Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

17

Mit Minnies Tod hat das gesellige Leben in Lambs Court aufgehört. Richard Clissold junior hat sich vor kurzem verheiratet; Winnie lebt mit ihrem Mann in Italien; und der junge William, mein Patenkind, ist eine Art Umstürzler und Maler – seit meinem letzten Besuch in seinem Atelier fange ich an zu glauben, daß er ein sehr guter Maler ist. Bis meine Großneffen und -Nichten Lambs Court wieder bevölkern werden, bleiben die oberen Etagen des Hauses leere Räume, mehr und mehr der Obhut alter, vertrauenswürdiger und konservativer Dienstleute überlassen.

Dickon führt trotz früherer Unterschiede in unserem Geschick heute wieder ein ähnliches Leben wie ich – das Leben eines Mannes, der im Alltagsdrama der Welt seine Rolle gespielt hat, sie beendigt weiß, sich aber noch voll Lebenskraft fühlt und etwas zu leisten bestrebt ist, immer noch starke und tiefe Wünsche hat, aber nicht mehr in solchem Maße wie einst vom persönlichen Empfinden beherrscht wird. In der Zeit erneuter Intimität, die auf Minnies Tod folgte, besprachen wir, fast als ob wir wieder Studenten wären, was wir mit den Jahren, die uns noch blieben, beginnen sollten. Wir wußten es beide nicht recht. Schmerzlich empfanden wir die Kürze der Tage, die noch vor uns lagen, und indes einer um den anderen verfloß, fragten wir uns: ›Wie kann ich sie wohl am besten nützen?‹

Wir rafften uns zusammen, um dem Rest unseres Lebens Sinn zu geben. Wir waren uns völlig im unklaren über unsere Ziele. Ich befand mich schon seit etlichen Jahren in einer Phase der Unentschlossenheit. Bei Dickon war sie akuter. Und entscheidender. Er machte sich bald darauf mit bezeichnender Konzentration an eine bestimmte Aufgabe, deren Erfüllung alle Kraft erfordern wird, die noch in ihm steckt; und ich bin der Wolke des Gefühls, die mich damals umhüllte und unglücklich machte, entronnen. Eine Weile aber war es, als ob etwas lange Vergessenes – die angstvolle Frage junger Menschen nach dem Zwecke des Lebens – aus fernen Jugendtagen zu uns zurückgekehrt sei.

Vielleicht erleben manche Menschen der heutigen Zeit in reiferen Jahren noch solch eine Phase des Zweifels und nehmen dann einen neuen Anlauf. Kaum einer dürfte in der Jugend von jener Seelennot verschont bleiben. Sie ist bei jungen Leuten so allgemein, daß ich sie geradezu als ›Angst der Jugend‹ bezeichnen möchte. Doch werden wir in der Regel alsbald vom Strome des äußeren Lebens ergriffen und fortgerissen, werden erregt, abgelenkt und belustigt, und vielen, ja vielleicht den meisten von uns wird, bis der Tod dem Ansturme der Geschehnisse ein Ende gesetzt, nie wieder eine Frist des schweigenden Nach-Innen-Horchens gegönnt. Wer keine Muße hat, wer ohne Unterbrechung um seinen Unterhalt kämpft, wird jene Nöte des Zweifels kaum ein zweites Mal durchmachen. Und in manchen glücklicheren Naturen tauchen jene Fragen nie wieder auf, weil sie sie, wie Sir Rupert York, ein- für allemal beantwortet haben. Es ist gut, daß ich sein Bild in diesem Buch gezeichnet habe, das Bild eines Mannes, der in schlichter Überzeugung sagen konnte: »Diese Arbeit ist die rechte für mich.« Sir Rupert York wird ohne Hast seine Forschungen fortsetzen, an den Problemen, die ihn beschäftigen, weiterarbeiten, bis er sich eines Morgens nicht mehr von seinem Lager erheben wird.

