber da wurde ich böse, und ich möchte wohl sehen, was er mir verweigert, wenn ich ihm ein Gesicht mache.«

»Höre, Kind, ich glaube, der Assessor hat einen sehr dummen Streich gemacht, als er deine französischen Uebungen veranlaßte,« brach Frank jetzt los. »Dieser stille, blasse Doktor mit seiner sanften Stimme und seinem schüchternen Wesen hat es dir wahrhaftig angethan und ist allein schuld an der schlimmen Behandlung, die du dem armen Hubert zu teil werden läßt. Du wirst doch keine Thorheiten machen? Der Doktor ist nichts weiter als ein ehemaliger Hauslehrer, der bei seinem früheren Zöglinge lebt und eine Pension von ihm bezieht. Wenn er dabei gelehrte Werke schreibt, so mag das ein Vergnügen für ihn sein, aber Geld bringt dergleichen nicht ein und am allerwenigsten ein gesichertes Einkommen. Zum Glück ist er zu schüchtern und auch wohl zu vernünftig, um auf deine Vorliebe für ihn irgend eine Hoffnung zu bauen, aber ich halte es doch für besser, wenn die französischen Stunden jetzt ein Ende nehmen, und werde das auf schickliche Weise einzuleiten suchen. Wenn du, die kaum die Geduld hat, einen Roman zu Ende zu lesen, jetzt die Geschichte des Germanentums studierst und dich dafür begeisterst, bloß weil Doktor Fabian sie geschrieben hat, so ist mir das doch bedenklich.«

Die Tochter sah bei dieser väterlichen Ermahnung sehr unzufrieden aus und bereitete sich zu einem nachdrücklichen Widerspruch vor, als der Inspektor mit einer Meldung eintrat. Gleich darauf verließ Frank mit ihm das Zimmer, und Fräulein Margarete blieb in einer höchst ärgerlichen Stimmung zurück, Assessor Hubert hätte gar nichts Schlimmeres thun können, als in einer solchen Stunde zu erscheinen, aber sein gewöhnlicher Unstern führte ihn natürlich gerade jetzt herein. Er war, wie immer, die Aufmerksamkeit und Artigkeit selbst, der Gegenstand seiner Wünsche aber zeigte eine so ungnädige Laune, daß er eine Bemerkung darüber nicht unterdrücken konnte.

»Sie scheinen verstimmt, Fräulein Margarete,« begann er nach mehreren vergeblichen Versuchen, ein Gespräch anzuknüpfen. »Darf man den Grund wissen?«

»Ich ärgere mich, daß gewöhnlich gerade die bedeutendsten Menschen so sehr viel Schüchternheit und so gar kein Selbstvertrauen haben,« fuhr Gretchen heraus, die mit ihren Gedanken ganz wo anders war.

Das Antlitz des Assessors verklärte sich förmlich bei diesen Worten. Bedeutende Menschen – Schüchternheit – kein Selbstvertrauen – ja freilich, er war damals mitten im Kniefall stecken geblieben und noch heute nicht bis zu einer Erklärung gekommen. Die junge Dame trug allerdings selbst die Schuld daran, aber es verletzte sie doch, daß er so wenig Selbstvertrauen zeigte. Das mußte unverzüglich wieder gut gemacht werden. Der Wink konnte gar nicht deutlicher gegeben werden.

Gretchen sah schon in der nächsten Minute ein, was sie mit ihren unvorsichtigen Worten, die Hubert natürlich auf seine eigene Person bezog, angerichtet hatte. Sie brachte schleunigst ihre Geschichte des Germanentums vor ihm in Sicherheit, denn der Doktor hatte ihr das Versprechen abgenommen, dem Neffen seines litterarischen Gegners nichts davon zu verraten, und beschloß, ihre Uebereilung durch möglichste Ungezogenheit wieder gut zu machen.

