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Vor fünftausend Jahren besaßen unsere Vorfahren nicht mehr wirtschaftlichen Sinn als die Tiere; sie lebten, wo sie Nahrung fanden, von der Hand in den Mund. Wenn die Nahrung unzureichend wurde, wanderten sie weiter. Konnten sie nirgends genügend Nahrung finden, so wurden sie hinfällig und gingen zugrunde wie andere Tiere. Ihre Ausrüstung bestand in einem Tierfell und etwa einem Stock oder Stein; jedenfalls konnte jeder sein Geräte tragen oder hinter sich her schleifen. Ein Fremder war ein Eindringling, und die Vorsicht gebot, ihn zu töten. Der ›Alte Mann‹ brachte seine Söhne um, sobald sie herangewachsen waren, oder vertrieb sie und blieb Herr über alle seine Weiber; er herrschte unumschränkt über die kleine Welt, die sein Blick umfaßte, bis ein jüngerer und stärkerer Gegner kam und ihm den Garaus machte. So dürftig seine Ausrüstung sein mochte, sein Besitzrecht war schrankenlos; es gab für ihn keinerlei Rechte auf der Welt als seine eigenen und er starb, indem er für sie kämpfte.

Der erste Schritt zu einer menschlichen Gemeinschaft größeren Maßstabes wurde getan, als der ›Alte Mann‹ einem anderen erwachsenen Manne das Recht einräumte, innerhalb seiner Seh- oder Geruchsweite zu leben. Mit dieser ersten Abschwächung des Besitzinstinktes hebt die menschliche Gesellschaft an. Die Weiber lehrten die Knaben, den ›Alten Mann‹ zu fürchten und zu meiden und seinen Besitz, insbesondere ihre Mütter, Stiefmütter und Schwestern, als Tabu zu betrachten; den ›Alten Mann‹ andererseits vermochten sie allmählich dazu, seine Söhne zu dulden und ihnen schließlich sogar das Besitzrecht an den fremden Mädchen zuzugestehen, die sie erbeuteten und zur heimischen Feuerstelle schleppten. Dies ist die einzige glaubwürdige Darstellung der Anfänge der menschlichen Gesellschaft, die ich je in der Anthropologie gefunden habe. Sie erklärt das uralte Tabu des Inzestes, den über die ganze Welt hin verbreiteten Brauch des Frauenraubes und eine Reihe anderer ebenso allgemeiner, primitiver Sitten, die sonst unbegreiflich wären. Überdies steht sie mit der Mehrzahl der Hemmungskomplexe in Einklang, die in die moderne Mentalität verwurzelt sind. Das erste, die Allgewalt des ›Alten Mannes‹ schmälernde private Eigentumsrecht war der Besitz eines Weibes.

Auch als die Affenmenschen-Familie sich bereits zu dem primitiven menschlichen Stamme entwickelt hatte, kann man noch kaum von wirtschaftlichem Leben sprechen. In der Person des ›Alten Mannes‹ verkörpert, besaß der Stamm immer noch das ganze Gebiet, das er durchstreifte; die Männer jagten in Rudeln und taten sich gemeinsam an einem Beutestück gütlich; die meisten Werkzeuge wurden von dem, der sie zu gebrauchen gedachte, selbst verfertigt; hin und wieder mögen die Mitglieder des Stammes Zierat oder Kuriositäten ausgetauscht oder einander beschenkt haben; irgendwelche Ansätze zu Lohnarbeit aber, im heutigen Sinne des Wortes, gab es noch nicht. Die Mütter arbeiteten für ihre Kinder, ernährten und betreuten sie, so wie Tiermütter es tun. Wahrscheinlich waren Kinder und Frauen untergeordneten Ranges die ersten menschlichen Wesen, die ein über solche instinktive Fürsorge hinausgehendes Maß an Arbeit verrichten mußten; sie wurden ausgeschickt, um Holzscheite für das Feuer oder Beeren oder kleine genießbare Tiere heimzubringen. Der erste widerwillige Arbeiter mag ein Feuerschürer gewesen sein. Die ersten Arbeiter befanden sich wohl in ungefähr derselben Lage wie Arbeiterfrauen von heute: sie taten alle Arbeit, die zu verrichten war, und bekamen keinen Lohn außer ihrem Unterhalt und der Gunst ihres Besitzers. Durch die Mutterschaft hatte die Frau eine demutsvolle Eignung für gewohnheitsmäßige niedrige Arbeit erworben, die dem Manne fehlte, und wahrscheinlich fiel der größte Teil der alltäglichen Verrichtungen in der Höhle und auf dem Lagerplatze seit jeher ihr zu.

