Vineta
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Es war in den Vormittagsstunden. In dem Balkonzimmer der Villa, welche die Baratowskische Familie in C. bewohnte, befand sich augenblicklich nur die Fürstin. Sie war in einen Brief vertieft, den sie vor einer Stunde empfangen hatte, er enthielt Waldemars Anzeige, daß er heute kommen werde und seinem Boten auf dem Fuße folge. Die Mutter blickte so unverwandt auf das Schreiben nieder, als wolle sie aus den kurzen kalten Worten, oder aus den Schriftzügen den Charakter des Sohnes herauslesen, der ihr so gänzlich fremd geworden war. Seit ihrer zweiten Vermählung hatte sie ihn nur selten und flüchtig gesehen, und seit sie in Frankreich lebte, hatte fast jeder Verkehr zwischen ihnen aufgehört. Das Bild, das sie von dem zehnjährigen Knaben noch deutlich in der Erinnerung trug, war abstoßend genug, und was sie über den Jüngling in Erfahrung gebracht, stimmte nur zu sehr damit überein. Trotzdem galt es, sich den Einfluß auf ihn um jeden Preis zu sichern, und die Fürstin war nicht die Frau, vor einer Aufgabe zurückzuschrecken, deren Schwierigkeiten sie sich keineswegs verhehlte. Sie war aufgestanden und ging nachdenkend im Gemache auf und nieder, als ein rascher lauter Schritt im Vorzimmer sie innehalten ließ. Gleich darauf öffnete Pawlick die Thür und meldete »Herrn Waldemar Nordeck«. Dieser trat ein. Die Thür schloß sich wieder hinter ihm, und Mutter und Sohn standen einander gegenüber.

Waldemar that noch einige Schritte vorwärts und blieb dann plötzlich stehen. Die Fürstin war im Begriff, ihm entgegenzugehen, aber auch sie hemmte ihren Schritt. Es war, als ob gleich im ersten Momente des Wiedersehens sich eine endlose Kluft zwischen den beiden öffne, als ob alles, was jemals Feindseliges und Fremdes zwischen ihnen gelegen, sich wieder aufbäume – dieses sekundenlange Schweigen und Fernhalten sprach deutlicher als Worte; es zeigte, daß weder in dem Herzen der Mutter noch in dem des Sohnes sich eine einzige Stimme regte. Die Fürstin überwand die Zurückhaltung zuerst. »Ich danke dir, mein Sohn, daß du gekommen bist,« sagte sie, ihm die Hand entgegenstreckend.

Waldemar kam langsam näher; er berührte die dargebotene Hand nur einen Augenblick lang und ließ sie dann sofort wieder fallen. Der Versuch zu einer Umarmung wurde von keiner Seite gemacht. Die Gestalt der Fürstin war trotz der dunkeln Trauerkleidung imponierend schön, als sie so, vom hellen Sonnenschein umflossen, dastand, aber das schien nicht den geringsten Eindruck auf den jungen Mann zu machen, obgleich er sie unverwandt ansah. Auch der Blick der Mutter haftete auf seinem Gesicht, aber sie suchte vergebens nach einem einzigen Zuge, der ihr angehörte oder wenigstens an sie erinnerte. Nichts trat ihr dort entgegen, als die sprechende Aehnlichkeit mit dem Manne, den sie noch im Tode haßte – der Sohn war das Ebenbild seines Vaters, Zug für Zug. Ich hoffte sicher auf dein Erscheinen,« fuhr die Fürstin fort, indem sie sich niederließ und ihm mit einer Handbewegung den Platz an ihrer Seite anwies, Waldemar blieb trotzdem stehen.

»Willst du dich nicht setzen?« Die Frage klang sehr ruhig, aber sie ließ keine Verneinung zu und erinnerte den jungen Nordeck daran, daß er füglich nicht während des ganzen Besuches stehen bleiben könne, aber die erneute Handbewegung blieb unbeachtet. Er zog einen Sessel heran und setzte sich der Mutter gegenüber. Der Platz an ihrer Seite blieb leer.

