Vineta
Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Es war Frühling geworden, zum zweitenmal seit dem Beginne des Aufstandes, der im Anfange so mächtig emporloderte, und der jetzt erdrückt, vernichtet am Boden lag. Jene winterlichen Märztage des vergangenen Jahres hatten nicht bloß Unheil über die Bewohner von Wilicza gebracht, sie waren auch für die ganze Insurrektion verhängnisvoll geworden, die mit der Niederlage des Morynskischen Corps eine ihrer Hauptstützen verlor, Graf Morynski hatte sich bei jenem Ueberfalle, der ihn und die Seinigen so gänzlich unvorbereitet traf, während sie sich durch die Deckung des Fürsten Baratowski gesichert glaubten, mit der Kraft der Verzweiflung gewehrt, und selbst da, als er sich umringt und verloren sah, noch das Aeußerste daran gesetzt, um Leben und Freiheit so teuer wie möglich zu verkaufen. Solange er an der Spitze stand, hielt sein Beispiel noch die Wankenden, aber als der Führer blutend und bewußtlos am Boden lag, war es vorbei mit jedem Widerstande. Was nicht fliehen konnte, wurde niedergemacht, oder fiel gefangen in die Hände der Sieger. Die Niederlage kam einer Vernichtung gleich, und wenn sie auch noch nicht das Schicksal der Revolution entschied, so bezeichnete sie doch einen Wendepunkt darin. Von da an ging es abwärts, unaufhaltsam abwärts. Der Verlust Morynskis, der unter den Führern des Aufstandes weitaus der bedeutendste und energischste gewesen war, der Tod Leo Baratowskis, den Namen und Traditionen seiner Familie, trotz seiner Jugend, zum Hauptaugenmerke der Partei für die Zukunft gemacht hatten, waren schwere Schläge für diese Partei, die, längst unter sich uneins und gespalten, jetzt noch mehr auseinanderfiel. Zwar blitzte der schon im Sinken begriffene Stern hie und da noch einmal auf; es gab noch Kämpfe und Gefechte voll Verzweiflung und Heldenmut, aber es trat immer deutlicher hervor, daß die Sache, für die man kämpfte, eine verlorene war. Die Insurrektion, die sich anfangs über das ganze Land verbreitet hatte, wurde immer mehr zurückgedrängt, in immer engere Grenzen eingeschlossen; ein Posten nach dem andern fiel, eine Schar nach der andern wurde zersprengt oder löste sich auf und das Ende des Jahres, mit dessen Beginne der Aufstand so drohend aufflammte, sah ihn erlöschen bis auf den letzten Funken. Nur Schutt und Trümmer zeugten noch von dem letzten verzweifelten Todeskampfe eines Volkes, über das die Geschichte längst das Urteil gesprochen hatte.

Es dauerte lange, ehe das Schicksal des Grafen Morynski entschieden wurde. Er erwachte erst im Kerker wieder zum Bewußtsein, und seine schwere, anfangs für tödlich gehaltene Verwundung machte in der ersten Zeit jedes Verfahren gegen ihn unmöglich. Er schwebte monatelang zwischen Leben und Tod, und als er endlich genas, war das erste, was ihn an der Schwelle des Lebens erwartete – das Todesurteil. Für einen Führer der Revolution, der im Kampfe, mit den Waffen in der Hand, in die Gewalt des Siegers gefallen war, konnte der Spruch nicht anders lauten. Das Todesurteil wurde über ihn ausgesprochen, und es wäre sicher vollzogen worden, wie so viele andre, ohne die lange schwere Krankheit. Gegen den vermeintlich Sterbenden wollte man den Spruch doch nicht zur Ausführung bringen, und als seine Vollziehung möglich wurde, war der Aufstand bereits bewältigt, die drohende Gefahr für das Land beseitigt, und damit ließ auch die eiserne Strenge des Siegers nach. Graf Bronislaw Morynski wurde zu lebenslänglicher Deportation begnadigt, allerdings zur Deportation in ihrer schärfsten Form, nach einem der entlegensten Orte Sibiriens – eine furchtbare Gnade für den Mann, dessen ganzes Leben nur ein einziger Freiheitstraum gewesen war, der selbst während der ersten jahrelangen Verbannung in Frankreich keine Beschränkung seiner persönlichen Freiheit gekannt hatte.

Er hatte die Seinigen nicht wiedergesehen seit jenem Abende, wo er in Wilicza von ihnen Abschied nahm, um in den Kampf zu gehen. Weder der Schwester noch selbst seiner Tochter wurde es erlaubt, ihn zu sehen. Was sie auch unternahmen, um bis zu ihm zu dringen, es scheiterte alles an der Strenge, mit der man den Gefangenen von der Außenwelt und dem Verkehre mit seinen Anverwandten abschloß. Diese hatten freilich die Strenge selbst verschuldet, denn sie versuchten es mehr als einmal, ihn seiner Haft zu entreißen. Sobald der Graf nur einigermaßen genesen war, wurde von seiten der Fürstin und Wandas alles nur mögliche aufgeboten, ihm zur Flucht zu verhelfen, aber die sämtlichen Befreiungspläne mißlangen, und der letzte hatte Pawlick, dem alten treuen Diener des Hauses Baratowski, das Leben gekostet. Er hatte sich freiwillig zu dem gefährlichen Dienst erboten, und es glückte ihm auch wirklich, sich mit dem Grafen in Verbindung zu setzen; dieser war benachrichtigt, der Fluchtplan verabredet, aber bei den Vorbereitungen dazu wurde Pawlick entdeckt und, als er in der ersten Bestürzung die Flucht nahm, von den Festungswachen niedergeschossen. Die Folge dieser Entdeckung war eine nur noch strengere Bewachung des Gefangenen und die schärfste Beobachtung seiner Angehörigen; sie konnten keinen Schritt mehr thun, ohne sich neuem Verdachte auszusetzen, ohne die Haft des Vaters und Bruders noch härter zu machen; sie mußten endlich der Unmöglichkeit weichen.