Der frühpaläolithische Menschenstamm dürfte in wirtschaftlicher Hinsicht um höchstens eine Entwicklungsstufe höher gestanden haben als ein Rudel wilder Hunde. Er hatte sein Feuer und seine Werkzeuge. Seine Mitglieder aßen mehr Fleisch und waren vielleicht größer und stärker geworden als ihre einsam lebenden Vorfahren. Indem der Stamm wuchs und seine Besitztümer sowie auch seine Obliegenheiten sich mehrten, wurde die vergrößerte Arbeitslast ohne Zweifel denen aufgebürdet, die sich am wenigsten dagegen zur Wehr zu setzen vermochten. Der Mensch besitzt keine natürliche Neigung zur Arbeit. Er will wohl gerne etwas verfertigen, etwas schaffen, aber mit möglichst geringem Aufwand an Mühe. Schon in der paläolithischen Zeit wurde eine beträchtliche und stetig wachsende Summe menschlicher Intelligenz und Energie darauf verwendet, Arbeit auf andere abzuwälzen. Je größer die Gemeinwesen wurden; je besser ihre Ausstattung und je vielfältiger die notwendige Arbeit, desto schlauer und systematischer wurde die Unterdrückung der Schwachen. Der ›Alte Mann‹ des Entwicklungsstadiums der Affenmenschen tötete und mißhandelte, der Häuptling des primitiven Menschenstammes leitete und beschäftigte seine Leute, die Weiber fast selbstverständlich, und die Männer, soweit es eben in seiner Macht lag; die Faulen in seiner Schar bestrafte er. Mitunter hatte der Stamm vielleicht nicht bloß ein einziges Oberhaupt, sondern wurde von drei oder vier Gewaltigen beherrscht, die einander zu respektieren gelernt hatten.

Das war der ›primitive Kommunismus‹, den zu idealisieren so viele würdige Anthropologen sich bemüßigt gefühlt haben.

Als der Mensch sich aus einem Jäger und Verfolger von Tierherden allmählich zu einem Hirten entwickelte und schließlich auch den Boden zu bebauen begann – anfänglich hat er wohl nur zufällige Ernten eingeheimst –, brach eine wachsende Flut von Arbeit über ihn herein. Die ungebundene Freiheit des Urmenschen, der seinen Hunger gestillt hatte, wo er eben konnte, wich im Laufe der Zeiten der Lebensweise des Ackerbauers, der unter der Leitung der Häuptlinge und Ältesten des Gemeinwesens zu regelmäßiger Arbeit gezwungen war. Die heranwachsenden Kinder mußten arbeiten; die jungen Leute mußten arbeiten. Daß es einst unnatürlich gewesen war, arbeiten zu müssen, war eine Vorstellung, die über den engen Bereich des menschlichen Denkens jener Tage hinausging. Ebenso gut könnte ein Zugpferd an Freiheit denken. Allmählich wurde Fleiß dem Ackerbauer zum Gebot, ein moralischer Antrieb zu Tätigkeit erwachte in ihm. Müßiggang wurde eine neue Schande, ebenso groß fast wie die ältere der Feigheit, und alsbald versuchte jeder Emsigkeit wie Mut wenigstens vorzuschützen. Der Mensch begann Vorräte aufzustapeln wie das Eichhörnchen und sich Sorgen um die Zukunft zu machen.