Er gehört zu jenen Männern der Wissenschaft, die heiteren Gemütes und glücklich sind. Wissenschaftliche Arbeit ist eine Welt für sich, eine Zauberinsel, abgeschnitten von der Vergänglichkeit alles Irdischen. Auch die Musik mag solch eine Insel sein, fern nicht nur von aller Vergänglichkeit, sondern auch von der Wirklichkeit des Lebens. Fast alle Künste stehen in schützender Abgesondertheit. Die Wissenschaft aber noch mehr als sie. Und trotzdem ist sie im tiefsten Grunde wirklich. Männer der Wissenschaft arbeiten bis an ihr Ende, wenn auch zuletzt langsamer, so wie ein Boot am windstillen Abend gemächlich heimfährt. Ich befand mich einmal auf jener Insel stetiger Arbeit. Wäre ich dort geblieben, so schriebe ich jetzt dieses Buch nicht und stellte die obigen, halb von Neid und halb von Bewunderung erfüllten Betrachtungen nicht an.

Doch auch bei Menschen, denen Muße vergönnt ist, dürfte eine Phase der Unruhe in reiferem Alter etwas Seltenes sein. Ich habe naturgemäß Interesse für Leute mittleren Alters und das Leben, das sie führen. Es will mir scheinen, als gäbe es heute besonders viele Menschen in mittleren Jahren. Sie bilden einen größeren Perzentsatz der gesamten Bevölkerung der Erde als je zuvor. Und ich werde ihrer stärker gewahr.

Die zunehmende Verlängerung der Lebensdauer scheint mir genau so wichtig, wie jener Wandel der Größenverhältnisse, von dem ich in früheren Abschnitten sprach. Ich glaube nicht, daß meine besonderen Umstände mich hier zu einer Übertreibung verleiten. Das Durchschnittsalter der Engländer zum Beispiel ist im letzten Jahrhundert stetig gestiegen. Wir haben dafür durchaus zuverlässige Ziffern. Im Zeitalter Elisabeths war man mit dreißig Jahren reif, mit vierzig alt; Shakespeare war fünfzigjährig ein abgenützter, unproduktiver alter Mann, der sich von der Welt zurückgezogen hatte. Die Ereignisse des Lebens setzten damals früher ein. Romeo hatte das Alter eines unreifen Studenten im ersten Semester und Julia war ein Kind. Man liebte, kaum dem Knabenalter entwachsen, heiratete und bekam Kinder, und waren diese groß geworden, so ging das Spiel zu Ende. Ein Mann von fünfzig war dick, grauhaarig oder kahlköpfig und hatte keine Zähne mehr. Junge Leute jeden Alters starben; mehr Kinder starben, als heranreiften. Und so herrschte ein fieberhafter Drang, den Gipfelpunkt des Lebens zu erreichen, ehe es zu spät war.

Heutzutage sterben die Leute aller Klassen, hauptsächlich aber wohlhabende Menschen, nicht mehr so jung wie damals. Immer mehr werden alt. Nicht nur das Leben wird verlängert, sondern auch die Lebenskraft, die Kraft und der Wunsch, zu leben. Der gewöhnliche Lebenslauf hat eine Erweiterung erfahren; eine dem Familienleben folgende Entwicklungsstufe ist neu hinzugekommen; das Familienleben selbst zeitigt eine immer geringere Nachkommenschaft und zehrt immer weniger Kraft auf. Und diese Schicht älterer Leute besitzt vorläufig noch keinerlei Tradition, nach der sie ihre Betätigung gestalten könnte. Die Literatur hat uns auf dieses Lebensalter nicht vorbereitet, und so kommt es uns sozusagen überraschend. Romane und Theaterstücke schildern uns Liebe und Vereinigung und verabschieden uns sodann mit einer Phrase. Wir Alternden gelten als gesättigt, ermattet und abgetan. Doch wir entdecken, daß wir uns nicht so leicht verabschieden lassen. Wir haben nicht mit dem Leben abgeschlossen. Wir sind nicht ermattet. Wir verlangen eine bessere Rolle als die eines Zuschauers, der der nächsten Generation veraltete Ratschläge erteilt. Ich erkläre hier, daß der Mann am Rande der Sechzig das Leben immer noch neu zu gestalten vermag, aus einer neuen Gemütsverfassung heraus, mit neuen Zielen vor Augen.