»Sie brauchen nicht mit einem solchen Polizeiblick um mich herum zu gehen, Herr Assessor,« sagte sie. »Ich bin keine Verschwörung, und das ist ja doch das einzige auf der Welt, was sie interessiert.«

»Mein Fräulein,« versetzte der Assessor würdevoll, aber doch etwas verletzt, denn er war sich bewußt, schmachtend und durchaus nicht polizeigemäß geblickt zu haben, »Sie werfen mir meinen Amts- und Pflichteifer vor, und doch glaube ich mir gerade daraus ein Verdienst machen zu können. Auf uns Beamten lastet die ganze Sorge für die Ordnung und Sicherheit des Staates; uns danken es Tausende, daß sie abends ihr Haupt ruhig niederlegen können; ohne uns – «

»Nun, wenn Sie allein für unsre Sicherheit sorgten, dann wären wir hier in Wilicza längst totgeschlagen worden,« unterbrach ihn das junge Mädchen. »Es ist nur ein Glück, daß wir Herrn Nordeck haben; der schafft uns nachdrücklicher Ruhe als das ganze Polizeidepartement von L.«

»Herr Nordeck scheint jetzt überall einer außerordentlichen Bewunderung zu genießen,« bemerkte Hubert empfindlich, »Auch bei Ihnen.«

»Ja, auch bei mir,« bestätigte Gretchen. »Ich bedaure es aufrichtig, aber meine Bewunderung gilt nun einmal Herrn Nordeck und keinem andern.«

Sie warf einen sehr anzüglichen Blick auf den Assessor, aber dieser lächelte nur.

»O, dieser andre würde auch niemals das kalte, fremde Gefühl der Bewunderung beanspruchen,« versicherte er. »Er hofft auf ganz andre Regungen in einer verwandten Seele.«

Gretchen sah, daß die Ungezogenheit ihr nichts half. Hubert steuerte unverwandt und unbeirrt auf die Erklärung los. Das junge Mädchen hatte aber gar keine Lust, ihn anzuhören; es war ihr unangenehm, ihm ein Nein geben zu müssen, und sie fand es weit bequemer, das durch ihren Vater abmachen zu lassen. Deshalb fuhr sie mit der ersten besten Frage dazwischen, die ihr gerade in den Sinn kam.

»Sie haben mir ja so lange nichts von Ihrem berühmten Onkel in J. erzählt. Was macht er denn jetzt?«

Der Assessor, der in dieser Frage nur ihre Teilnahme an seinen Familienangelegenheiten erblickte, ging bereitwillig darauf ein.

»Mein armer Onkel hat in der letzten Zeit sehr viel Aerger und Verdruß gehabt,« berichtete er. »Es gibt an der Universität eine Gegenpartei – welches wahrhaft Große hätte nicht seine Neider und Feinde! – an deren Spitze Professor Weber steht. Dieser Herr hascht förmlich nach Popularität; die Studenten hängen mit blinder Vorliebe an ihm; alle Welt spricht von seiner Liebenswürdigkeit, und mein Onkel, der dergleichen Kunstgriffe verschmäht und sich überhaupt nie um die öffentliche Meinung kümmert, wird von allen Seiten angefeindet. Jetzt hat die Gegenpartei, einzig ihm zum Aerger, einen ganz obskuren Menschen auf den Schild gehoben und unterfängt sich, dessen Erstlingswerk neben die Schwarzschen Schriften über den Germanismus zu setzen.«

»Es ist wohl nicht möglich,« meinte Gretchen.

»Neben die Schriften meines Onkels,« wiederholte der Assessor mit großartiger Entrüstung. »Ich kenne weder den Namen, noch die näheren Umstände. Mein Onkel liebt es nicht, sich in seinen Briefen über Einzelheiten auszusprechen, aber die Sache hat ihn dermaßen geärgert, und sein Konflikt mit dem Professor Weber ist zu einer solchen Höhe gediehen, daß er daran gedacht hat, seine Entlassung zu nehmen. Es ist natürlich nur eine Drohung; man läßt ihn in keinem Falle fort. Die Universität erlitte ja durch sein Ausscheiden einen unersetzlichen Verlust, aber er hielt es doch für notwendig, einen Druck auf die betreffenden Persönlichkeiten zu üben.«

»Ich wollte, das wirkte,« sagte Gretchen mit einem solchen Ausdruck des Ingrimms, daß Hubert betroffen einen Schritt zurücktrat, aber gleich darauf trat er zwei näher.