Erst mit der Entwicklung des Ackerbaues wurde der Mensch ein wirtschaftliches Wesen; er ist wohl das erste Wirbeltier, das eine wirtschaftliche Lebensweise ausbildete. Bis dahin waren die vornehmsten wirtschaftlichen Lebewesen die Ameisen, Termiten und Bienen gewesen. Ein wirtschaftliches Leben entwickeln, bedeutet in erster Linie, ein wachsamer Diener des fruchtbaren Bodens zu werden; das ist das Wesentlichste daran. Die räuberischen Nomadenvölker erlagen niemals der Täuschung, daß Fleiß an sich eine Tugend sei. Man darf als ziemlich sicher annehmen, daß in einem primitiven Stadium der menschlichen Entwicklung die meisten Angehörigen des Stammes unter der Leitung der Häuptlinge und der Medizinmänner arbeiteten, sobald Arbeit erforderlich war, und dieser Pflicht als einer selbstverständlichen ohne Lohn oder persönliches Entgelt oblagen. Die Arbeit war Gemeinschaftsarbeit – das heißt, nur die Mächtigsten konnten sich ihr entziehen; das Arbeitsprodukt gehörte der Gemeinschaft – das heißt, die Schwächeren erhielten davon so viel, als ihnen zu nehmen erlaubt wurde. Wahrscheinlich gab es, abgesehen von Weibern, Zierat, Waffen, Hütten und derlei mehr, nur sehr wenig persönliches Eigentum. Das Vieh und der Grund und Boden gehörten ursprünglich dem Häuptling allein.

Ich halte es für eine feststehende und sehr wichtige Tatsache, daß das wirtschaftliche Leben des Stammes anfänglich keinerlei oder einen nur sehr geringfügigen Handel kannte. Im heutigen Leben ist der Handel samt seinem erst später entstandenen Werkzeug, dem Gelde, aufs innigste mit der Erzeugung der wichtigsten Bedarfsartikel verquickt, und wir sind daher zu vergessen geneigt, daß die beiden einstmals durchaus voneinander getrennt waren und sich auch der Wurzel ihres Entstehens nach – Notwendigkeit in dem einen, Wunsch in dem anderen Falle – voneinander unterscheiden. Ackerbau treibende Barbaren führten mitunter ein reiches und vielfältiges Wirtschaftsleben, in dem es weder Handel noch Lohnarbeit und nur sehr wenig Privateigentum gab. Der Handel war eine Sache für sich und mag sich bei irgendwelchen zu gewissen Zeitpunkten des Jahres stattfindenden Versammlungen ergeben haben.

Eine frühe Bereicherung des primitiven Wirtschaftslebens dürfte der Sklave gewesen sein, ein gestohlenes Kind oder ein am Leben gelassener Gefangener. Das geraubte Weib erscheint in der früh-paläolithischen Periode als das erste Privateigentum; zur Zeit, da sich die neolithischen Lebensformen auszubilden beginnen, taucht der Sklave auf, ein fügsamerer Arbeiter als der Stammesangehörige. Vor der neolithischen Entwicklungsstufe gab es kaum Verwendung für Sklaven. Ein fremdes Kind wurde wie ein erbeuteter junger Wolf von der Sippe mitgeschleppt, und je nach der Laune seiner Herren wurde es verzärtelt oder gequält, mißhandelt oder an Kindesstatt angenommen. Es war angenehm, im Besitze eines menschlichen Wesens zu sein, mit dem man tun konnte, wie es einem beliebte. Wer sich mit Jugendfürsorge befaßt, weiß nur zu gut, daß dieses Motiv manche Leute heute noch dazu treibt, Waisenkinder in Pflege zu nehmen. Lästige Arbeit aller Art konnte einem jungen Geschöpfe aufgehalst werden, das zu furchtsam war, um in die Wildnis hinaus zu entrinnen.