Die Fürstin hatte unmittelbar nach dem Tode ihres jüngsten Sohnes Wilicza verlassen und war gänzlich nach Rakowicz übergesiedelt. Die Welt fand es sehr natürlich, daß sie ihre verwaiste Nichte jetzt nicht allein ließ, Waldemar verstand besser, was seine Mutter forttrieb. Er hatte es schweigend hingenommen, als sie ihm ihren Entschluß ankündigte, und nicht den geringsten Versuch gemacht, sie zu halten; er wußte, daß sie weder den Aufenthalt in seinem Schlosse, noch seinen täglichen Anblick mehr ertrug, war er ja doch die Ursache jener unglückseligen That Leos gewesen, die diesem den Tod und den Seinigen das Verderben brachte. Vielleicht war es für Nordeck auch eine Erleichterung, daß die Fürstin ging, jetzt, wo er gezwungen war, sie täglich und stündlich zu verletzen durch die Art, wie er die Zügel der Herrschaft in Wilicza führte. Seine Hand, die sie mit so eiserner Willenskraft ergriffen hatte, wußte sie auch eisern zu regieren, und das war in der That notwendig. Er hatte recht, es war ein Chaos, was die zwanzigjährige Beamtenwirtschaft unter seinem ehemaligen Vormunde und die vier letzten Jahre unter dem Baratowskischen Regimente ihm auf seinen Gütern geschaffen hatte, aber er ging mit einer unglaublichen Energie daran, Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Im Anfange hatte Waldemar freilich genug zu thun, wenn er sich mit allen Kräften der auch auf seinem Gebiete drohenden Rebellion entgegenstemmte, aber sobald er sich nur wieder frei regen konnte, sobald der Aufstand, der mit tausend geheimen Beziehungen auch nach Wilicza hinübergriff, zu erlöschen anfing, begann dort ein Umwälzungsprozeß, der seinesgleichen suchte. Was sich von den Beamten nicht unbedingt fügte, wurde entlassen und jeder Zurückgebliebene der schärfsten Kontrolle unterworfen. Die Forstverwaltung wurde durchweg mit neuen Persönlichkeiten besetzt, die Pachtgüter, zum Teil mit bedeutenden Geldopfern, aus den Händen der bisherigen Pächter befreit und der Herrschaft selbst zugeteilt, an deren Spitze der junge Gutsherr ganz allein stand. Es war eine Riesenaufgabe für einen einzelnen, das alles zu bewältigen, jetzt, wo all das Alte zusammenstürzte und das Neue erst geschaffen werden sollte, wo noch nichts sich fügte, nichts ineinander griff, aber Waldemar zeigte sich dieser Aufgabe gewachsen. Er war doch schließlich Sieger geblieben im Kampfe mit seinen Untergebenen; zwar die eigentliche Bevölkerung von Wilicza blieb ihm nach wie vor feindlich gesinnt; sie haßte fortgesetzt in ihm den Deutschen, aber auch sie hatte die Hand des Herrn fühlen und sich ihr beugen gelernt. Mit der Entfernung der Fürstin verlor der Ungehorsam seine stärkste Stütze, und mit dem Erlöschen des Aufstandes drüben im Nachbarlande sanken auch hier Trotz und Widerstand zusammen. Von ruhigen, geordneten Verhältnissen, wie sie auf den Gütern in andern Provinzen herrschten, war freilich noch keine Rede, dazu hätte es andrer Zeiten und Umgebungen bedurft, aber der Anfang war doch wenigstens gemacht, die Bahn gebrochen, und das übrige mußte der Zukunft aufbehalten bleiben.

Der Administrator Frank befand sich noch in Wilicza und hatte seine beabsichtigte Entfernung um ein Jahr hinausgeschoben. Er gab darin hauptsächlich dem Wunsche des Gutsherrn nach, dem viel daran lag, den tüchtigen, erfahrenen Mann noch eine Zeit lang zur Seite zu haben. Erst jetzt, wo das Notwendigste geordnet war, hatte Frank seine Entlassung genommen und zugleich den langgehegten Plan ausgeführt, sich selber anzukaufen. Das hübsche, gar nicht so unbedeutende Gut, das er erworben, lag in einer andern Provinz des Landes, in angenehmer Gegend und befand sich, im Gegensatz zu der »polnischen Wirtschaft«, die der Administrator zwanzig Jahre lang bekämpft hatte und die er so gründlich verabscheute, in durchaus geordneten, friedlichen Verhältnissen. Es sollte erst in zwei Monaten in die Hände des neuen Besitzers übergehen, und so lange blieb dieser noch in seiner alten Stellung.