»Es beglückt mich sehr, daß Sie ein solches Interesse an dem Ergehen meines Onkels nehmen. Auch er interessiert sich bereits für Sie. Ich habe ihm oft von dem Hause und der Familie geschrieben, wo ich eine so liebenswürdige Aufnahme gefunden habe, und er würde mit Freuden hören, daß ich dieser Familie –« Da war er schon wieder so weit. Das junge Mädchen sprang in voller Verzweiflung auf, lief an das gerade offen stehende Klavier und begann zu spielen. Aber sie unterschätzte die Beharrlichkeit des Bewerbers, denn schon in der nächsten Minute stand er neben ihr und hörte zu.

»Ah, der Sehnsuchtswalzer! Mein Lieblingsstück! Freilich, die Musik vermag es am besten, die Gefühle des Herzens auszudrücken – nicht wahr, Fräulein Margarete?«

Fräulein Margarete fand, daß sich heute alles gegen sie verschworen habe. Es war zufällig das einzige Stück, das sie auswendig wußte, und sie wagte nicht aufzustehen und Noten zu holen, denn die Miene des Assessors verriet, daß er nur auf eine Pause im Spiel wartete, um den Gefühlen seines Herzens Worte zu geben. So ließ sie denn den Sehnsuchtswalzer mit vollster Kraft und im Tempo eines Sturmmarsches über die Tasten hinrasen. Es klang fürchterlich, und es sprang eine Saite dabei, aber der Lärm wurde glücklicherweise so arg, daß er jede etwaige Liebeserklärung übertönen mußte.

»Sollte das Fortissimo wohl hier am Platze sein?« wagte Hubert zu bemerken. »Ich meinte immer, das Stück müsse im schmelzenden Piano gespielt werden.« »Ich spiele es im Fortissimo,« erklärte Gretchen und schlug auf die Tasten, daß die zweite Saite sprang.

Der Assessor war etwas nervös; er fuhr zusammen. »Sie werden das schöne Instrument verderben,« sagte er, sich mit Mühe verständlich machend.

»Wozu gibt es Klavierstimmer in der Welt?« rief Gretchen. Als sie merkte, daß der musikalische Lärm dem Assessor unangenehm wurde, steigerte sie ihn zu einer ganz unglaublichen Höhe und opferte kaltblütig die dritte Saite. Das half endlich. Hubert sah ein, daß man ihn heute nicht zu Worte kommen lassen wollte, und trat den Rückzug an, ärgerlich, aber mit unerschüttertem Vertrauen. Die junge Dame hatte ihn ja damals beim Schnupfenfieber mit so rührender Aufmerksamkeit gepflegt, und heute hatte sie ihn einen bedeutenden Menschen genannt und ihm Mangel an Selbstvertrauen vorgeworfen. Freilich, ihr Eigensinn blieb unberechenbar, aber sie liebte ihn dennoch.

Als er fort war, stand Gretchen auf und schloß das Klavier. »Drei Saiten sind gesprungen,« sagte sie wehmütig und doch mit einer gewissen Befriedigung, »Aber ich habe ihn richtig wieder nicht zur Erklärung kommen lassen. Und das übrige kann Papa besorgen.« Damit setzte sie sich wieder an den Nähtisch, holte das Buch hervor und vertiefte sich aufs neue in die Geschichte des Germanentums. –