Weiter reichte die Sklaverei zur Zeit, da der Mensch noch wanderte, wahrscheinlich nicht. Ein erwachsener männlicher Sklave war von geringem Nutzen für Nomaden; er konnte verhältnismäßig leicht entfliehen. Erwies er sich als brauchbarer Gehilfe, so war es klüger, ihn zu einem Stammesmitglied zu machen. Doch als die Arbeit des Ackerbaues sich mehrte, begannen männliche und weibliche Kriegsgefangene, die bis dahin hauptsächlich für Opferungen, Torturen und ähnliche unterhaltende, aber vorübergehende Zwecke verwendet worden waren, wirtschaftlichen Wert zu gewinnen. Sie dienten dem Häuptling willig. Ihr Mut konnte gebrochen werden, da sie ja nicht für kriegerische Zwecke benötigt wurden wie die jungen Männer des Stammes. Ihre ganze Kraft konnte aufgebraucht werden. In den ägyptischen Türkisgruben von Sinai arbeiteten schon zur Zeit der ersten Dynastie nur Sklaven.

Es hat in den barbarischen Lebensformen ohne Zweifel große örtliche Unterschiede gegeben. Wir begehen einen großen Fehler, verfallen in den System-Aberglauben, wenn wir annehmen, daß der frühe barbarische Kommunismus überall derselbe gewesen sei. Er hatte da wie dort gewisse gemeinsame Tendenzen, entwickelte sich unter gewissen allenthalben bestehenden Notwendigkeiten; über die ganze Welt hin gleichen die Menschen einander in vielem. Und wenn auch die Verbindungswege schwierig waren, so neigte der damalige Mensch ebenso sehr oder noch stärker zur Nachahmung als der heutige. Die Tradition des ›Alten Mannes‹ der Urzeit schuf da einen Gott, dort einen Gott-König und hier einen allgewaltigen Priester. Wohin immer der Ackerbau vordrang, die Tradition eines Blutopfers, eines Menschenopfers folgte ihm. Ich kann mir nicht erklären, warum dem so war; aber es war so, das steht fest. In der alten Welt erfuhr dieses Blutopfer allenthalben eine Abschwächung; in Amerika nahm es, der geheimnisvollen Neigung zu Härte, die diesem Erdteil eigen ist, entsprechend, furchtbaren Umfang an: eine ganze Zivilisation stand schließlich unter seinem Zeichen. Die Maya- und die Aztekenreligion entfalteten wahnwitzigen Blutdurst. Mit dem Ackerbau erschien auch eine sehr rohe primitive Astronomie, die das Herannahen von Überschwemmungen und den der Aussaat günstigen Zeitpunkt des Jahres zu bestimmen hatte. Pyramiden und Obelisken dienten als Sonnenuhren, nach Sternen richtete man die Lage der Tempel. Es ist wunderbar, welch umfassende und lebendige Kenntnis der frühesten Phasen der Zivilisation die Menschheit zu meinen Lebzeiten erworben hat.

