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Eine Betrachtung vor dem Titelblatt

Romane mit einem Vorwort sind wie Bilder mit einer Inschrift; gleichsam ein Zugeständnis, daß etwas eigentlich nicht zum Ausdruck gekommen ist und durch ein Addendum angefügt werden mußte. Doch soll die folgende Betrachtung nicht so sehr ein Vorwort als ein Protest sein und steht zum Zeichen dessen vor dem Titelblatt, ohne im Inhaltsverzeichnis zu erscheinen. Ein Protest gegen gewisse üble Gepflogenheiten der Bücherrezensenten und Vorurteile der Menge, welche sich auf die in Romanen ausgedrückte Weltanschauung beziehen und auf das Recht des Dichters, lebende Personen in seinem Werke auftreten zu lassen.

Dieses Buch, ›Die Welt des William Clissold‹, ist ein Roman. Es erhebt keinen Anspruch darauf, etwas anderes zu sein als ein richtiger Roman. William Clissold ist ein erfundener Charakter, und seine Gedanken und Empfindungen gehören auf die natürlichste Weise zu dem geistigen und sozialen Typus, den er vorstellt. Er entspricht nach dem besten Können des Autors in seinen Gefühlsregungen, in seiner harten Willenskraft, in seinem Glauben, in seinen politischen Ideen, in seinen Urteilen seinem eigenen Selbst und nicht dem des Autors. Er ist das Beispiel eines modernen Liberalen im weitesten Sinne des Wortes, ist eine Studie darüber, wie ein moderner Typus sein Schicksal zu erfüllen versucht. Seine Lebensbedingungen und seine Ansichten sind sorgfältig miteinander in Einklang gebracht, auf daß sich eine einheitliche Persönlichkeit ergebe. Seine Ansichten kommen mitunter – aber durchaus nicht immer – den persönlichen Ansichten des Autors nahe. Ist es darum etwa zu viel verlangt, daß man sie als die des William Clissold achte? Natürlich ähnelt sein Standpunkt dem des Mr. Wells. Das war zu erwarten. Wie könnte man auch die innere Welt eines wesensfremden Typs nachfühlen und erfinden? Jeder Autor muß die Lebensäußerungen beschreiben, die er kennt oder die er aus seinem Wesen heraus noch mitempfinden kann. Es wäre töricht, zu erwarten, daß der Autor dieses Buches das Innenleben solcher Leute beschriebe, wie zum Beispiel des Frömmlers Mr. Belloc oder des Aristokraten Duke of Northumberland oder des Politikers Mr. Ramsay MacDonald. Er kann über solche Typen aus unüberbrückbarer Ferne Betrachtungen anstellen, er kann sie angreifen, bewundern, Unterschiede zwischen ihrer Wesensart und seiner eigenen feststellen. Ihr Innenleben ist ihm unzugänglich. Niemals noch hat ein Dichter einen Charakter von innen her geschaffen, dem das unvermeidliche Element der Ich-Projektion gefehlt hätte. Auch Hamlet gilt als eine Ich-Projektion Shakespeares. Doch während dies den meisten Autoren verziehen und bei kritischer Betrachtung ihrer Werke als gegeben hingenommen wird, macht man dem Schreiber dieses Buches einen gewaltigen Vorwurf daraus. Es wäre äußerst gütig gegen einen Autor von bescheidenen Verdiensten, wenn man diesmal ausnahmsweise William Clissold als William Clissold auffassen wollte; wenn man Mr. Wells diesmal die immer wieder gegen ihn erhobene Beschuldigung ersparte, er habe seine Ansichten aufs neue geändert, denn William Clissold betrachtet viele Dinge von einem anderen Standpunkt aus als Mr. Polly, George Ponderevo, Susan Ponderevo, Mr. Preemby, Dr. Devizes, Dr. Martineau, Remington, Kipps, der Artillerist in ›The War of the Worlds‹, Onkel Nobby, Benham, Billy Prothero und die zahlreichen anderen Gestalten, die bisher als Sprachrohr des Mr. Wells, als die Träger seiner ach so schwankenden Weltanschauung gegolten haben. Man bedenke eines: wenn der Autor anstatt eines Romanes eine Selbstbiographie hätte schreiben wollen, was sollte ihn in diesem Zeitalter so vieler erfolgreicher persönlicher Memoiren daran gehindert haben?

Er wollte keine Autobiographie schreiben.