Es war einige Stunden später, als Waldemar Nordeck von L. zurückkehrte, wohin er heute morgen geritten war. Er kam jetzt öfter dorthin; der Verkehr zwischen dem Schlosse und der Stadt war überhaupt lebhafter geworden. Der Umstand, daß Wilicza gerade die Grenzwaldungen einschloß und daß man der dortigen Bevölkerung am wenigsten traute, machte manche Besprechungen und Verständigungen hinsichtlich der zu nehmenden Maßregeln notwendig, und der Präsident wußte zu gut, welche feste energische Stütze er in dem jungen Gutsherrn hatte, um ihn nicht stets mit der größten Zuvorkommenheit aufzunehmen. Auch heute war Waldemar bei ihm gewesen und dort mit einigen der höheren Beamten und Offiziere aus L. zusammengetroffen, und die sämtlichen Herren fanden aufs neue ihre schon früher gehegte Meinung bestätigt, daß der junge Nordeck im Grunde doch eine durchaus kalte unempfindliche Natur sei. Jeden andern würde das gezwungen feindselige Verhältnis der eigenen Mutter und dem eigenen Bruder gegenüber doch wenigstens gedrückt und gequält haben, ihn schien es gar nicht zu berühren. Er war wie immer ernst, zurückhaltend, aber entschlossen und bereit, die einmal gewählte Stellung bis aufs Aeußerste zu behaupten.

Waldemar hatte freilich allen Grund, den Fremden diese ruhige Stirn zu zeigen; er wußte, daß sein Verhältnis zu seiner Mutter das Tagesgespräch in L. bildete und daß die abenteuerlichsten Gerüchte darüber die Runde machten – da galt es ihnen wenigstens nicht neue Nahrung zu geben. Jetzt, wo er sich allein und unbeachtet wußte, stand ein Zug verbissenen Schmerzes in seinem Gesicht, der nicht weichen wollte, und die Stirn war so finster umwölkt, wie sie vorhin klar gewesen. Er ritt im Schritte vorwärts, ohne auf die Umgebung zu achten, und hielt bei einer Kreuzung des Weges fast mechanisch sein Pferd an, um einen Schlitten vorbei zu lassen, der in vollem Galopp herankam und dicht an ihm vorüberfuhr.

Normann bäumte sich plötzlich in die Höhe. Der Reiter hatte den Zügel mit so wilder Heftigkeit an sich gerissen, daß das Tier erschrak und einen jähen Sprung seitwärts machte. Dabei geriet es aber mit den Hinterfüßen in einen nur lose vom Schnee verdeckten Graben, der längs des Fahrweges hinlief; es strauchelte und wäre fast mit seinem Herrn zu Fall gekommen.

Waldemar brachte es schnell genug wieder aus dem Graben und auf die Höhe des Weges, aber der leichte Unfall schien ihn, den kühnen unerschrockenen Reiter, gänzlich aus der Fassung gebracht zu haben. Sie fehlte ihm noch vollständig, als er sich dem Schlitten näherte, welcher auf einen Zuruf der Dame stillgehalten hatte.

»Verzeihen Sie, Gräfin Morynska, wenn ich Sie erschreckt habe! Mein Pferd scheute vor der plötzlichen Begegnung mit dem Ihrigen!«

Wanda war sonst schreckhaften Regungen nicht leicht zugänglich; vielleicht trug weniger der Schrecken als das unerwartete Zusammentreffen – das erste seit drei Monaten – die Schuld an der tiefen Blässe, die noch auf ihrem Antlitze lag, als sie erwiderte:

»Sie haben doch keinen Schaden genommen?«

»Ich wohl nicht, aber mein Normann –«

Er vollendete nicht, sondern sprang rasch aus dem Sattel, Das Pferd hatte offenbar eine Verletzung an einem seiner Hinterfüße erlitten. Es hielt ihn, wie im Schmerz, emporgezogen und verweigerte das Auftreten damit. Waldemar untersuchte flüchtig den Schaden und wandte sich dann wieder zu der jungen Gräfin.

»Es ist nicht von Bedeutung,« sagte er in demselben kalten gezwungenen Tone wie vorhin, »Ich bitte Sie, Ihre Fahrt deswegen nicht zu unterbrechen.« Er grüßte und trat zur Seite, um den Schlitten vorüber zu lassen.

»Wollen Sie denn nicht wieder aufsteigen?« fragte Wanda, als sie sah, daß er den Zügel um seinen Arm schlang.