Die Bewegung war unzweideutig. Einen Augenblick lang preßten sich die Lippen der Fürstin fester aufeinander, aber ihr Gesicht blieb unbewegt. Waldemar saß jetzt gleichfalls im vollen Tageslichte. Er trug auch heute eine Art Jagdanzug, der freilich diesmal nicht Spuren der Jagd zeigte, aber auch keine besondere Sorgfalt verriet und von einer eleganten Reitkleidung himmelweit verschieden war. In der Linken, die wie die Rechte ohne Handschuhe war, hielt er den runden Hut und die Reitpeitsche. Die Stiefel trugen noch den ganzen Staub eines zweistündigen Rittes; der Reiter hatte es nicht für nötig befunden, ihn zuvor abzuschütteln, und die Art, wie er sich setzte, verriet die vollste Unbekanntschaft mit den Gewohnheiten des Salons. Die Mutter sah das alles mit einem einzigen Blicke, aber sie sah auch den starren Trotz, mit dem ihr Sohn sich gewaffnet hatte. Er leuchtete deutlich genug aus seinen Augen; leicht war ihre Aufgabe nicht, das fühlte sie.

»Wir sind uns fremd geworden, Waldemar,« begann sie, »und ich kann bei diesem ersten Wiedersehen von dir noch nicht die Umarmung des Sohnes verlangen. Ich habe dich ja seit deiner Kindheit fremden Händen überlassen müssen. Man hat der Mutter nie erlaubt, ihre Pflichten und ihre Rechte bei dir auszuüben.«

»Ich habe bei meinem Onkel Witold nichts vermißt,« entgegnete Waldemar herb. »Und jedenfalls war ich bei ihm heimischer, als ich im Hause des Fürsten Baratowski gewesen wäre.«

Er betonte den Namen mit einer Bitterkeit, die der Fürstin nicht entging.

»Fürst Baratowski ist tot,« sagte sie ernst. »Du siehst seine Witwe vor dir.«

Waldemar sah auf. Er schien erst jetzt ihre Trauerkleidung zu bemerken. »Das bedaure ich – um deinetwillen,« erwiderte er kalt.

Die Mutter machte eine abwehrende Bewegung. »Laß das! Du hast den Fürsten nie gekannt, und ich kann von dir keine Sympathie für den Mann erwarten, der mein Gemahl hieß. Aber ich verhehle mir nicht, daß der Verlust, der mich so schwer getroffen, eine Schranke niederreißt, die bisher trennend zwischen uns stand. Du hast stets in mir nur die Fürstin Baratowska sehen wollen. Vielleicht erinnerst du dich jetzt, daß sie auch deine Mutter, die Witwe deines Vaters ist.«

Bei den letzten Worten erhob sich Waldemar mit einer so ungestümen Bewegung, daß der Sessel zurückflog. »Ich denke, wir lassen das ruhen. Ich bin gekommen, um dir zu zeigen, daß ich keinem Zwange gehorche, daß ich nur meinem eigenen Willen folge. Du hast mich sprechen wollen – hier bin ich. Was willst du von mir?«

Die ganze Rücksichtslosigkeit und Rauheit des jungen Mannes sprach aus diesen Worten. Die Hindeutung auf seinen Vater hatte ihn offenbar tief verletzt, aber auch die Fürstin hatte sich erhoben und stand ihm gegenüber.

»Was ich von dir will? Ich will den Bannkreis durchbrechen, den ein mir feindseliger Einfluß um dich gezogen hat. Ich will dich daran mahnen, daß es jetzt Zeit für dich ist, mit eigenen Augen zu sehen und dein eigenes Urteil sprechen zu lassen, statt blindlings fremden Anschauungen zu folgen, die man dir aufdrängte. Man hat dich die Mutter hassen gelehrt, ich wußte es längst. Prüfe erst, ob sie diesen Haß verdient, und dann entscheide selbst! Das will ich von dir, mein Sohn, da du mich denn doch zwingst, dir auf eine solche Frage zu antworten.«

Das wurde mit einer so energischen Ruhe, mit einem so unnahbaren Stolze gesprochen, daß es seinen Eindruck auf Waldemar nicht verfehlte. Er fühlte, daß er die Mutter beleidigt hatte, aber er fühlte auch, daß diese Beleidigung machtlos an ihr abglitt, und der Appell an seine Selbständigkeit verhallte keineswegs ungehört.

»Ich trage keinen Haß gegen dich, Mutter,« sagte er. Es war das erste Mal, daß er den Mutternamen überhaupt aussprach.

