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Das Leben scheint mir kurz, muß ich gestehen, betrüblich und widersinnig kurz, gemessen an der Tragweite des menschlichen Denkens im Raum sowohl, als an den ungeheuren vergangenen und künftigen Zeitspannen, die wir heute zu überblicken vermögen. Wahrscheinlich war dem Menschen ein derartiges Gefühl des ›zu kurz‹ fremd, ehe er astronomische Entfernungen und geologische Zeitalter zu errechnen begann. Und das Leben ist nicht nur kurz, sondern weist auch in sich selbst beträchtliche Mißverhältnisse auf. Die Gesetze der Perspektive sind umgekehrt: die entferntesten Erinnerungen ragen am größten empor und sind am deutlichsten. Manches, was vor fünfundzwanzig Jahren geschah, erscheint mir fern und dunkel, Ereignisse aus der Kinderzeit hingegen so nah, als hätten sie sich gestern zugetragen. Der Jüngling, der ich war, bin ich nicht mehr, er und ich haben kaum mehr etwas gemein. Das Kind aber, das ich dereinst gewesen, bin ich in vieler Hinsicht geblieben.

Vermutlich kommt dies daher, daß die meisten Dinge schon in der Kindheit zum ersten Mal gesehen, gehört oder empfunden werden und der Geist, das Bild dieser frühen Eindrücke bewahrend, alle späteren auf sie bezieht. Dadurch werden sie immer wieder aufgefrischt. Auf spätere Erfahrungen jedoch wird nicht mehr in solcher Weise zurückgegriffen.

Ich habe zum Beispiel im Laufe meines Lebens wohl hundert Male und an zwanzig verschiedenen Orten die herbstlich verfärbten Blätter einer Roßkastanie sich in bräunlichem Wasser spiegeln und die Zweige des Baumes dicht an die ruhige Wasserfläche heranreichen sehen, doch ist mir nur ein Kastanienbaum aus der Kinderzeit klar im Gedächtnis, das Bild aller anderen ist im Vergleich dazu unbestimmt und verschwommen. Ich sehe mich in unserem alten Boot auf dem großen Teich in Mowbray. Die silberglänzende Wasserfläche erweckte, wie stets an völlig windstillen Tagen, den Anschein einer konvexen Form. Sie sah wie ein ganz glatter, großer Schild aus. Der Eindruck des Gebogenseins dürfte seinen Grund in der eigentümlichen Art der Beschattung des Randes durch Schilf und Sträucher gehabt haben, oder auch in irgend einer Besonderheit des Spiegelungswinkels der Nadelbäume, die droben auf den Abhängen des Ufers standen. In der Ferne hob sich von einem Hintergrund dunkler Büsche, manche noch tiefgrün, andere rötlichbraun gefärbt, eine kleine Schar ruhig dahingleitender Schwäne ab; die Schwanenmutter war, im Vergleich zu den Tagen fürchterlicher Angriffslust im Frühsommer, erstaunlich friedfertig geworden. Sogar die Enten zwischen den Wasserlilien samt ihren sie gehorsam begleitenden Jungen waren still. Alles war so ruhig, daß mich ein plötzlicher ›Platsch‹ hinter mir erschrecken ließ – eine Kastanienschale war in das kristallklare Wasser gefallen.

Ich glaube, die durchnäßten Roßkastanienblätter, die die Fliesen des Hofes hinter dem Hause, in dem ich mich befinde, bedecken, haben diese Erinnerungen in mir wachgerufen. Der Lehnstuhl, in dem ich sitze, und das Arbeitszimmer Dickons verblassen zu einem Nichts. Ich sitze wieder in dem alten Boot, und eine Reihe glänzender brauner Roßkastanien, alle fein säuberlich durchbohrt, liegen neben mir. Ich habe sie recht mühsam mit Hilfe eines langen Nagels durchbohrt und dabei sehr achtgeben müssen, daß ich mir die Handfläche nicht verletzte. Die eine oder die andere ist mir beim Bohren zerbrochen. Der Boden des Bootes ist von abgefallenen Blättern bedeckt, die Zweige über mir haben nur mehr spärliches Laub aufzuweisen. Ich habe ein ganz goldfarbiges Blatt, ohne das geringste Fleckchen von Grün oder Braun darauf, gesucht, habe eine Roßkastanie gekostet, sie abscheulich gefunden und wieder ausgespuckt und dann beobachtet, wie die zerkauten Krümel, Ringe werfend, langsam durch das klare Wasser hinabsanken, und verwundert überlegt, weshalb wohl einige herumwirbeln, während andere rasch und gerade hinunterfallen; dann habe ich darüber nachgedacht, ob das hufförmige Ende des Blattstengels dem Baume seinen Namen gegeben hat. Und nun bin ich mit einem Male der ungeheuren Stille des Tages gewahr geworden und sitze bewegungslos da.

Es ist, als ob die ganze Welt still stünde. Es ist, als ob Gott gegenwärtig wäre, Gott, von dem in der Kirche so viel die Rede ist ...