»Nein! Normann hat sich am Fuße beschädigt und hinkt bedeutend. Es ist ihm schon schmerzhaft genug, nur aufzutreten. Er kann unmöglich noch einen Reiter tragen.«

»Es sind noch zwei Stunden Wegs nach Wilicza,« bemerkte Wanda. »Die können Sie doch nicht zu Fuß und im langsamen Schritt zurücklegen.«

»Es wird mir doch nichts andres übrigbleiben,« versetzte Nordeck ruhig. »Mindestens muß ich mein Pferd bis zum nächsten Dorfe führen, wo ich es abholen lassen kann.«

»Aber dann wird es dunkel, ehe Sie das Schloß erreichen.« »Das thut nichts; ich kenne den Weg.«

Die junge Gräfin warf einen Blick auf den Weg nach Wilicza, der sich schon nach einer kurzen Strecke im Wald verlor; sie wußte, daß diese Waldumgebung ihm blieb bis in die unmittelbare Nähe des Schlosses.

»Wäre es nicht besser, Sie bedienten sich meines Schlittens?« sagte sie leise, ohne aufzublicken. »Mein Kutscher kann Ihr Pferd ja inzwischen nach dem Dorfe bringen.«

Waldemar sah sie betroffen an; das Anerbieten schien ihn aufs höchste zu überraschen.

»Ich danke. Sie fahren jedenfalls nach Rakowicz?«

»Der Umweg über Rakowicz ist nicht groß,« fiel Wanda hastig ein, »und von dort aus können Sie das Gefährt allein benutzen,« Die Worte klangen seltsam gepreßt, beinahe angstvoll. Waldemar ließ langsam den Zügel niedergleiten. Es vergingen einige Sekunden, ehe er antwortete:

»Ich thue doch wohl besser, direkt nach Wilicza zu gehen.«

»Ich bitte Sie aber, das nicht zu thun, sondern mit mir zu fahren.«

Diesmal sprach die Angst so unverkennbar aus Wandas Stimme, daß die Weigerung nicht erneuert wurde. Nordeck übergab dem Kutscher, der auf den Wink der Herrin abgestiegen war, das Pferd mit der Weisung, es möglichst schonend nach dem bezeichneten Dorfe zu führen, wo es abgeholt werden würde. Er selbst bestieg den Schlitten, aber er schwang sich auf den hinten befindlichen Kutschersitz und ergriff die Zügel. Der Platz neben der jungen Gräfin blieb leer.

Die Fahrt ging in tiefem Schweigen vor sich. Das Anerbieten war so einfach und selbstverständlich; die Ablehnung wäre seltsam, ja beleidigend gewesen zwischen zwei so nahen Verwandten, aber die Unbefangenheit hatten die beiden längst verlernt, und dies unerwartete Wiedersehen raubte ihnen den letzten Rest davon. Waldemar wendete seine Aufmerksamkeit ausschließlich den Zügeln zu, und Wanda hüllte sich fester in ihren Pelz, ohne auch nur einmal den Kopf umzuwenden.

Man stand bereits im Anfange des März, aber der Winter schien diesmal gar nicht weichen zu wollen. Kurz vor dem Scheiden ließ er noch einmal all seine Schrecken los über die arme Erde, die schon dem ersten Frühlingshauche entgegenharrte. Ein tagelang andauerndes Schneegestöber hüllte sie aufs neue in das Leichengewand, das sie mühsam abgestreift hatte. Wieder starrte die Landschaft in Schnee und Eis, und Sturm und Kälte stritten miteinander um die Oberhand.