Ich glaube, daß die Schicht der Älteren immer größeren Einfluß auf die Entwicklung der Menschheit gewinnen wird. Sie werden Eigennutz, Unüberlegtheit und Romantik in immer stärkerem Maße aus der Welt verbannen. Doch müssen sie sich vorerst ihrer wahren Wesensart und ihrer besonderen Aufgaben bewußt werden. Heute wird das Leben der meisten Menschen mittleren oder höheren Alters nutzlos vergeudet.

Hier in der Provence und insbesondere die Küste entlang von Saint Raphael bis weit über Genua hinaus lebt eine erstaunliche Menge wohlhabender alter Leute. Unter den Daseinsbedingungen des achtzehnten Jahrhunderts wäre nicht der hundertste Teil dieser Schar mehr am Leben. Heute ist ihre Jugendlichkeit – die vorläufig noch erstaunlich wirkt und daher zumeist als bloß vorgeschützt gilt – bestimmend für alle Lebensformen. Wer niemals hier gewesen ist, ahnt nicht, welche Summe von Lebenskraft auf diesen Hügeln und an diesen Küsten ungenützt bleibt.

Hunderttausende von wohlhabenden ältlichen Leuten sind die Riviera entlang ansässig. Sie bauen oder mieten herrliche Villen mit großen Gärten und entzückender Aussicht. Sie beschäftigen zahllose Bedienstete, ihre Gärten erstrecken sich über weite Flächen Landes hin, sie treiben die Lebenskosten für alle in die Höhe und rauben den Heilung suchenden Lungenkranken den Platz an der Sonne. Oft sind es Männer oder Frauen, die munter Tennis spielen und den Strapazen ganztägiger Autotouren gewachsen sind; sie essen miteinander, unterhalten sich und besuchen einander; und ich kann nicht einen unter ihnen entdecken, der irgend etwas Wesentliches auf der Welt leistete oder seine Kräfte in welcher Richtung auch immer voll anspannte. Sie spielen wie Kinder, bis der Todesengel kommt, der sie zu Bette bringt.

Nicht weit von mir lebt ein typisches Beispiel dieser Riviera-Bewohner; es ist die Witwe des alten Sir Ralph Steinhart und eine Nichte des ersten Romer in der Firma; von beiden Seiten hat sie einen Anteil an dem Gewinne ererbt, den die Betriebe von Romer, Steinhart, Crest & Co. erzielen. So oft ich für irgend einen unserer Konzerne die Hand rühre, mache ich sie reicher. Sie hat silberweißes Haar – das natürliche Grau wird durch geschicktes Entfärben in gleichmäßiges Weiß verwandelt –, frische Farben und klare Augen. Sie geht ein wenig gebückt. Aber sie ist rastlos tätig. Ihre Gärten sind ausgedehnt und schön. Wir kommen gewöhnlich daran vorbei, wenn wir nach Nizza hinüberfahren. Sie hat eine Anzahl von Feldwegen versperrt, um ihren Besitz besser abzuschließen; sie droht den Bauern auf Tafeln mit Fußangeln, und die armen Kerle müssen in weitem Bogen um ihre Einfriedungen herumgehen. Rings um das Haus stehen große Agaven, Kaktushecken und Palmengruppen, und allenthalben im Park blühen herrliche Blumen, die außer Mrs. Steinhart und einigen wenigen Gästen nur Gott und ihre Gärtner entzücken.

Fast gegen meinen Willen weiß ich allerlei über ihre Familie und ihr Leben. Wenn sie hier ist – zwei Drittel des Jahres ist sie nicht hier und das Haus steht leer, nur ein Hauswart bleibt darin zurück –, bemüht sie sich unaufhörlich, die Bekanntschaft mit mir zu pflegen. Nicht etwa, weil sie mich gerne hat oder weil ich am Ende eine Vorliebe für sie an den Tag legte, sondern weil meine Beziehungen zu Clementina sie mit unbändiger Neugier erfüllen, weil ich ihr überhaupt wunderlich erscheine, und vor allem, weil sie nichts Besseres zu tun hat. Immer wieder überfällt sie mich in Begleitung von munteren Romer- & Steinhart-Nichten und anderen männlichen und weiblichen Verwandten oder Bekannten.