»Aber auch kein Vertrauen,« entgegnete sie. »Und doch ist dies das erste, was ich von dir fordern muß. Es wird dir nicht leicht – ich weiß es; man hat ja von frühester Kindheit an den Samen des Mißtrauens in deine Seele gesäet. Dein Vormund hat das möglichste gethan, dich mir zu entfremden und dich einzig an sich zu ketten. Ich furchte nur, seine Erziehung war die am wenigsten geeignete für den Erben von Wilicza.«

Der Blick, der dabei über den jungen Mann hinglitt, ergänzte die Worte; leider wurde er nur zu gut verstanden und reizte ebendeshalb aufs äußerste.

»Ich dulde keinen Vorwurf gegen meinen Onkel Witold,« brach Waldemar mit mildem Jähzorn los. »Er ist mir ein zweiter Vater gewesen, und wenn ich nur hierher gerufen worden bin, um Angriffe gegen ihn zu hören, so ist es besser, ich gehe gleich auf der Stelle wieder. Wir werden uns doch nie verstehen.«

Die Fürstin sah, welchen Fehler sie gemacht hatte, als sie ihrer Feindseligkeit gegen den gehaßten Vormund die Zügel schießen ließ, aber es war nun einmal geschehen. Nachgeben hieß hier ihre ganze Autorität aufs Spiel setzen. Sie fühlte, daß sie das unter keiner Bedingung thun durfte, und doch hing für sie alles an dem Bleiben Waldemars.

Da kam ihr die Hilfe von einer Seite, von welcher sie dieselbe wohl am wenigsten erwartete. Gerade im entscheidenden Augenblicke öffnete sich eine Seitenthüre, und Wanda, die soeben von einem Spaziergange mit dem Vater zurückkam und keine Ahnung von dem inzwischen eingetroffenen Besuch hatte, trat in das Zimmer.

Waldemar war wirklich im Begriffe zu gehen, aber er blieb auf einmal wie angewurzelt stehen. Es war, als ob eine Flamme in seinem Antlitz aufschlage, so jäh und heftig rötete es sich. Zorn und Trotz, die eben noch daraus hervorleuchteten, verschwanden urplötzlich, und er stand einen Moment lang ganz fassungslos da, die Augen starr auf die junge Gräfin gerichtet. Diese wollte sich zurückziehen, als sie einen Fremden bei ihrer Tante erblickte, als dieser Fremde ihr aber das Gesicht zuwendete, entfloh auch ihr ein halblauter Ausruf der Überraschung. Wanda ihrerseits verlor zwar die Fassung durchaus nicht und geriet auch nicht im mindesten in Verlegenheit, dagegen schien sie ein ganz unwiderstehlicher Lachreiz anzuwandeln, den sie nur mit Mühe unterdrückte. Zum Zurücktreten war es jetzt jedenfalls zu spät; sie schloß deshalb die Thür hinter sich und kam näher.

»Mein Sohn, Waldemar Nordeck – meine Nichte, Gräfin Morynska,« sagte die Fürstin, indem sie mit dem Ausdrucke größter Überraschung erst Waldemar ansah und dann den Blick fragend zu ihrer Nichte wandte.

Diese hatte die kindische Regung schnell überwunden und erinnerte sich bereits wieder, daß sie ja eigentlich schon zu den Damen gehöre. Ihre graziöse Verneigung war so salonmäßig, daß auch die strengste Hofmeisterin nichts daran hätte tadeln können, aber es zuckte schon wieder verräterisch um die jugendlichen Lippen, als Waldemar die Vorstellung mit einer Bewegung beantwortete, die wahrscheinlich eine Verbeugung ausdrücken sollte, sich aber allerdings etwas seltsam ausnahm. Der Blick der Mutter haftete so unverwandt auf seinem Gesichte, als wollte sie seine geheimsten Gedanken darauf lesen. »Mir scheint, du kennst deine Cousine bereits?« sagte sie mit eigentümlicher Betonung. Die Hindeutung auf die verwandtschaftlichen Beziehungen schien den jungen Mann nur noch mehr zu verwirren.