Was Gretchen betraf, so hatte der Vater bei ihrer Verheiratung bewiesen, daß sie in der That sein Liebling war, ihre Mitgift übertraf all die Berechnungen, die Assessor Hubert so genau und gründlich für einen andern angestellt hatte. Die Hochzeit war schon im letzten Herbste gefeiert worden, und das neue Ehepaar lebte in I., wo Professor Fabian nun wirklich die ihm angebotene Stellung angenommen hatte, und wo »wir ganz außerordentliche Erfolge haben«, wie die Frau Professorin ihrem Vater schrieb. In der That überwand Fabian seine Scheu vor der Oeffentlichkeit weit schneller und besser, als er glaubte, und rechtfertigte all die Erwartungen, die man von dem so schnell berühmt gewordenen Verfasser der »Geschichte des Germanentums« hegte. Sein bescheidenes, liebenswürdiges Wesen, das im schärfsten Gegensatze zu der schroffen Selbstüberhebung seines Vorgängers stand, gewann ihm die allgemeine Sympathie, und seine junge hübsche Frau, die in ihrer reizenden, durch die Großmut des Vaters mit allen nur möglichen Annehmlichkeiten ausgestatteten Häuslichkeit so anmutig die Honneurs zu machen wußte, trug das Ihrige dazu bei, auch seine gesellschaftliche Stellung zu einer höchst angenehmen zu machen. Gegenwärtig wurde das junge Paar zu dem ersten Besuche im Vaterhause erwartet und sollte in den nächsten Wochen eintreffen.

Nicht so gut war es dem Assessor Hubert ergangen, obgleich ihm im Laufe des Jahres eine ganz unerwartete und ziemlich bedeutende Erbschaft zugefallen war, aber sie kostete ihm leider die Familienberühmtheit. Professor Schwarz war vor einigen Monaten gestorben, und da er unverheiratet war, ging sein Vermögen auf die nächsten Verwandten über. Die äußeren Verhältnisse Huberts hoben sich dadurch bedeutend, aber was half ihm das? Die Braut, auf deren Besitz er mit solcher Sicherheit gerechnet hatte, gehörte einem andern, und er selbst war noch immer nicht Regierungsrat und hatte auch vorläufig keine Aussicht, es zu werden, obwohl er sich im Amtseifer überstürzte, obwohl er jede Minute das Polizeidepartement von L. mit seinen sogenannten Entdeckungen alarmierte und alles aufgeboten hatte, um in diesem Revolutionsjahr auch für seinen eigenen Staat ein paar Hochverräter aufzugreifen, was ihm bekanntlich nicht gelungen war. Aber dieser Staat benahm sich in einer wahrhaft himmelschreienden Weise gegen seinen treuesten Diener. Er schien gar kein Verständnis für die Aufopferung und Hingebung desselben zu besitzen, sich vielmehr der Auffassung Franks anzuschließen, der in seiner derben Weise behauptete, der Assessor mache jetzt »eine Dummheit nach der andern« und werde sich damit noch für den ganzen Staatsdienst unmöglich machen. In der That wurde Hubert bei jeder Beförderung in einer so absichtsvollen Weise übergangen, daß die Kollegen zu sticheln anfingen; da reifte ein finsterer Entschluß in der Seele des Tiefbeleidigten. Die Schwarzsche Erbschaft machte ihn ja völlig unabhängig – weshalb sollte er noch länger Verkennung und Zurücksetzung ertragen, weshalb noch länger dieser undankbaren Regierung dienen, die seine glänzenden Fähigkeiten so beharrlich verkannte, während sie unbedeutende Menschen, wie den Doktor Fabian, zu den ehrenvollsten Stellungen berief und mit Auszeichnungen überhäufte?

Hubert sprach davon, seine Entlassung zu nehmen; er wiederholte das sogar in Gegenwart des Präsidenten und mußte die Kränkung erleben, daß dieser ihm mit vernichtender Freundlichkeit beistimmte. Seine Excellenz meinten, der Herr Assessor habe bei seinem Vermögen eine Anstellung ja gar nicht nötig und thue ganz recht, sich der anstrengenden Thätigkeit zu entziehen; er sei ohnehin etwas zu »nervös« für einen Beamten, von dem man doch in erster Linie Besonnenheit verlange. Der Wink war deutlich genug, Hubert fühlte etwas von dem Menschenhaß und der Weltverachtung seines berühmten Verwandten in sich, als er stehenden Fußes nach dieser Unterredung nach Hause ging, um sein Entlassungsgesuch aufzusetzen. Es wurde abgeschickt und auch wirklich angenommen. Noch waren der Staat und das Polizeidepartement von L. darüber nicht aus den Fugen gegangen, aber es geschah vielleicht noch nachträglich, wenn die Entlassung eine Thatsache wurde, was im nächsten Monat bevorstand. Der Assessor war viel zu sehr der Neffe seines Onkels, dessen verunglücktes Manöver er nachgeahmt hatte, um nicht auf den Eintritt eines solchen Ereignisses zu warten. –

Im Hofe von Rakowicz stand das Pferd des jungen Gutsherrn von Wilicza. Es geschah nur äußerst selten, daß er herübergeritten kam, und auch dann dauerten seine Besuche stets nur kurze Zeit. Die Kluft, welche ihn von seinen nächsten Verwandten trennte, wollte sich noch immer nicht schließen, die letzten Ereignisse schienen sie nur noch weiter aufgerissen zu haben.

Im Zimmer der Gräfin Morynska befand sich diese allein mit Waldemar. Wanda hatte sich sehr verändert; sie war wohl immer bleich gewesen, aber die Blässe hatte nichts gemein mit jener totenhaften Farbe, die jetzt ihr Antlitz deckte. Man sah es, was sie gelitten hatte in der Zeit, wo sie den so leidenschaftlich geliebten Vater im Kerker wußte, krank, dem Tode nahe, ohne ihn auch nur auf einen Augenblick sehen zu dürfen, als der Freiheitstraum, für den er sein Leben so begeistert in die Schanze geschlagen, den auch seine Tochter mit voller Seele umfaßte, für immer zu Ende ging. Die Todesangst bis zur Entscheidung dieses Doppelschicksals, das fortwährende Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung, die Aufregung bei den immer wiederholten Befreiungsversuchen, das alles hatte seine deutlichen Spuren hinterlassen. Wanda war eine jener Naturen, die mit verzweiflungsvoller Energie auch dem schwersten Unglücke standhalten, solange noch ein Schimmer von Hoffnung vorhanden ist, die aber, wenn dieser Schimmer erlischt, machtlos zusammenbrechen, und sie schien jetzt nahe bis an diesen Punkt gelangt zu sein. Für den Augenblick lag freilich noch eine fieberhafte Ueberreizung in ihrem Wesen, ein Zusammenraffen der letzten Kräfte, aber es waren eben auch die letzten.