Sobald ihr Auto sich unten auf der Straße zeigt, rennt Jeanne die Treppe hinauf, um die sogenannte ›Lady-Steinhart-Schürze‹ unseres Haushaltes anzulegen. Ich unterhalte die Gesellschaft mit wortkarger Liebenswürdigkeit auf der Terrasse, und schließlich wird in derbem provençalischem Steingutgeschirr Tee serviert. Wenn Clementina anwesend ist, sitzt sie in schweigender Höflichkeit da und stört die Besucher durch strenge Blicke bei der Musterung der Bücher, Zeitungen und anderer auf der Terrasse verstreuter Dinge. Clems Hund steht etwas abseits und bellt protestierend. Nach einiger Zeit gibt sich die Lady einen Ruck und schreitet samt Begleitung den Hügel wieder hinunter. Ich fordere sie niemals auf, ihren Besuch zu wiederholen, aber sie tut es doch.

Sie kann nicht begreifen, warum ich so lange Zeit hier in einem Hause wohne, das ich für dreitausend entwertete Franken jährlich gemietet habe, verwaschene alte Flanellanzüge trage und nur eine einzige Dienstmagd halte. Sie weiß, welches Einkommen ich habe, und meine Lebensweise scheint ihr eine sündige Mißachtung der Fülle, die Gott mir beschert hat. Sie kann nicht verstehen, warum ich so viele Stunden in einem im obersten Stockwerk des Hauses gelegenen Zimmer verbringe, das sie niemals betreten darf. Und am unbegreiflichsten ist ihr, warum Clementina manchmal hier ist und manchmal nicht; warum sie so viele Mahlzeiten mit mir einnimmt, auf der Mauer meiner Terrasse sitzt und ihre langen Beine herabbaumeln läßt und mit der Miene eines Menschen, der zum Haushalte gehört, meine Zigaretten raucht, indes ich oben schreibe. Da ich Clementina niemandem je erkläre, sie wahrscheinlich nicht einmal in diesem Buch vollständig erklären werde, ist es kein Wunder, daß sie für Lady Steinhart unerklärlich bleibt.

Infolgedessen weiß Lady Steinhart niemals recht, ob sie Clementina zu kennen hat oder nicht, ob sie sie zum Lunch einladen könnte oder am Ende gar sollte, und was geschehen würde, wenn sie es täte. All das ist eine ausgezeichnete Gymnastik für Lady Steinharts Geist.

Besuche scheinen einen großen Teil ihrer Zeit in Anspruch zu nehmen. Sie und eine Menge anderer Leute rasen in diesem Land umher und besuchen einander; und ich muß gestehen, daß ich mir nichts Uninteressanteres als diese Zusammenkünfte vorstellen kann. Wie alle Romers und Steinharts neigt sie dazu, junge Musiker zu entdecken und dann wieder fallen zu lassen, und für diese Künstler werden besondere Gesellschaften gegeben. Außerdem verbringt sie einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit damit, in Haus und Garten Änderungen vorzunehmen. Sie ist immer dabei, etwas aufgraben oder niederreißen zu lassen, etwas anzupflanzen oder einen neuen Aussichtsplatz zu schaffen; wenn es ihr gelingt, führt sie einen zu dem betreffenden Platz und fragt einen um Rat; und während man ihr den gibt, denkt sie bereits darüber nach, womit sie einen sonst belästigen könnte. Sie ist auf der Jagd nach Möbeln, Bildern, Steingutwaren und Schmuck und kauft gierig, ohne den Kauf jemals zu bereuen. Es muß schon ein schlauer kleiner Topf aus dem fünfzehnten Jahrhundert sein, der ihr entgeht, wenn sie einmal auf seiner Spur ist. Und wenn sie etwas gekauft hat, frohlockt sie eine kleine Weile darüber, zeigt es ihren Freunden und läßt sie raten, wie viel sie dafür gezahlt hat; dann verschwindet das Ding in ihrem mit allem möglichen Kram überfüllten Hause, und sie vergißt es. Ich hoffe, daß ihr baumlanger, würdevoller Majordomus es stiehlt und an jemanden verkauft, der es nach einiger Zeit wiederum ihr anbietet. Ferner gibt es gar viel mit ihrer Wäsche, ihren Kleidern und ihrem Haare zu tun, und so sind ihre Tage alle von leerer Geschäftigkeit erfüllt. Und das Endergebnis ihres Daseins ist Null.