Neben den angestrengt arbeitenden Gemeinwesen der warmen Alluvialgebiete, die vorwiegend Ackerbau trieben, entwickelten sich ungezählte, kaum mit Ackerbau beschäftigte und vornehmlich nomadische Stämme, die Schafe weideten, Vieh hüteten oder – in Mittel- und Ostasien – Pferde hielten. Sie trieben Handel, sie eroberten bebautes Land und unterjochten dessen Bevölkerung oder wurden wieder vertrieben; ihren Bedürfnissen angemessen, entwickelten sie besondere Bräuche, und diese beeinflußten, verwirrten und komplizierten die Gepflogenheiten, Einrichtungen, Anschauungen und Neigungen, die aus dem bepflügten Boden emporgewachsen waren. Die Lebensformen viehzüchtender Nomaden, namentlich solcher, die in Gebirgstälern hausten, rechtfertigen bis zu einem gewissen Grade den Begriff jener ›altheidnischen Stammesorganisation‹, welche Engels, der Mit-Prophet Marxens, in einer inneren Eingebung als den Urzustand der menschlichen Gesellschaft bezeichnet hat. An Stelle seiner liebenswerten Ältesten, welche sich, wie er sagt, der spontanen und unzeremoniellen Achtung des ganzen Stammes erfreuten, dürften allerdings in Wirklichkeit Kerle von der etwas robusteren Art eines Häuptlings aus dem schottischen Hochlande gestanden haben. Wir müssen bedenken, daß all die alten Bräuche und Einrichtungen lange Zeiträume hindurch allmählich von tausenderlei Gemeinwesen in der Ebene, im Hügelland, in Schluchten und Tälern, in Wäldern, auf der Steppe und in der Wüste herausgebildet wurden. Je einfacher und exakter die Klassifikationen und Erklärungen sind, die wir aufstellen, desto leichter werden sie zwar in unserem Gedächtnisse haften, sich aber desto mehr von der Wirklichkeit entfernen. Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft hat sich keineswegs in einer wohlgeordneten Abfolge verschiedener Stadien vollzogen, sondern als ein unendlich mannigfaltiges Wirrsal von zeitweiligen Ausgleichen und unsicher tastenden Neuerungen.

Fast alle Anthropologen, die ich bisher gelesen habe, scheinen den Menschen, der vor sechs oder sieben Jahrtausenden lebte, für hellsichtiger und systematischer als den heutigen zu halten. In Wirklichkeit muß die Sache doch wohl umgekehrt liegen. Der paläolithische Mensch stand uns zwar intellektuell nicht nach – wahrscheinlich ist das menschliche Gehirn seit seiner Zeit nur sehr wenig oder überhaupt nicht gewachsen –, doch war vor ihm nichts geschaffen worden, woran er hätte anknüpfen können. Seine Sprache war ein verhältnismäßig noch sehr armes Werkzeug; es gab keine aufgezeichnete Überlieferung, keine allgemein gültigen Ideen. Folgerichtiges und systematisches Denken hat erst vor etwa zweieinhalb Jahrtausenden angehoben; noch Plato kämpfte mit dem Begriffe der Gattung und des Individuums, des Einen und der Vielen; und der Vernunftschluß ist nicht älter als Aristoteles. Unsere klassisch Gebildeten scheinen sich nie ganz klar darüber zu sein, ob sie es in den Dialogen des Plato mit zyklopischer Unbeholfenheit der Argumentation oder mit philosophischer Tiefe zu tun haben. Vor jener Zeit dachten die Menschen in Phantasiebildern, wie Kinder und ungebildete Leute heute noch. Vorstellungen, die über das unmittelbare tägliche Leben hinausgingen, versuchten sie durch Symbole und Mythen auszudrücken, welche nur zu leicht mißverstanden und in anderem Sinne weitergegeben wurden. Noch herrschten kindliches Staunen und kindliche Erregung unumschränkt in ihrem Gemüt. Sie empfanden zum Beispiel etliche Zahlen als schön, andere als abscheulich. Sie waren ungeheuerlicher Inkonsequenzen fähig. Gewohnheit und Nachahmungstrieb verliehen der Lebensweise über weite Landstriche hin gewisse allgemeine Ähnlichkeiten. Der Mensch griff an, siegte, herrschte oder unterlag, arbeitete oder raubte, was ein anderer geschaffen hatte, fürchtete und haßte, tötete und triumphierte. Das sei der Lauf der Welt, meinte er; denn er kannte nichts anderes. Die geheimnisvollen Kräfte des Lebens riefen ihn ins Dasein und ließen ihn wieder verschwinden; er liebte seine Kinder leidenschaftlich, solange sie klein waren, entfremdete sich ihnen aber, indem sie heranwuchsen; und er starb, vergaß und wurde vergessen.