Waldemar stand vor ihr, unverändert in seiner trotzigen Erscheinung, aber er schien wenig von der Schonung zu üben, die das Aussehen der jungen Gräfin so dringend forderte. Seine Haltung war eine beinahe drohende, und in seiner Stimme lag ein Gemisch von Zorn und Schmerz, als er zu ihr sprach:

»Ich bitte dich zum letztenmal: gib den Gedanken auf! Du gibst dir den Tod damit, ohne deinem Vater helfen zu können. Es ist nur eine Qual mehr für ihn, wenn er dich vor seinen Augen hinsterben sieht. Du willst ihm folgen in jene furchtbare Einöde, in jenes mörderische Klima, dem die Stärksten erliegen, du, die du von Jugend auf verwöhnt, mit allem umgeben worden bist, was das Leben nur Angenehmes zu bieten vermag, willst dich jetzt den schlimmsten Entbehrungen aussetzen. Was die stählerne Natur des Grafen vielleicht noch aushält, dem erliegst du in den ersten Monaten. Frage den Arzt, frage dein eigenes Aussehen, und sie werden dir sagen, daß du nicht das nächste Jahr dort erlebst!«

»Glaubst du, daß mein Vater es erlebt?« entgegnete Wanda mit bebender Stimme. »Wir hoffen und verlangen ja auch nichts mehr vom Leben, aber wir wollen wenigstens zusammen sterben.«

»Und ich?« fragte Waldemar mit bitterem Vorwurf.

Sie wandte sich ab, ohne zu antworten.

»Und ich?« wiederholte er heftiger. »Was wird aus mir?«

»Du bist wenigstens frei. Du hast das Leben noch vor dir. Trage es! Ich habe noch schwerer zu tragen.«

Waldemar wollte auffahren; ein Blick auf das bleiche, schmerzdurchwühlte Antlitz verbot ihm das. Er zwang sich zur Ruhe.

»Wanda, als wir uns vor einem Jahre endlich fanden, da stand das Wort zwischen uns, das du meinem Bruder gegeben hattest. Ich hätte dich ihm abgerungen um jeden Preis, aber es kam nicht dazu. Sein Tod hat die Schranke niedergerissen, und was jetzt auch von außen herandrohen mag, sie ist nieder zwischen uns. An Leos frischem Grabe, in jener Zeit, wo das Todesschwert täglich über dem Haupte deines Vaters hing, habe ich es nicht gewagt, dir von Liebe, von Vereinigung zu sprechen, habe es über mich gewonnen, dich nur selten und flüchtig zu sehen. Du und die Mutter, ihr ließet mir ja bei jedem Besuche in Rakowicz fühlen, daß ich von euch immer noch als Feind betrachtet werde, aber ich hoffte auf die Zukunft, auf bessere Zeiten – und nun trittst du mir mit einem solchen Entschluß entgegen. Begreifst du denn nicht, daß ich dagegen kämpfen werde bis zum letzten Atemzuge? ›Wir wollen zusammen sterben.‹ Das ist leicht gesagt und auch leicht gethan, wenn man wie Leo von einer Kugel mitten ins Herz getroffen wird. Hast du dir schon klar gemacht, was der Tod in der Verbannung ist? Dieses langsame Dahinsterben, dieser monatelange Todeskampf unter Entbehrungen, die den Geist brechen, noch ehe sie den Körper vernichten, fern vom Vaterlande, abgeschnitten von der Welt und ihren Interessen, von jedem geistigen Lebenshauche, der dir so notwendig ist wie die Luft zum Atmen, erdrückt werden, ersticken unter der Last des Elends! – Und du verlangst von mir, daß ich es ertrage, daß ich es geschehen lasse, wenn du dich freiwillig einem solchen Lose weihst?«

Es ging ein leiser Schauer durch die Gestalt der jungen Gräfin. Sie mochte wohl die Wahrheit seiner Schilderung empfinden, aber sie verharrte in ihrem Schweigen.

»Und dein Vater nimmt dieses unglaubliche Opfer an,« fuhr Waldemar in immer wilderer Erregung fort, »und meine Mutter läßt es zu. Freilich, es gilt ja, dich meinen Armen zu entreißen; um den Preis weihen sie dich selbst dem Lebendigbegrabenwerden. Wäre ich an Leos Stelle gefallen, und den Grafen hätte das jetzige Schicksal ereilt, so hätte er dir befohlen zu bleiben, so würde meine Mutter mit vollster Energie die Rechte ihres Sohnes vertreten und dich zurückgehalten haben; jetzt haben sie dir selbst den Märtyrergedanken eingegeben, obgleich sie wissen, daß er dir den Tod bringt, aber er macht ja jede Verbindung zwischen uns auch für die fernste Zukunft unmöglich; und das ist ihnen genug.«