Man darf aber nicht glauben, daß Lady Steinharts Tätigkeit damit erschöpfend geschildert ist. Sie ist eine sehr moralische Frau: sie hat ganz gewiß keinen Liebhaber, obzwar sie noch nicht volle sechzig Jahre zählt, und sie tanzt nicht öfter als zwei- oder dreimal die Woche. Diese Lücke in ihrem inneren Leben wird durch etwas sehr Ernstes ausgefüllt. Leider läßt sie mich von dieser ernsten Seite ihres Daseins nicht so viel sehen, wie ich möchte. Es ist das einzige, was sie mir nicht aufdrängt, und das einzige an ihr, was mich interessiert. In dieser Hinsicht hat sie mir gegenüber etwas Verschämtes, ich weiß nicht, warum. Man möchte meinen, daß eine geborene Romer, die durch Heirat eine Steinhart wurde, eine Jüdin sei; das ist aber nicht der Fall. Sie ist judenfeindlich. Sie ist Katholikin. Priester, Bischöfe und Monsignori gehen in ihrem Hause aus und ein. Und die Kirche, die seit jeher eine Schwäche für fromme und dabei vermögende Frauen bekundet, hat ihr ein großes Zugeständnis gemacht. Sie besitzt eine Privatkapelle, die ihr liebstes Spielzeug ist: sie kauft ihr Gewänder, Spitzen, Schmuck und Juwelen, Metallkannen und Schalen, die bald hingestellt, bald wieder fortgenommen werden.

Diese Privatkapelle ist die Krone ihres Lebens. Durch diesen Besitz zeichnet sie sich vor anderen Menschen aus. Gäbe sie die Kapelle auf, ersetzte sie sie durch einen Liebhaber, durch Bridge oder höheren Dilettantismus in Kunst oder Kritik, durch irgend eine besondere Sammelwut oder eine zärtlich gepflegte Krankheit, so gliche sie auf ein Haar einer Unzahl anderer ältlicher Damen an der Riviera.

Doch die hier ansässigen Leute sind nicht die charakteristischesten Erscheinungen der Côte d'Azur. Dort, wo ein großes Hotel neben dem anderen steht, wird die Menschenmenge dicht. Früher oder später muß jeder in der Welt des Westens, der mehr als dreitausend Pfund im Jahr zu verzehren hat, an der Riviera auftauchen. Eine unsichtbare Notwendigkeit scheint uns hierher zu führen. Ich bin auch hier, und im Grunde gehöre ich, wie immer ich mich dagegen wehren mag, doch zu den übrigen. Wohin sollte ich sonst gehen? Ich und viele andere auch? Weiter nördlich herrscht ein mörderisches Klima, und weiter südlich ist das Leben mörderisch unbequem. Einige wenige Leute kommen ein- oder zweimal her und dann nicht mehr; die meisten aber, die einmal hier waren, kommen immer wieder. Die Sehnsucht älterer Menschen nach Sonne ist ein treibender physischer Grund. Zeitweilige Besucher gibt es zu Scharen. Viele von ihnen sind noch in eingeschränktem Maße oder wenigstens zum Scheine beruflich tätig; manche der jüngeren, das sind Leute zwischen fünfundvierzig und sechzig, kommen zur Erholung her, die meisten aber haben ganz und gar aufgehört, irgend etwas zu tun, irgend etwas zum Laufe des Weltgeschehens beizutragen. Clementina und ich sitzen mitunter in einem Hotel, beobachten die Leute und versuchen, ihr Alter zu erraten. Der Durchschnitt ist überraschend hoch. Strahlende Jungen von sechzig tanzen munter mit fröhlichen Mädchen von fünfundvierzig. Die grauen Köpfe nicken im Takte. Letzthin sahen wir ein unermüdliches Paar in einem Hotel in Cannes, das den ganzen Vormittag Golf spielte und bis ein Uhr früh tanzte, und beide waren über siebzig.