Vor sieben Jahrtausenden gab es, wenn auch auf einfacherer Grundlage, bereits alle Elemente der heutigen sozialen Probleme; es gab Unterdrücker und Unterdrückte, Unselige, zu Arbeit und Leiden geboren, Glückliche, denen Ehrerbietung gezollt wurde, fröhlich Genießende und geduldige Sklaven, grausam Mißverstandene und wild Empörte, listige Gewinner und bestürzte Verlierer; und das Ganze war systemlos, niemand hatte es ersonnen oder geplant. Unversehens, wie eine Dschungel emporwächst, war es geworden; aus dem einsamen Dasein des Urmenschen entstanden, hatte es sich, im Strome der Zeiten treibend, zu einem immer umfassenderen, vielfältigeren und verworreneren Schauspiel entfaltet.

Es scheint mir außerordentlich wichtig, mit allem Nachdruck hervorzuheben, wie zufällig, verworren und zusammenhanglos die Vergangenheit des Menschen ist. Ich wiederhole es mit Bedacht, komme absichtlich immer wieder darauf zurück. Es ist eine für den Aufbau meiner Gedanken grundlegende Überzeugung, ist ebenso sehr ein Teil meines Selbst wie meine Augen. Ich glaube nicht, daß wir die Probleme der heutigen Zeit richtig anzupacken vermögen, ehe wir nicht von jener Erkenntnis durchdrungen sind. Ich habe mein ganzes Leben hindurch das politische Denken mit eifrigstem Interesse verfolgt und habe eines vor allem als dringend geboten erkannt: uns von dem Wahne zu befreien, daß zu gewissen Zeitpunkten der menschlichen Entwicklung etwas Böses getan worden sei, daß einige wenige Menschen, Priester, Könige oder Reiche, sich gegen die übrige Menschheit verschworen hätten, um sie zu betrügen und zu versklaven; oder daß zu bestimmten Zeitpunkten etwas besonders Weises getan und dem Weltgeschehen eine neue Richtung gegeben worden sei. Nichts dergleichen findet sich in dem Bilde der Weltgeschichte, das sich in meinem Kopfe malt. Die sogenannten Wendepunkte der Geschichte sind wohl bedeutsam, aber nicht richtunggebend. Das Leben ist weit verworrener und weit unschuldiger, als wir zu glauben geneigt sind. Die Menschen nehmen das Dasein hin, so wie es sich ihnen bietet; und in allen steckt Gier, Arglist und ein Unvermögen, mit einem anders gearteten Geschöpfe zu fühlen. Die einen finden sich in die Rolle von Tyrannen und Räubern gedrängt, andere werden unterdrückt und ausgeplündert. Vertauschte man Priester und Opfer, die Opferung ginge unbehindert weiter.

Seele und Geist des Menschen waren schon in jenem fernen, siebentausend Jahre zurückliegenden Zeitraume ein Palimpsest. Erst heute beginnt die Psychoanalyse sich durch die oberen Schichten hindurchzuarbeiten und enthüllt uns das in seinen Regungen gehemmte, dumpfe und einsame Gemüt des ›Alten Mannes‹ der präpaläolithischen Zeit. Erziehung, Gewohnheit, Gesetz und Religion haben seine Wesensart verdunkelt, aber sie ist zu erkennen. Und indem wir sie erkennen, begreifen wir, warum die Menschen sich immer noch weit williger zum Kriege zusammentun als zum Frieden, zu Verfolgung weit lieber als zu Anerkennung, warum sie so leicht ›gegen‹ und so schwer nur ›für‹ sind, warum sie voll Gier weit mehr zusammenscharren, als sie bedürfen, warum Gesetze vonnöten sind, und warum wir einer wie der andere uns instinktiv vor den mannigfaltigen Trieben des großen Haufens, vor der unzuverlässigen und bösartigen Pöbelseele unseres Geschlechtes zu schützen suchen.


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