Der Sturm und das Schneetreiben hatten sich zwar seit heute morgen gelegt, aber trotzdem war es ein so trüber, kalter Winternachmittag, als stehe man noch im Dezember. Die Pferde griffen kräftig aus, und der Schlitten schien auf der glatten Bahn zu fliegen, aber der eisige Hauch dieses winterlichen Märztages lag auch auf den beiden Insassen, die in ihrem Schweigen beharrten. Sie waren seit jener Stunde am Waldsee zum erstenmal wieder allein, und so düster melancholisch jener Herbstabend auch gewesen war, mit seinem fallenden Laub und seinen wogenden Nebelgestalten, damals regte sich doch wenigstens noch das Leben der Natur, wenn auch nur im Sterben, jetzt war auch das zu Ende. Es lag eine Totenstille auf den weiten Feldern, die sich so weiß und endlos ausdehnten. Nichts als Schnee ringsum, so weit das Auge reichte! Die Ferne verhüllte sich in trüben Nebel, und den Himmel deckte finsteres Schneegewölk, das schwer und träge dahinzog; sonst war alles starr und tot in dieser winterlichen Oede und Einsamkeit.

Der Weg verließ jetzt das freie Feld und bog in die Waldung ein, die bisher seitwärts geblieben war. Auf dem tieferen windgeschützten Waldwege lag der Schnee so hoch, daß die Pferde nur im Schritt zu gehen vermochten. Der Führer ließ die Zügel sinken, die er bisher straff gehalten hatte und aus der schwindelnd schnellen Fahrt wurde ein leises Dahingleiten. Die dunklen Tannen zu beiden Seiten beugten sich schwer unter der Schneelast, die sie trugen. Einer der tief herniederhängenden Zweige streifte Waldemars Haupt, und eine ganze Wolke von weißen Flocken ergoß sich über ihn und seine Begleiterin. Diese wendete sich jetzt zum erstenmal halb nach ihm um und sagte, auf die Bäume deutend:

»Durch solchen dichten Forst führt der Weg nach Wilicza ununterbrochen.«

Waldemar lächelte flüchtig. »Das ist mir nicht neu. Ich mache den Weg ja oft genug,«

»Aber nicht zu Fuße und bei einbrechender Dämmerung! Wissen Sie es nicht oder wollen Sie es nicht wissen, daß das eine Gefahr für Sie ist?«

Das Lächeln verschwand aus Nordecks Zügen und machte dem gewohnten Ernste Platz. »Wenn ich noch daran zweifelte, so würde die Kugel mich belehrt haben, die neulich, als ich von der Grenzförsterei zurückkam, an meinem Kopfe so dicht vorüberflog, daß sie mir fast das Haar streifte. Der Schütze ließ sich nicht blicken; er schämte sich vermutlich seiner – Ungeschicklichkeit.«

»Nun, wenn Sie bereits die Erfahrung gemacht haben, so ist Ihr stetes Alleinreiten geradezu eine Herausforderung!« rief Wanda, die es nicht vermochte, ihren Schrecken bei dem Bericht zu verbergen.

»Ich reite niemals unbewaffnet,« versetzte Waldemar gelassen, »und gegen einen Schuß aus dem Hinterhalt schützt mich keine Begleitung. Den augenblicklichen Verhältnissen in Wilicza gegenüber ist die Macht der Persönlichkeit überhaupt das einzige, was noch wirkt. Wenn ich Furcht zeige und mich mit Vorsichtsmaßregeln umgebe, ist es zu Ende mit meiner Autorität. Wenn ich fortfahre, den Angriffen allein die Spitze zu bieten, wird man davon ablassen.«

»Und wenn jene Kugel getroffen hätte?« fragte Wanda mit leise bebender Stimme, »Sie sehen doch, wie nahe Ihnen die Gefahr war.«

Der junge Mann beugte sich halb über ihren Sitz.

»Wollten Sie mich einer ähnlichen Gefahr entziehen, als Sie vorhin auf meiner Begleitung bestanden?«

»Ja,« war die kaum hörbare Antwort.

Er schien eine Erwiderung auf den Lippen zu haben, aber wie von einer Erinnerung durchzuckt, richtete er sich plötzlich wieder auf und griff fester in die Zügel, während er mit aufquellender Bitterkeit sagte:

»Das werden Sie schwerlich vor Ihrer Partei verantworten können, Gräfin Morynska.«

Sie wandte sich jetzt vollständig nach ihm um, und ihr Auge begegnete dem seinigen.