Bei sehr vielen von diesen Leuten äußert sich die verspätete Jugendlichkeit in bedenklicheren Vergnügungen als Golf und Tanz. Da sie noch nicht entdeckt haben, daß es Wichtigeres auf der Welt gibt als Gelderwerb, spielen sie Hasardspiele, obwohl sie reich oder mindestens wohlhabend sind. Da sie keine höheren Wünsche kennen, wollen sie die Liebeleien früherer Jahre um jeden Preis fortsetzen. Und drittens bietet ihnen die Riviera Sport aller Art; sie schießen Tauben und besuchen Pferderennen, Schauflüge, Polo- und Tennisturniere. Die Verhimmelung des Tennisspieles namentlich nimmt mit jedem Jahre zu. Die Zeitungen besprechen die Turniere mit tiefem Ernst, Photographien der Tennishelden füllen die illustrierten Wochenschriften.

Im Zusammenhang mit diesem Treiben versammeln sich hier Geschäftsleute aller Art, Händler, Professionals, Turnlehrer, Spezialisten für Schönheitspflege, Hoteliers, Gastwirte und andere; und in ihrer freien Zeit äffen sie Sport und Laster der Reichen nach.

Es ist noch Hochsaison hier. Ich konnte mir nur unter achttägiger Vorausbestellung für nächste Woche einen Schlafwagenplatz von Cannes nach Paris sichern – ich muß nämlich verschiedener geschäftlicher Angelegenheiten halber nach London fahren und mein Buch einige Wochen hindurch ruhen lassen. Doch binnen kurzem werden die Besucher der Riviera in die Heimat zurückzuströmen beginnen, in Autos und Luxuszügen, nach Paris, und im Mai und Juni nach England.

Ich habe die Menschen, die ich da schildere, die Schicht der wohlhabenden Leute mittleren Alters genannt, doch wenn ich meiner gelegentlichen Besuche in Monaco, Monte Carlo und Nizza gedenke, möchte ich sie fast als ›Abschaum‹ der Menschheit bezeichnen. Wenn man diese Menschen von hier aus weiter verfolgt, nach Paris, London, Wien, New-York, Kalifornien, Biskra und Ägypten, nach Savoyen, Biarritz, Palm Beach und zahllosen anderen Plätzen, wenn man sie bei Rennen und in Sommerfrischen oder in ihren eigenen Stadt- und Landhäusern beobachtet, dann begreift man, welche Bedeutung sie in unserer atlantischen Welt haben. Wie zahlreich und gewichtig sie aber auch sein mögen, sind sie doch in ihrer heutigen Eigenart etwas beinahe ebenso Neues wie die Ausdehnung der Reklame zu Dickons Lebzeiten. Ihre Vorgänger im Stadt- und Hofleben des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts waren verhältnismäßig jünger, waren tätiger und selbstbewußter und unvergleichlich weniger zahlreich. Die Lebensweise dieser Schicht der wohlhabenden älteren Leute muß und wird sich binnen kurzem ändern. Die klügeren unter ihnen werden sich dagegen auflehnen, wie Dickon und ich es getan haben.

Gewisse Lebensumstände haben Dickon und mich härter und widerstandsfähiger gemacht, als die Angehörigen unserer Klasse in der Regel sind. Wir haben weniger Angst als sie, bei Nacht wach zu liegen und der sogenannten ›Ewigkeit‹ ins Antlitz zu sehen. Aber keiner dieser Leute kann aus ganz anderem Ton geformt sein als Dickon und ich, und was uns widerfahren ist, muß früher oder später mit geringfügigen Unterschieden in Qualität und Quantität den meisten von ihnen geschehen. Vorläufig fürchten sie sich alle davor, nachts wach zu liegen, und wollen nicht eine Stunde am Tage beschaulich und einsam sein. Das andauernde Umherrasen in Autos ist offenbar darauf zurückzuführen. Besonders die reichen alternden Amerikaner scheinen fortgesetzt auf der Flucht über den Atlantischen Ozean, auf der Flucht vor einem Etwas, das sie am Zielpunkt der Reise, wo immer der auch sein mag, dennoch erwartet. Sie würden nicht unaufhörlich reisen, wenn sie sich nicht vor etwas fürchteten, das an einsamen Orten ihrer harrt. Und was kann dieses Etwas anderes sein, als eben die Fragen, die in uns aufgetaucht sind? Was gedenkst du mit den Jahren, die dir noch übrig bleiben, zu tun? Welchen Sinn hat dein Leben?