»Laß die Bitterkeit!« unterbrach ihn Wanda. »Du thust den Meinigen unrecht damit; ich gebe dir mein Wort, daß ich den Entschluß allein gefaßt habe. Mein Vater steht an der Schwelle des Greisenalters; die Wunden, die lange Gefangenschaft, mehr als das alles unsre Niederlage haben ihn geistig und körperlich gebrochen. Ich bin das einzige, was ihm geblieben ist, das letzte Band, das ihn noch an das Leben knüpft – ich gehöre zu ihm. Was du vorhin so furchtbar schildertest, das ist sein Los. Glaubst du, ich könnte auch nur eine Stunde ruhig an deiner Seite leben, wenn ich wüßte, daß er allein und verlassen einem solchen Schicksal entgegengeht, daß ich selbst ihm den bittersten Schmerz seines Lebens bereite durch die Vermählung mit dir, den er doch nun einmal als Feind betrachtet? Das einzige, was ich jenem erbarmungslosen Urteilsspruche abringen konnte, war die Erlaubnis, den Vater zu begleiten, und auch das habe ich nur mit Mühe erreicht. Ich wußte, daß es einen schweren Kampf mit dir geben würde; wie schwer er ist, das zeigst du mir erst jetzt. Schone mich, Waldemar! Ich habe nicht viel Kraft mehr übrig.«

»O nein, für mich nicht!« sagte Waldemar bitter. »Was du an Kraft und Liebe besitzest, das gehört allein deinem Vater; was aus mir wird, wie ich die Trennung ertrage, danach fragst du nicht. Ich war ein Thor, als ich der Aufwallung glaubte, die dich damals im Momente der Todesgefahr in meine Arme warf. Nur einen Augenblick lang warst du mir Wanda; als ich dich am nächsten Tage wiedersah, hörte ich schon wieder die Gräfin Morynska aus dir sprechen, und sie spricht auch heute zu mir. Meine Mutter hat recht: Eure nationalen Vorurteile sind das Lebensblut, mit dem ihr genährt seid von Jugend auf, von denen ihr nicht lassen könnt, ohne das Leben selbst zu lassen; denen opferst du uns beide; denen opfert dein Vater sein einziges Kind. Er hätte nun und nimmermehr deine Begleitung angenommen, wenn es ein Pole wäre, der dich liebte. Da ich es bin, willigt er in alles, was dich von mir reißt. Wenn er dich nur vor dem Schicksale bewahrt, einem Deutschen anzugehören, wenn er nur dem alten Nationalhasse seine Schuld abträgt! Könnt ihr Polen denn nur hassen und nichts als hassen, selbst über Tod und Grab hinaus?«

»Wäre mein Vater frei,« sagte Wanda tonlos, »ich hätte vielleicht den Mut gefunden, ihm und allem zu trotzen, was du Vorurteil nennst, um deinetwillen. Jetzt kann ich es nicht, und« – hier flammte ihre ganze Energie wieder auf – »jetzt will ich es auch nicht, denn es wäre Verrat an meiner Kindespflicht. Ich gehe mit ihm, und müßte ich wirklich sterben daran. Ich lasse ihn nicht allein in seinem Unglück.«

Die Art, wie sie die letzten Worte sprach, zeigte, daß ihr Entschluß nicht zu erschüttern war, und auch Waldemar schien das einzusehen. Er gab den Widerstand auf.

»Wann willst du abreisen?« fragte er nach einer Pause.

»Im nächsten Monat. Ich darf den Vater erst wiedersehen, wenn ich in O. mit ihm zusammentreffe; dann wird es wohl auch der Tante erlaubt werden, ihn noch einmal zu sprechen. Sie begleitet mich bis O. Du siehst, wir brauchen nicht heute und jetzt voneinander Abschied zu nehmen. Es sind noch Wochen bis dahin. Aber versprich mir, inzwischen nicht nach Rakowicz zu kommen, nicht wieder so auf mich einzustürmen, wie du es heute thatest! Ich brauche meinen ganzen Mut zur Trennungsstunde, und du nimmst ihn mir mit deiner Verzweiflung. Wir sehen uns ja noch einmal wieder; bis dahin – lebe wohl!«

»Lebe wohl!« sagte er kurz, beinahe rauh, ohne sie anzusehen, ohne die Hand zu nehmen, die sie ihm reichte.

»Waldemar!« Es lag ein ergreifender Vorwurf in ihrem Tone, aber er blieb machtlos gegen die wilde Gereiztheit des jungen Mannes. Zorn und Angst, die Geliebte zu verlieren, überwogen bei ihm jedes Gerechtigkeitsgefühl.

»Du magst ja recht haben,« sagte er in seinem herbsten Tone, »aber ich kann mich nun einmal in diese erhabene Aufopferung nicht finden, und am allerwenigsten vermag ich sie zu teilen. Meine ganze Natur sträubt sich dagegen. Da du aber darauf bestehst, da du die Trennung unwiderruflich über uns verhängst, so muß ich zusehen, wie ich mit meinem Schicksal fertig werde. Klagen kann ich nicht – das weißt du. Meine Bitterkeit verletzt dich höchstens; also ist es besser, ich schweige ganz. Leb wohl, Wanda!«

Wanda schien mit sich selber zu kämpfen. Sie wußte, daß es nur einer Bitte aus ihrem Munde bedurfte, um seinen Trotz in Weichheit umzuwandeln, aber das hieß nur den eben bestandenen Kampf wieder erneuern, den so schwer errungenen Sieg wieder in Frage stellen. Sie schwieg, neigte nach einem sekundenlangen Zögern nur leise das Haupt gegen ihn und verließ das Zimmer.

Waldemar ließ es geschehen, daß sie ging. Er stand abgewendet am Fenster. In seinem Gesichte kämpften alle möglichen bitteren Empfindungen miteinander, nur Entsagung, welche die Geliebte von ihm forderte, war dort nicht zu lesen. Die Stirn gegen die Scheiben gedrückt, verharrte er lange in dieser Stellung und sah erst auf, als sein Name genannt wurde.