»Nein, denn Sie haben ihr offene Feindschaft angesagt. Es lag in Ihrer Hand, uns den Frieden zu bieten. Sie erklärten uns den Krieg.«

»Ich that, was ich mußte. Sie vergessen, daß mein Vater ein Deutscher war.«

»Und Ihre Mutter ist eine Polin.«

»Sie brauchen mich nicht mit diesem Tone des Vorwurfs daran zu erinnern,« sagte Waldemar. »Der unselige Zwiespalt hat mir allzuviel gekostet, als daß ich ihn auch nur auf eine Minute vergessen könnte. Er verschuldete schon die Trennung zwischen meinen Eltern; mir hat er die Kindheit vergiftet, die Jugend verbittert und die Mutter geraubt. Sie hätte mich vielleicht geliebt wie ihren Leo, wenn ich ein Baratowski gewesen wäre wie er. Daß ich der Sohn meines Vaters war, habe ich bei ihr am schwersten büßen müssen. Wenn wir uns jetzt auch politisch feindlich gegenüberstehen, so ist das nur die Konsequenz der Vergangenheit.«

»Die Sie mit eiserner Stirn durchführen!« rief Wanda auflodernd. »Jeder andre würde eine Aussöhnung, einen Ausgleich gesucht haben; der würde zwischen Mutter und Sohn ja doch möglich gewesen sein.«

»Zwischen Mutter und Sohn vielleicht, aber nicht zwischen der Fürstin Baratowska und mir. Sie stellte mich vor die Wahl, entweder Wilicza und mich selber willenlos ihren Interessen dienstbar zu machen, oder ihr den Krieg zu erklären. Ich habe das letztere vorgezogen, und sie sorgt dafür, daß auch nicht einen Tag Waffenstillstand ist. Wenn es nicht noch immer den Streit um die Herrschaft gälte, so hätte sie mich längst schon verlassen; mir galt ihr Bleiben gewiß nicht.«

Wanda gab keine Antwort. Sie wußte, daß er recht hatte, aber es drängte sich ihr unwillkürlich die Gewißheit auf, daß gerade dieser Mann, der allgemein für so kalt und unempfindlich galt, das Verhältnis zu seiner Mutter mit einer grenzenlos tiefen und schmerzlichen Bitterkeit empfand. In den seltenen Momenten, wo er überhaupt sein Inneres aufschloß, kam er immer wieder darauf zurück. Die Gleichgültigkeit der Mutter gegen ihn und ihre unbegrenzte Liebe zu dem jüngeren Sohne war der Stachel gewesen, der sich schon in die Seele des Knaben gesenkt hatte – der Mann konnte das noch heute nicht verwinden.

Die kurze Waldstrecke lag bereits hinter ihnen, und jetzt, wo die Pferde ihre Schnelligkeit zurückgewannen, tauchte auch bald Rakowicz auf. Waldemar wollte in den Hauptweg einlenken, der dorthin führte, aber Wanda wies nach einer andern Richtung. »Ich bitte Sie, mich am Eingang des Dorfes aussteigen zu lassen. Ich gehe die kurze Strecke gern zu Fuß, und Sie bleiben auf dem Wege nach Wilicza.«

Nordeck sah sie einen Moment schweigend an. »Das heißt, Sie wagen es nicht, in meiner Begleitung in Rakowicz zu erscheinen. Freilich, ich vergaß, daß man Ihnen das nie verzeihen würde. Wir sind ja Feinde.«

»Wir sind es durch Ihre Schuld allein,« erklärte Wanda. »Es zwang Sie niemand, uns den Gegner zu zeigen. Unser Kampf gilt nicht Ihrem Vaterlande; er wird drüben auf fremdem Boden gekämpft.«

»Und wenn die Ihrigen siegen auf diesem Boden?« fragte Waldemar langsam und scharf. »Wer kommt dann zunächst an die Reihe?« Die junge Gräfin schwieg.