Wohin, zum Kuckuck, fragen sie, wenn diese Fragen in ihnen laut werden wollen, könnte man morgen fahren?

Da und dort erscheinen in den Reihen dieses ›Abschaums‹ von Alternden wahrhaft reife Menschen; inmitten des nichtigen Getriebes regt sich bereits die Erkenntnis, daß das Leben bis ans Ende gelebt werden kann, und daß Lernen und Schaffen erst endet, wenn die letzte Stunde gekommen ist. Immer mehr Menschen fassen Interesse an sozialer Entwicklung, an der Errichtung einer schöpferischen Weltordnung, an dem stetigen Wachstum menschlicher Erkenntnis und Tatkraft. Können die armen, geschminkten, liederlichen, egoistischen Reichen ihr erbärmliches Dasein noch lange weiter führen, indes die übrige Menschheit höheren Zielen entgegeneilt? Es wird keiner großen Erschütterungen bedürfen, um sie von der Bildfläche verschwinden zu machen. Manche werden lernen, manche enteignet werden; die Existenz vieler unter ihnen wird durch weniger spekulative Produktionsmethoden unmöglich werden. In dieser Richtung bewegt sich schon jetzt die Entwicklung der Welt.

Wenn ich in hundert Jahren an diese Küste zurückkehren könnte, würde ich sicherlich die Villen, Hotels, Straßen, Promenaden all der Orte hier und das Leben, das sie erfüllt, völlig verändert finden. Die Gebäude werden zum größten Teil neu aufgebaut und weniger voneinander unterschieden sein. Die prunkvollen Kasinos und Tanzrestaurants werden geräumt, die Gärten schöner und der Öffentlichkeit nicht mehr verschlossen sein. Eine Besserung der allgemeinen Sitten wird die Drahtzäune, Fußangeln und grimmigen Warnungstafeln von heute überflüssig gemacht haben. Die Häuser der Bauern werden Badestuben aufweisen, und ihre Anbaumethoden werden weniger mühsam und zweckmäßiger geworden sein.

Schnellere, leisere Autos werden auf glatteren Straßen durch das schönere Land fahren, weniger zahlreich vielleicht und zu besseren Zwecken. Die Reklametafeln, die wie grelles Geschrei von Ausrufern wirken und das Landschaftsbild so oft verderben, werden verschwunden sein. Die Provence ist zu schön und liebenswert, um nicht ein Zufluchtsort für viele zu bleiben, aber die Leute, die hierher kommen, werden dann ihre Tage nicht mehr in geschäftigem Müßiggang verbringen und hohlen Vergnügungen nachjagen.

Vielleicht gehen meine Hoffnungen mit mir durch, aber ich bilde mir ein, daß es in einem kurzen Jahrhundert schon weit mehr wirkliche Reife in der Schicht der älteren Leute geben und daß ihre Denkungsart und Lebensweise die Gesamtheit der Menschen beeinflussen wird. Die Jugend ist ungestüm und leidenschaftlich, aber sie ist nicht von Natur aus leichtfertig; heutzutage wird ihr von der Genußsucht der Alten eine künstliche und schamlose Leichtfertigkeit aufgezwungen. Auch die Jugend wird vielleicht in hundert Jahren ernster und kraftvoller sein.

Das Zeitalter größerer Reife naht, aber es hat noch nicht angehoben. Noch bestehen die Lebensformen und Einrichtungen unserer Zeit. Noch müssen wir die Kleider tragen, die die Mode vorschreibt, wenn wir uns nicht durch kleinliche Ärgernisse und alberne Auseinandersetzungen das Leben vergällen lassen wollen. Wir müssen uns der allgemeinen Lebensweise anpassen. Wenn wir reisen, müssen wir in Luxuszügen fahren oder in schmutzigen Waggons, in denen man zusammengepfercht, erstickt und angeekelt sitzt und sich in der Regel einen Schnupfen holt; wir müssen in Hotels wohnen, die vom Lärme der Jazzmusik erzittern, denn es gibt derzeit keine anderen, in die man gehen könnte; und wir müssen entweder in Restaurants essen, in denen Prozessionen von Mannequins einherschreiten und Tänzer zappelnd umherwirbeln, oder uns mit schlechter Kost den Magen verderben. Und wenn wir Luft und Bewegung brauchen, gibt es etwas Geeigneteres als Tennis?