Es war die Fürstin, die unbemerkt eingetreten war. Was hatte das letzte Jahr mit seinen Schicksalsschlägen aus dieser Frau gemacht! Als der Sohn sie damals in C. wiedersah, zum erstenmal nach langen Jahren, hatte sie gleichfalls einen schweren Verlust erlitten, auch damals trug sie die Trauerkleidung wie jetzt. Aber der Tod des Gemahls hatte es nicht vermocht, diese energische Natur zu beugen; sie war sich klar der Pflichten bewußt, welche die Witwe wie die Mutter zu erfüllen hatte; sie entwarf und vollführte mit fester Hand den neuen Lebensplan, der sie auf eine Zeit lang zur gebietenden Herrin von Wilicza machte. Der Schmerz um den Gatten wurde überwunden, weil es notwendig war, weil andre Aufgaben an seine Witwe herantraten, als nur die, ihn zu betrauern, und Fürstin Jadwiga hatte von jeher die beneidenswerte Fähigkeit besessen, selbst ihre Gefühle der Notwendigkeit unterzuordnen.

Jetzt war das anders geworden. Zwar die Haltung der Trauernden war noch aufrecht, und der erste flüchtige Eindruck ihrer Erscheinung zeigte kaum eine auffallende Veränderung, wer aber nur einen tieferen Blick in ihr Antlitz that, der wußte, was Leo Baratowskis Tod seiner Mutter gekostet hatte. Es lag eine starre, tote Ruhe in diesen Zügen, aber es war nicht die der Fassung und Ergebung, nur die Todesruhe dessen, der nichts mehr zu hoffen und nichts mehr zu verlieren hat, den das Leben mit seinen Interessen nicht ferner berührt. Die einst so gebietenden Augen blickten matt und umflort; in die Stirn, vor einem Jahre noch so klar und stolz, gruben sich tiefe, gramvolle Furchen, und das dunkle Haar zeigte sich an einzelnen Stellen ergraut. Man sah es, der Schlag, der das Herz wie den Stolz der Mutter gleich tödlich getroffen, war ihr bis ans innerste Leben gegangen, und die Niederlage ihres Volkes, das Schicksal ihres Bruders, den sie nach Leo am meisten auf der Welt liebte, hatten das übrige gethan, um diese einst so unbeugsame und unerschütterliche Kraft zu brechen.

»Hast du wieder einmal auf Wanda eingestürmt?« sagte sie – auch die Stimme war verändert; sie hatte einen matten, gebrochenen Klang. »Du weißt doch, daß es vergebens ist.«

Waldemar wandte sich um. Sein Gesicht hatte sich noch nicht aufgehellt; die ganze frühere Gereiztheit lag noch darauf, als er finster erwiderte: »Jawohl, es war vergebens.«

»Ich sagte es dir vorher. Wanda ist keine von den Frauen, die sich heute versagen und morgen in deine Arme werfen. Als sie den Entschluß erst einmal gefaßt hatte, war er auch unwiderruflich. Du solltest das doch endlich einsehen – statt dessen reißest du sie immer wieder zurück in die nutzlosen Kämpfe. Du bist es, der schonungslos gegen sie verfährt, du allein.«

»Ich?« fragte Waldemar in beinahe drohendem Tone. »Und wer war es denn, der ihr den Entschluß eingegeben hat?« Das Auge der Fürstin begegnete fest und ernst dem ihres Sohnes. »Niemand!« entgegnete sie. »Ich, das weißt du, habe es längst aufgegeben, zwischen euch beide zu treten; ich habe meine Machtlosigkeit eurer Leidenschaft gegenüber zu bitter empfinden müssen, als daß ich das noch ferner versuchen sollte. Aber ich kann und will Wanda auch nicht zurückhalten. Mein Bruder hat nichts mehr auf der Welt als sie allein. Sie thut nur ihre Pflicht, wenn sie ihm folgt.«

»Um zu sterben!« ergänzte Waldemar.

Die Fürstin hatte sich niedergelassen und stützte den Kopf in die Hand. »Der Tod ist uns in dieser letzten Zeit zu oft nahe getreten, als daß ihn noch einer von uns fürchten sollte. Wen das Schicksal so Schlag auf Schlag trifft, wie es uns getroffen, der lernt sich selbst mit dem Schlimmsten vertraut machen, und auch Wanda hat das gelernt. Wir haben nichts mehr zu verlieren – darum fürchten wir auch nichts mehr. Dieses unselige Jahr hat mehr Hoffnungen vernichtet, als nur die deinigen, es hat so unendlich viele in Blut und Thränen zu Grabe getragen – da wirst du es wohl ertragen müssen, wenn es auch dein Lebensglück in Trümmer schlägt.«

»Ihr würdet es mir auch nicht verzeihen, wenn ich mir mein Glück aus den Trümmern eurer Hoffnungen rettete,« sagte Waldemar bitter. »Ihr könnt unbesorgt sein! Ich habe es heute eingesehen, daß Wanda nicht zu bewegen ist; sie bleibt unwiderruflich bei ihrem Nein.«

»Und du?«

»Nun, ich füge mich.«

Die Fürstin sah ihn einige Sekunden prüfend an.

»Was hast du vor?« fragte sie plötzlich.