»Wir wollen das lieber nicht erörtern.« sagte Nordeck bitter. »Es mag ja eine innere, eine Naturnotwendigkeit sein, die Ihren Vater und Leo in den Streit getrieben hat, aber die gleiche Notwendigkeit treibt mich zum Widerstand. Mein Bruder hat es freilich leichter als ich. Ihm haben Geburt und Familientradition von jeher nur einen Weg gezeigt, und er ist ihn gegangen, ohne Wahl, ohne Zwiespalt – mir ist beides nicht erspart geblieben. Ich vermag es nun einmal nicht, zwischen zwei feindlichen Parteien hin und her zu schwanken und beiden oder keiner anzugehören; ich muß einer Sache Freund oder Feind sein. Was mich die Wahl gekostet hat, danach fragt niemand. Gleichviel, ich habe gewählt, und wo ich einmal stehe, da bleibe ich stehen. Leo wirft sich mit glühender Begeisterung in den Kampf für seine höchsten Ideale, getragen von der Liebe und Bewunderung der Seinigen; er weiß, daß sie täglich für sein Leben zittern, und für ihn ist die Gefahr nur ein Reiz mehr bei dem Kampfe – ich stehe allein auf meinem Posten, der mir vielleicht den Tod durch Meuchelmord und sicher den Haß einträgt, den Haß von ganz Wilicza, von Mutter und Bruder und auch von Ihnen. Die Rollen sind doch wohl ungleich verteilt zwischen uns Brüdern. Aber ich bin ja nie durch Liebe und Zuneigung verwöhnt worden. Ich werde das auch jetzt ertragen. Also hassen Sie mich immerhin, Wanda! Vielleicht ist es das beste für uns beide.«

Er hatte inzwischen die bezeichnete Richtung eingeschlagen und hielt jetzt kurz vor dem Eingang des Dorfes, das wie ausgestorben dalag. Sich von seinem Sitze schwingend, wollte er der jungen Gräfin die Hand zum Aussteigen bieten, aber sie lehnte schweigend ab und verließ allein den Schlitten. Ueber ihre festgeschlossenen Lippen kam auch nicht ein einziges Wort des Abschiedes. Sie neigte nur stumm das Haupt zum Gruße.

Waldemar war zurückgetreten. In seinem Antlitz erschien wieder der Zug finstern Schmerzes, und seine Hand, welche die Zügel hielt, ballte sich krampfhaft – die Abweisung verletzte ihn augenscheinlich aufs tiefste.

»Ich werde das Gefährt morgen zurücksenden,« sagte er kalt und fremd, »mit meinem Danke – wenn Sie ihn nicht etwa auch ablehnen, wie eben diesen leichten Dienst.« Wanda schien mit sich zu kämpfen; sie hob bereits den Fuß zum Gehen, zögerte aber noch einen Augenblick.

»Herr Nordeck.«

»Sie befehlen, Gräfin Morynska?«

»Ich – Sie müssen mir versprechen, die Gefahr nicht wieder so herauszufordern, wie Sie es heute thun wollten. Sie haben recht – der Haß von ganz Wilicza gilt jetzt Ihnen; machen Sie es ihm nicht so leicht, Sie zu treffen – ich bitte Sie darum.«

Eine flammende Röte schlug in dem Gesichte Waldemars bei diesen Worten auf. Er warf einen Blick auf das ihrige, nur einen einzigen, aber alle Bitterkeit schwand davor.

»Ich werde vorsichtiger sein,« entgegnete er leise.

»So leben Sie wohl!«

Sie wandte sich um und schlug den Weg nach dem Dorfe ein. Nordeck blickte ihr nach, bis sie hinter einem der nächsten Gehöfte verschwand, dann schwang er sich wieder in den Schlitten und jagte in der Richtung nach Wilicza hin, die ihn bald wieder in den Wald führte. Er hatte die Waffe aus der Brusttasche genommen und neben sich gelegt, und während er mit gewohnter Sicherheit die Zügel führte, spähte sein Auge scharf zwischen den Bäumen umher. Der trotzige unbeugsame Mann, der keine Furcht kannte, war auf einmal so besonnen und vorsichtig geworden – er hatte es ja versprochen, und er wußte, daß es ein Wesen gab, das jetzt auch für sein Leben zitterte.


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