Und das bringt uns zu dem zweiten Punkte dieser persönlichen, aber notwendigen Verteidigung. ›Die Welt des William Clissold‹ ist kein Schlüsselroman. Es ist durchweg ein reines Werk der Dichtung. Eines ist jedoch als Neuerung zu vermerken: Eine große Anzahl wirklich lebender Menschen werden in dieser Geschichte mit Namen genannt. Nur so, meint der Autor, ist es möglich, das zeitgenössische Leben samt den aus ihm entspringenden Ideen und Bewegungen anschaulich darzustellen. Ein Mann wie William Clissold kann unmöglich in der heutigen Welt leben, ohne jemals Leuten von Namen zu begegnen. Einige dieser wirklich lebenden Persönlichkeiten sind nicht nur erwähnt, sondern mehr oder weniger geschildert. Aber immer unter ihrem wirklichen Namen. Dr. Jung führt in einer Londoner Abendgesellschaft ein Gespräch. Dieses Gespräch lautet fast wörtlich so, wie es wirklich geführt wurde. Er erscheint in dem Buche, weil einige seiner eigensten Ideen in die Clissoldsche Betrachtungsweise aufgenommen und verwoben worden sind. Es wäre unrecht gewesen, die weitreichende Anregung, die der Autor von ihm empfangen hat, nicht anzuerkennen, und plump und überheblich, es in einer Fußnote oder einer einleitenden Notiz zu tun. Shaw andererseits, der Shaw der achtziger Jahre, nimmt an einer Abendgesellschaft in Kensington teil, und Keynes ißt mit Clissold zu Mittag. Diese Szenen wollen nichts anderes als geselligen Umgang schildern; sie können niemanden beleidigen und keinerlei Groll erwecken.

Mit einer klar erkennbaren Ausnahme, dem im ersten Buche enthaltenen Bilde eines großen Wissenschaftlers bei sich zu Hause, das teilweise ein Porträt ist, sind alle Gestalten des Werkes, die unter einem erfundenen Namen auftreten, auch durchaus erdichtete Charaktere. Je näher sie lebendigen Menschen kommen, desto erdichteter sind sie. Sie sagen und tun Dinge, die lebende Leute sagen und tun. Das ist bei einem Gemälde zeitgenössischen Lebens unvermeidlich. Wenn einer eine Geschichte schreiben wollte, in der ein Prime Minister aus der Amtszeit Balfours auftritt, so müßte dieser Prime Minister wohl Lord Balfour gleichen, oder die ganze Geschichte wäre auf den Kopf gestellt. Und wenn eine hohe Persönlichkeit in der Erzählung erschiene, so müßte diese Gestalt einer hohen Persönlichkeit jener Epoche ähneln. Ein Bettler oder ein Polizist müssen ungefähr so sein, wie ein Bettler oder ein Polizist, den man kennt. Alle Gestalten müssen mehr oder weniger wirklichen Menschen von der obersten bis zur untersten Klasse herab ähnlich sehen, solange man einen Roman und nicht eine Phantasie schreibt. Doch wenn man auch den Prime Minister so balfourisch wie möglich zeichnete und den Prinzen so prinzlich wie nur denkbar, so geschähe es nur der Atmosphäre wegen und nicht, um Tatsachen festzustellen. Der letzte Vorwurf, den man einem Romanschreiber machen darf, ist, daß er bestimmten Personen dies oder jenes nachzusagen versuche, ohne dabei den Mut zu haben, seine Ansicht offen und ehrlich an die richtige Adresse gehen zu lassen. Könnte von diesem Anwurf nicht abgesehen werden? Könnten die Leute, die Bücher kritisieren und über Bücher schreiben, nicht aufhören, dem Lieblingsvergnügen pöbelhafter, halbgebildeter, neugieriger und dabei schlecht unterrichteter Menschen Vorschub zu leisten, der Jagd nämlich nach dem vermutlichen ›Originale‹ jedes erdichteten Charakters? Ich denke an jene, die im vorliegenden Falle zum Beispiel behaupten werden, der Reklamefachmann namens X, Y oder Z habe für Bruder Dickon Modell gestanden, oder Lady Steinhart sei eine gewisse in Cannes oder Nizza wohnhafte Dame, weil sie einen großen Garten besitzt, – um hinzuzufügen, das ganze Buch sei ein Riesenspaß und wunderbar boshaft, dürfe aber keinen Augenblick als ein ernst zu nehmendes Literaturwerk aufgefaßt werden. Der Hinweis auf die ›Originale‹ war ein Trick der Romanschreiber und Verleger im Victorianischen Zeitalter; man deutete an, daß das betreffende Buch etwas von einer Schmähschrift an sich habe, und hoffte, dadurch das Interesse des Publikums zu erwecken. Es wäre ungerecht gegen den Geist und die Absicht dieses Buches, dergleichen von ihm zu behaupten.