Also gehen wir Clissolds beide durch die Welt und sehen nicht anders aus als irgend ein wohlhabender Prasser. Wir sind bestenfalls Halbreife. Wenn ich einen Teil des Jahres auf diesen Hügeln sehr einfach lebe, so danke ich das einer ausgezeichneten jungen Frau, die mir diesen Zufluchtsort geschaffen hat. Und der Himmel weiß, wie lange dieses Abenteuer dauern wird! Nur hier kann ich einfach leben; an anderen Orten erwarten mich Hoteldirektoren, Portiers, Stubenmädchen und Diener, und alles ist, wie sich's gehört.

Trotzdem sind wir so oberflächliche Weltkinder nicht, wie wir scheinen. Von der schlimmsten Schmach der Wohlhabenden in vorgerückten Jahren sind wir frei: wir haben nicht zu arbeiten aufgehört. Wir geben uns keinerlei nichtigen Genüssen hin und arbeiten so viele Stunden am Tage wie eh und je. Vielleicht sind es ihrer sogar mehr als früher. Dickon kämpft Tag und Nacht mit den Mysterien der ›Macht des Geldes‹; Handel und Geschäft aus der lähmenden Umklammerung der Kreditgeber zu befreien, ist das letzte Ziel seines Lebens. Hartnäckig sucht er sich einen Weg durch das Dickicht des modernen Finanzwesens.

Ich weiß nicht, worin seine Tätigkeit eigentlich besteht, weiß nicht, ob er gegen ein Tor hämmert, das kein Tor, sondern ein Felsen ist, oder ob er sich zu irgend welchen brauchbaren Ergebnissen durchringen wird. In früherer Zeit verstand er es ja, Erfolge zu erzielen; die Aufgabe aber, die er sich jetzt gestellt hat, ist unermeßlich groß.

Ich will seine Ansichten über verschiedene Schatzkanzler hier nicht zum besten geben. Das Finanzministerium schmäht er manchmal und manchmal beklagt er es nur. »Manche dieser Kerle scheinen zu denken,« sagt er, »scheinen des Denkens fähig zu sein. Aber da sie von Natur aus Beamte sind, halten sie ihre Denkkraft im Zaum. Sie könnten auf wichtige Dinge kommen und ihre schöne Laufbahn verderben.« Es verlange ihn danach, im Finanzministerium gründlich Ordnung zu schaffen, versichert er mir oft.

Möge es ihm gelingen, bevor ich sterbe. Ich sehe meinen lieben, alten Dickon, der so verblüffend tätig ist, manchmal im Traume, wie er auf seinem letzten und größten Feldzug eine Truppe großer Fabrikanten und Ingenieure anführt, Titanen der Industrie und des Handels, und im Vereine mit ihnen alle Märkte und alle Münzämter der Welt erschüttert, den Olymp der Wall Street und der City erklimmt und den goldenen Wucherer, der dort herrscht, entthront.

Ich arbeite in anderer Richtung. Denn ich bezweifle, daß man mit der Methode, in der Macht des Geldes den wahren Teufel zu sehen, auf den Grund der Dinge gelangen kann. Die Schaffung einer vernünftigen Währung ist gewiß vonnöten, doch zugleich mit ihr müssen andere Neuerungen kommen, die alle aufs engste zusammengehören. Mich in die Reihe tätiger Politiker zu stellen, wollte mir nicht gelingen – was gar nicht schade ist. Ich entdeckte, daß ich in Fragen der Volkswirtschaft und der Erziehung schlecht beschlagen war. Nun habe ich diesen sonnigen Zufluchtsort gefunden und kann hier – so sagte ich vor einem Jahre – die Dinge zu Ende denken; und wenn ich sie zu Ende gedacht habe, so will ich – das sage ich heute – sie mir vom Herzen schreiben, will meine Weltanschauung in diesem Buche festlegen.


 << zurück