»Ich weiß nicht,« versetzte er mit äußerster Befangenheit. »Ich habe allerdings – vor einigen Tagen –«

»Herr Nordeck war so freundlich, meinen Führer zu machen, als ich mich im Walde verirrt hatte,« fiel Wanda ein. »Es war vorgestern, auf unsrer Fahrt nach dem Buchenholm.«

Die Fürstin hatte damals den Spaziergang sehr eigenmächtig und unpassend gefunden. Jetzt hatte sie kein Wort des Tadels dafür; im Gegenteil, ihr Ton klang beinahe gütig, als sie erwiderte:

»In der That, ein eigentümliches Zusammentreffen! Aber was steht ihr beide so fremd einander gegenüber? Unter Verwandten braucht die Etikette nicht so streng festgehalten zu werden. Du kannst deinem Vetter immerhin die Hand reichen, Wanda.«

Wanda kam der Aufforderung nach; sie streckte unbefangen ihre Rechte aus. Vetter Leo war schon ritterlich genug, diese Hand zu küssen, wenn sie ihm nach irgend einem Streite zur Versöhnung gereicht ward, der ältere Bruder schien aber leider nichts von dieser Ritterlichkeit zu besitzen. Er faßte die zarten Finger anfangs so scheu und zögernd, als wage er überhaupt gar nicht, sie zu berühren, und dann auf einmal preßte er sie so heftig zwischen den seinigen, daß die junge Dame fast einen Schmerzensschrei ausgestoßen hätte. Sie wußte über diesen neuen Vetter im Grunde nicht mehr als Leo, eigentlich noch weniger. Mit um so größerer Neugierde hatte sie seinem angekündigten Besuche entgegengesehen, ihre Enttäuschung war nun aber auch eine grenzenlose.

Die Fürstin hatte die beiden schweigend, aber unausgesetzt beobachtet. Sie ließ das Auge nicht von dem Gesichte Waldemars.

»Also im Walde seid ihr einander begegnet?« nahm sie wieder das Wort. »Wurde denn von keiner Seite ein Name genannt, der euch aufklärte?«

»Ich habe Herrn Nordeck leider für einen Waldgeist gehalten,« fuhr Wanda heraus, ohne sich um den ernst zurechtweisenden Blick der Tante zu kümmern. »Und er that das möglichste, mich in diesem Glauben zu bestärken. Du hast keine Ahnung davon, liebe Tante, wie interessant unsre Unterhaltung war. Er ließ mich während eines halbstündigen Zusammenseins nicht darüber ins klare kommen, ob er wirklich dem heutigen Menschengeschlechte oder der alten Sagenwelt angehöre. Du begreifst, daß unter so bewandten Umständen eine offizielle Vorstellung unterblieb.«

Diese Worte verrieten deutlich genug den übermütigen Spott, aber seltsam, Waldemar, der sich vorhin so reizbar gezeigt hatte, schien nicht im geringsten dadurch verletzt zu werden. Sein Auge hing unverwandt an dem jungen Mädchen, dessen Spöttereien er kaum zu hören schien.

Die Fürstin hielt es aber jetzt doch für nötig, dem Mutwillen Wandas ein Ziel zu setzen. Sie wandte sich zu ihrem Sohne mit so vollkommener Ruhe, als habe die vorhergehende Scene gar nicht stattgefunden. »Du hast ja deinen Bruder noch nicht gesehen, Waldemar, und deinen Oheim gleichfalls nicht. Ich werde dich zu ihnen führen. – Du bleibst doch den Tag über bei uns?« Die letzte Frage wurde in einem Tone hingeworfen, der das Bleiben als selbstverständlich voraussetzte.

»Wenn du es wünschest.« Das klang schwankend, ungewiß, aber es hatte nichts mehr von der trotzigen Energie der früheren Antworten. Waldemar dachte augenscheinlich nicht mehr daran, zu gehen.

»Gewiß wünsche ich es. Du wirst doch diesen ersten Besuch nicht so kurz abbrechen wollen? Komm, liebe Wanda!«

Der junge Nordeck zögerte noch eine Minute, als aber Wanda der Aufforderung nachkam, war auch sein Entschluß gefaßt. Er legte Hut und Reitpeitsche, die er bisher hartnäckig festgehalten, auf den Sessel, den er vorhin in aufloderndem Zorne fortgestoßen, und folgte geduldig den voranschreitenden Damen. Ein kaum bemerkbares, aber triumphierendes Lächeln spielte um die Lippen der Fürstin. Sie war eine zu gute Beobachterin, um nicht zu wissen, daß sie das Spiel bereits in den Händen hatte, freilich war ihr der Zufall dabei zu Hilfe gekommen.


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