Ja, ich bin fast ebenso sehr dort auf dem Teich, wie hier in diesem Zimmer. Und zum ersten Male vielleicht kommt mir der Friede jenes Tages zum Bewußtsein.

Ein halbes Jahrhundert ist seither verflossen, der Tag liegt am anderen Ende des Lebens, und doch ist die Erinnerung daran lebendiger als die an gestern. Es muß im ersten Jahr unseres Aufenthaltes in Mowbray gewesen sein, zu Anfang der letzten erfolgreichen Zeit, die meinem sonderbaren Vater vor seinem tragischen Sturz beschieden war. Wir waren von Bexhill nach Mowbray übersiedelt, und hier war alles neu, größer und schöner.

Ich hatte damals mein achtes Lebensjahr fast vollendet und scheine in Mowbray plötzlich zu neuem Verständnis, zu Interesse an der Schönheit meiner Umgebung erwacht zu sein. Aus der Bexhiller Zeit ist mir keinerlei Eindruck von Schönem oder Lieblichem in Erinnerung. Der Sommer jenes Jahres war, glaube ich, besonders warm und heiter. Eine neue Entwicklungsphase hob für mich an, die veränderte Lebensweise und größere Bewegungsfreiheit wirkten sehr anregend. Indem ich hier grübelnd am Schreibtische sitze, durchlebe ich eine Reihe kleiner und doch bedeutsamer Geschehnisse aufs neue; die meisten von ihnen spielten sich im Freien ab, im Park und insbesondere in der Nähe des großen Teiches; kaum eines im Hause. An die Wohnräume in Mowbray erinnere ich mich überhaupt nicht genau. Im Zimmer habe ich damals, glaube ich, immer nur gelesen, gelesen und wieder gelesen.

In dem alten Boot ging mir zum ersten Male ein Licht über die Optik auf. Ich entdeckte am Stock eines kleinen Fischnetzes, das ich ins Wasser gelassen hatte, etwas höchst Erstaunliches. Ich hielt es ganz still, hoffend, daß ich es binnen kurzem mit einigen Elritzen darin aus dem Wasser ziehen würde; da bemerkte ich, daß der Stock an der Wasserfläche scharf gebrochen schien. Ich vergaß die Elritzen und begann das Netz auf und ab zu bewegen. Der Stock schien gebrochen, war es in Wirklichkeit jedoch nicht. Die scheinbare Bruchstelle rückte hin und her, je nachdem ich das Netz hob oder senkte. Und ich verfiel in Nachdenken über diese Erscheinung.

In jenem Boot lernte ich über die Rätsel der Spiegelung sowohl als der Lichtbrechung nachdenken. Ich entdeckte, daß ich, wenn ich die Nase über den Rand des Bootes dicht ans Wasser hielt, den Grund des Teiches nicht sehen konnte, sondern nur den blauen Himmel und Bäume. Wenn ich den Kopf jedoch hob, wurde der stille Grund mit einem Male sichtbar, ich konnte Wurzeln, abgestorbene Blätter, schlammiges Schilf und Schwärme winziger Fische unterscheiden. Ich experimentierte. Ich erhob mich und bückte mich wieder hinunter und versuchte zwischen Hocken und Stehen den Augenblick festzuhalten, in dem der Spiegel durchsichtig und der Grund erkennbar wurde.

Eines Nachmittags – es muß früher im Jahr, irgendwann im Sommer gewesen sein – sah ich zum ersten Male in meinem Leben Vergißmeinnicht. Am oberen Ende des Teiches, nahe der Stelle, wo das Flüßchen einmündete, war das Wasser seicht und von Unmengen grüner Pflanzen mit rosafarbigen Blüten und dicken Schilfmassen bedeckt, und halb verborgen zwischen dem Schilf standen Büschel von entzückend blauen Blumen. Vielleicht hatte ich bis dahin wirklich niemals Vergißmeinnicht wachsen gesehen, oder ich hatte sie nur nicht beachtet. Nun betrachtete ich sie sehnsüchtig vom Ufer her, dann zog ich mir Schuhe und Strümpfe aus und watete durch Schlamm und Wasser, bis meine Höschen, so hoch ich sie auch hinaufgeschoben hatte, völlig durchnäßt waren. Und ich pflückte einen großen Strauß von diesen lieblichsten unter all den wild wachsenden Blumen Englands.

Dann befiel mich mit einem Male Entsetzen, maßloses Entsetzen, wie es Kindern eigen ist. Meine Beine waren blutüberströmt. Die scharfen Ränder der Schilfblätter hatten mir an mindestens zwanzig Stellen die Haut verletzt. Dick quoll das Blut aus den Schnittwunden und lief in hellroten Streifen meine nassen, schlammbedeckten Beine hinab. »Oh! Oh!« rief ich in tiefster Bestürzung und patschte mühsam zum Ufer zurück, wobei ich meine Vergißmeinnicht immer noch mit beiden Händen festhielt.

Mit großer Lebhaftigkeit erinnere ich mich noch meines Staunens über den Verrat des in goldenem Lichte strahlenden, saphiräugigen Tages.

Daß er mir das angetan hatte!


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