Ein Beispiel aus der Welt der leblosen Dinge wird die Sache vielleicht klarer machen, ohne daß die Saite des Persönlichen berührt würde. Das vorliegende Buch enthält eine genaue und eingehende Schilderung des ›Mas‹, des kleinen Hauses in der Provence, in welchem der Roman der Hauptsache nach spielt. Einzelne Zimmer dieses Hauses werden beschrieben, ebenso Teile des Gartens und die Aussicht aus den Fenstern. Man kann sich das Haus wenige Meilen von Grasse entfernt denken und wird dort nicht nur ein Dutzend Male einen dem geschilderten sehr ähnlichen Ausblick, sondern tatsächlich auch ein ähnliches ›Mas‹ finden. Das Haus des Buches aber, mit genau denselben Zimmern und genau derselben Aussicht wird keiner entdecken. Denn es gibt in Wirklichkeit weder dieses ›Mas‹ noch diese Aussicht. Es ist dieselbe Geschichte wie mit Mr. Britlings Haus, von dem jeder, der den Besitz des Mr. Wells in Essex nicht kannte, so sicher zu wissen glaubte, es sei ein getreues Konterfei von Easton Glebe. Je weniger diese Spürnasen davon wußten, desto nachdrücklicher lobten sie die photographische Treue des Bildes. Je weniger sie Mr. Wells kannten, desto besser erkannten sie ihn in Mr. Britling. Immer noch äußern enthusiastische Fremdlinge die Bitte, ob sie nicht den Ort sehen dürften, an dem Mr. Wells die Nachricht erhielt, daß sein ältester Sohn getötet worden sei. Es ist peinlich, solcher zudringlichen Anteilnahme an einem durchaus erdichteten Verluste zu begegnen. Verwickelt wird die Sache, wenn ›Originale‹ sich freiwillig melden und sich den Detektiven stellen. Vor kurzem hat eine reizende Zeitgenössin der Welt anvertraut, daß sie das Vorbild der Beatrice in ›Tono Bungay‹ gewesen sei. Diese interessante Tatsache ist dadurch dem Autor zum ersten Male zum Bewußtsein gebracht worden; weder er noch sonst jemand hatte bis dahin eine Ahnung davon.

Wie wäre es, wenn man diesmal darauf verzichtete, der Kunst des Romanschreibers solch unkünstlerische Absichten unterzuschieben? William Clissold, eine durchaus erdichtete Gestalt, hat die meisten der Probleme seines Lebens selbst zu Ende gedacht, er hat sich in vorgerückten Jahren in seine erdichtete Clementina verliebt und hat in einem erdichteten Haus in der Provence gewohnt; und trotz des erfundenen Automobilunfalles auf der Straße nach Thorenc ist der Autor des Buches heute noch am Leben. Es hat keinen Zweck, den Stein mit der einfachen Inschrift auf dem Friedhofe von Magagnosc zu suchen. Der Autor kann nach bestem Wissen und Gewissen versichern, daß er bisher noch nicht begraben worden ist. Selbst Bruder Dickons Anspielung auf Williams äußere Erscheinung ist nicht als bescheidenes Selbstlob aufzufassen. Jeder Romanschreiber benützt wirkliche Erfahrungen in seinem Werk. Er muß die Welt kennen, ehe er sie schildert. Doch gestaltet er die Wirklichkeit auf seine Weise, sublimiert sie und verdichtet sie. Er blättert im Skizzenbuch seiner Erinnerungen und nimmt, was er braucht, hier eine hochgezogene Augenbraue, dort einen blühenden Mimosenzweig. Seine Phantasie entdeckt eine gewisse Übereinstimmung zwischen einem tatsächlichen Vorgang und einer konstruktiven Notwendigkeit, und er entnimmt dem Vorgang, soviel er braucht. Doch er verändert das Tatsächliche, gestaltet es ohne Bedenken um. Die Augenbraue ist kein Porträt, die Schilderung des Vorgangs kein getreuer Bericht. Wer dieses Buch liest, hat auch, ohne zwischen den Zeilen zu lesen, Arbeit genug.

Noch eine Frage will ich streifen, ehe ich diese Betrachtung abschließe. Es wird in diesem Buche viel über Meinungen diskutiert. Kann es darum nicht als Roman gelten? Eine neue Idee kennen lernen und sich mit ihr auseinandersetzen ist eben so sehr ›Leben‹, wie einem neuen Liebhaber begegnen! Müssen die Gestalten unserer englischen und amerikanischen Romane wirklich von jeglichem Gedanken gesäubert werden, ehe man sie der Leserwelt vorführt? Dieses Buch enthält religiöse, historische, ökonomische und soziologische Diskussionen und bringt mitunter zornige Empörung oder quälende Zweifel zum Ausdruck; trotzdem wird es der Welt als Roman dargeboten, als ein Roman und nichts anderes, als die Geschichte des irdischen Abenteuers, des körperlichen, seelischen und geistigen Lebens eines Menschen. Wenn du, lieber Leser, es nicht als Roman hinnehmen willst, dann lege es lieber aus der Hand. Es würde dir bei aller Schlauheit nicht gelingen, etwas Wirklicheres darin zu entdecken als die Wirklichkeit der Kunst, und deine Versuche, durch diese hindurchzuschielen, würden nur dein Gesicht entstellen.


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