»Nichts. Du hörst es ja, ich gebe die Hoffnung auf und füge mich dem Unvermeidlichen.«

Das Auge der Mutter ruhte noch immer auf seinem Gesicht. »Du fügst dich nicht – oder ich müßte meinen Sohn nicht kennen. Ist das etwa Entsagung, die auf deiner Stirn geschrieben steht? Du hast etwas vor, irgend etwas Unsinniges, Gefährliches. Nimm dich in acht! Es ist Wandas eigener Wille, der dir entgegensteht – sie läßt sich nicht zwingen, auch von dir nicht!«

»Das werden wir sehen,« versetzte der junge Mann kalt; er gab das Leugnen auf, als er sich durchschaut sah. »Uebrigens darfst du ganz ruhig sein. Es mag ja unsinnig sein, was ich vorhabe, aber wenn eine Gefahr dabei ist, so trifft sie mich allein, und es ist höchstens mein Leben, das auf dem Spiele steht.«

»Höchstens dein Leben?« wiederholte die Fürstin. »Und das sagst du deiner Mutter zum Troste?«

»Verzeih, aber ich meine, das kann für dich doch jetzt nicht mehr in Betracht kommen, seitdem du deinen Leo verloren hast.«

Das Auge der Fürstin heftete sich auf den Boden. »Seit jener Stunde hast du es mich empfinden lassen, daß ich kinderlos bin,« sagte sie leise.

»Ich?« fuhr Waldemar auf. »Hätte ich dich vielleicht halten sollen, als du Wilicza verließest? Ich wußte ja, daß du nur meine Nähe flohest, daß mein Anblick der Stachel war, den du nicht ertragen konntest. – Mutter,« – er trat ihr unwillkürlich näher und mitten durch die Schonungslosigkeit seiner Worte wehte etwas wie herber Schmerz – »als du damals so fassungslos an der Leiche meines Bruders zusammenbrachest, habe ich es nicht gewagt, dir ein Wort des Trostes zu sagen, und wage es noch heute nicht, ich war ja stets ein Fremder, ein Ausgestoßener in deinem Herzen, für mich war ja niemals Raum darin. Ich bin nach Rakowicz gekommen, weil ich nicht leben konnte, ohne Wanda zu sehen. Dich suchte ich nicht, so wenig wie du mich gesucht hast in dieser Zeit der Trauer, aber ich trage wahrlich nicht die Schuld der Entfremdung zwischen uns. Rechne es mir nicht an, wenn ich dich in den bittersten Stunden deines Lebens allein ließ!«

Die Fürstin hatte schweigend zugehört, ohne ihn zu unterbrechen, aber ihre Lippen zuckten wie in innerem Krampfe, als sie antwortete:

»Wenn ich deinen Bruder mehr geliebt habe als dich, so habe ich ihn auch verlieren müssen, und wie verlieren! Daß er fiel, hätte ich ertragen, ich sandte ihn ja selbst hinaus in den Kampf für sein Vaterland, daß er so fallen mußte –« Die Stimme versagte ihr; sie rang nach Atem, und es dauerte einige Sekunden, ehe sie fortfahren konnte. »Ich habe meinen Leo gehen lassen, ohne ein Wort der Verzeihung, ohne das letzte Lebewohl, um das er auf den Knieen flehte, und an demselben Tage legten sie ihn mit durchschossener Brust zu meinen Füßen. Das einzige, was ich noch von ihm habe, sein Andenken, ist mir auf ewig verknüpft mit jener unglückseligen That, welche die Unsrigen ins Verderben riß. Die Sache meines Volkes ist verloren, mein Bruder geht einem Schicksal entgegen, das schlimmer ist als der Tod; Wanda folgt ihm – ich stehe ganz allein. Ich dächte, Waldemar, du könntest zufrieden sein mit der Art, wie das Schicksal dich gerächt hat.«

Es lag etwas Furchtbares in der Klanglosigkeit der Stimme, in der Starrheit ihrer Züge; es war ergreifender als der Ausbruch des wildesten Schmerzes. Auch Waldemar vermochte nicht sich diesem Eindruck zu entziehen; er beugte sich zu ihr nieder.

»Mutter,« sagte er bedeutsam, »noch ist der Graf in seinem Vaterlande, und noch ist Wanda hier. Sie hat mir heute unbewußt selbst den Weg gezeigt, auf dem sie allein noch zu gewinnen ist. Ich werde ihn gehen.«

Die Fürstin schreckte empor. Ihr Blick suchte mit banger, angstvoller Frage den seinigen – sie las die Antwort darin.

»Du wolltest versuchen–?«

»Was ihr versucht habt. Ihr seid daran gescheitert – ich weiß es – vielleicht gelingt es mir.«

In dem Antlitz der Fürstin schien es wie ein Hoffnungsstrahl aufzuflammen, aber er verlosch sofort wieder – sie schüttelte den Kopf.

»Nein, nein, das unternimm nicht! Es ist vergebens. Und wenn ich dir das sage, wirst du wohl überzeugt sein, daß versucht worden ist, was nur im Bereiche der Möglichkeit lag. Wir haben alles aufgeboten und alles umsonst. Pawlick hat seine Treue mit dem Leben bezahlt.«

»Pawlick war ein Greis,« versetzte Waldemar, »und überdies eine vorsichtige, ängstliche Natur. Er besaß wohl Aufopferung genug, aber nicht die nötige Umsicht, nicht im entscheidenden Augenblicke die nötige Tollkühnheit. So etwas erfordert Jugend, Verwegenheit und vor allen Dingen ein volles persönliches Eintreten.«

»Und die vollste persönliche Gefahr! Wir haben es erfahren, wie sie dort drüben Grenzen und Gefangene bewachen. Waldemar, soll ich auch dich noch verlieren?«

Waldemar sah sie erstaunt und befremdet bei den letzten Worten an, die wie ein Aufschrei des Schmerzes klangen, aber trotzdem flammte eine helle Röte in seinem Gesichte auf.

»Es gilt die Freiheit deines Bruders,« erinnerte er.

»Bronislaw ist nicht mehr zu retten,« sagte die Fürstin hoffnungslos. »Setze dein Leben nicht auch noch an unsre verlorene Sache! Sie hat genug Opfer gekostet. Denke an Pawlicks Schicksal, an den Fall deines Bruders!« Sie ergriff seine Hand und schloß sie fest in die ihrige. »Ich lasse dich nicht fort. Es war Vermessenheit, wenn ich vorhin sagte, ich hätte nichts mehr zu verlieren; in diesem Augenblicke fühle ich, daß mir doch noch eins geblieben ist. Ich will mein letztes, mein einziges Kind nicht auch noch hingeben – geh nicht, mein Sohn! Deine Mutter bittet dich darum.«

Das war endlich der Ton, die Sprache des Mutterherzens, die Waldemar noch nie von diesen Lippen gehört hatte. Auch für die stolze, willensstarke Frau war die Stunde gekommen, wo sie alles um sich zusammenbrechen sah und sich verzweiflungsvoll an das einzige klammerte, welches das Schicksal ihr noch gelassen hatte. Der verstoßene, zurückgesetzte Sohn trat endlich in seine Rechte; freilich hatte sich erst das Grab für seinen Bruder öffnen müssen, um ihn in diese Rechte einzusetzen.

Eine andre Mutter und ein andrer Sohn wären sich jetzt wohl in die Arme gesunken, um in aufwallender Zärtlichkeit die lange, tiefe Entfremdung zu vergessen. Diese beiden Naturen waren zu hart und in ihrer Härte einander zu ähnlich, als daß sie sich so schnell hätten wiederfinden sollen. Waldemar sprach kein Wort, aber er zog, zum erstenmal in seinem Leben – die Hand der Mutter an seine Lippen, die lange und fest darauf ruhten.

»Du bleibst?« bat die Fürstin.

Er richtete sich empor. Die helle Röte lag noch auf seinem Gesichte, aber die wenigen Minuten hatten es völlig umgewandelt. Groll und Bitterkeit waren verschwunden; es leuchtete wohl noch Trotz daraus hervor, aber ein freudiger, siegesgewisser Trotz, der bereit ist, das Schicksal in die Schranken zu fordern.

»Nein,« entgegnete er, »ich gehe. Aber ich danke dir für diese Worte – sie machen mir das Wagnis leicht. Ihr habt mich von jeher als euren Feind betrachtet, weil ich zu euren Plänen nicht die Hand bot; ich konnte und kann das auch jetzt nicht, aber den Grafen einem unmenschlichen Urteilsspruche zu entreißen, verbietet mir nichts. Ich will es wenigstens versuchen, und wenn irgend einer, so vollbringe ich es. Du kennst den Sporn, der mich treibt.«

Die Fürstin gab ihren Widerstand auf – sie konnte dieser Zuversicht gegenüber nicht ganz hoffnungslos bleiben.

»Und Wanda?« fragte sie.

»Sie hat mir heute gesagt: ›Wenn mein Vater frei wäre, ich würde den Mut finden, allem zu trotzen, um deinetwillen.‹ Sage ihr, ich würde sie vielleicht einst an diese Worte erinnern! Und nun frage mich nicht weiter, Mutter! Du weißt es ja, ich muß allein handeln, denn nur ich stehe außer Verdacht; ihr seid beargwohnt und beobachtet. Jeder Schritt, den ihr thut, verrät das Unternehmen; jede Nachricht, die ich euch sende, gefährdet es. Legt es in meine Hände – und nun lebe wohl! Ich muß fort – wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Er berührte noch einmal flüchtig die Hand der Mutter mit seinen Lippen und eilte dann fort. Die Fürstin empfand den schnellen, kurzen Abschied fast schmerzlich; sie trat an das Fenster, um dem Fortreitenden noch einen Gruß nachzuwinken, aber sie wartete vergebens darauf, daß er zu ihr emporblicken sollte. Wohl suchten seine Augen ein Fenster des Schlosses, als er langsam und zögernd aus dem Hofe ritt, aber es war nicht das ihrige. Sie hingen so fest und beharrlich an Wandas Erkerzimmer, als müsse dieser Blick die Kraft haben, die Geliebte zum Abschiedsgruße heranzuzwingen. Um ihretwillen ging er ja doch allein in das Wagnis, die Mutter, die eben geschlossene Versöhnung, das alles versank, sobald es sich um seine Wanda handelte.

Und er erreichte es in der That, sie noch einmal zu sehen. Die junge Gräfin mußte wohl im Erkerfenster erschienen sein, denn Waldemars Gesicht leuchtete plötzlich auf, als habe ein Sonnenstrahl es berührt. Er warf einen Gruß hinauf, dann gab er seinem Normann die Zügel und flog, schnell wie der Sturmwind, aus dem Schloßhofe.

Die Fürstin stand noch immer an ihrem Platze und sah ihm nach; zu ihr hatte er nicht zurückgeblickt; sie war vergessen, und mit diesem Gedanken senkte sich auch zum erstenmal jener Stachel in ihre Seele, den der Sohn so oft gefühlt hatte, wenn er ihre Zärtlichkeit gegen Leo sah. Und doch drängte sich ihr gerade in diesem Augenblicke unwiderstehlich die Ueberzeugung auf, der sie bisher immer noch nicht ganz hatte Raum geben wollen, daß gerade ihr Erstgeborener das Erbteil besaß, das dem jüngsten Lieblingssohne von jeher gefehlt hatte, die unbeugsame Kraft und Energie der Mutter, daß er auch in Geist und Charakter Blut von ihrem Blute war.


 << zurück weiter >>